Burg Distelstein, Baronie Hollerheide, Peraine 1034 BF

“Wie, du kennst den ollen Rasulko nicht, das kann ja wohl nicht angehen. Maeve, meine Gute, tilge die Lücke im Wissen dieser Knappin, derweil ich mir anschaue, was sie mir von Baliho herauf gebracht hat.” Wie das Gespräch dann auf den ‘ollen Rasulko’ gekommen war, wusste die junge Greulingerin nicht mehr. Aber sie nahm dankbar auf der mit Kissen gepolsterten Bank nahe einem der großen Kamine des Distelsteiner Rittersaals Platz und ebenso den dampfenden Humpen Met entgegen. Ihr gegenüber setzte sich der Knappe des Barons, ein junger Tobrier mit Namen Meriyan Gesrothing von Alst und sein Gesicht zeigte Vorfreude über die nun gleich zu Gehör gebrachte Geschichte.

“Rasulko” hub Maeve die Bardin mit verschwörerisch gesenkter Stimme an, derweil sie sich vorbeugte und erst Gwydhin, dann Meriyan gewichtig zunickte, “ist einer der alten Geister der Heide. Wiewohl Geist das falsche Wort ist, denn Rasulko, den man hier auch wenig respektvoll den Ollen nennt, ist alles andere als ein Geist. Er ist nicht durchscheinend, noch an einen bestimmten Tag des Jahreskreises gebunden und harmlos, wie mancher Spuk ist er schon gar nicht. Woher er kommt, das weiß heute niemand mehr zu berichten. Manche sagen, er war schon immer da. Andere schwören, ein Drache habe ihn einstens über der Hollerheide fallen lassen, als er sie überflog und in den hier so zahlreichen Stürmen taumelte. Wie auch immer, Rasulko würde wohl kaum der Olle genannt, wenn er nicht seit altvorderer Zeit in der Heide leben und von sich reden machen würde. Das tut er nämlich und auch die Moosgrunder können die eine oder andere Geschichte von ihm berichten, denn bisweilen tummelt er sich gern im Amorîn, dem See bei Grenvenstein. Zu Hause aber ist Rasulko im Awalei, dem See im Osten Hollerheides, an dessen Nordostufer Sandelbach das Gut unserer lieben Vögtin liegt.”

Maeve nippte an ihrem Humpen, ehe sie mit gedämpfter Stimme fortfuhr. “Und sicher bin ich, dass auch Frau Baraya Rasulko schon gesehen hat. Gehört hat sie ihn ganz sicher, denn seine Stimme bringt den Frühling in diesen Teil der Heide, heißt es. ‘Ehe Rasulko nicht singt, ist der Frost nicht besiegt’ versichern bis heute die Alten und wer, wenn nicht sie, die Winter um Winter gesehen haben, soll es wissen? Jawohl, singen soll er, der Olle, seinem scheußlichen Äußeren zum Trotz.” Die Bardin musterte die jungen Menschen vor sich und lächelte verschmitzt.

“Was er ist, der Olle, das wollt ihr wohl wissen, eh?” Die beiden nickten eifrig. “Aber sagte ich nicht, dass das keiner weiß? Ich kann nur berichten, was man sich erzählt und das ist, dass Rasulko groß ist wie ein Bulle, breit wie ein Widder, gedrungen, wie ein Espener Saupacker und damit haben wir schon drei verschieden große Tiere und ihr erkennt vielleicht die Schwierigkeit? Rasulko ist, was er sein will. Kleiner als ein Saupacker ist er nicht, das ist sicher, denn dann könnte er nicht die Harnischwelse aus dem Amorîn, nach denen es ihn doch so sehr verlangt, mit sich tragen. Aber er bestiehlt auch die Hirten in der Heide, die den Verlust manches Lammes, aber auch des einen oder anderen Mutterschafs beklagen. Ja, und dann hat er eine besondere Vorliebe für jene, die ihre Haken in die Seen des Landes werfen: Anglern stellt er insbesondere nach und es gab Jahre, da waren sie ihres Lebens am Ufer des Awalei nicht sicher. Doch das liegt schon eine Weile zurück und ich habe gehört, sie wagen sich inzwischen wieder vor. Sogar die Sandelbacher werfen ihre Ruten wieder aus, denn zu schmackhaft sind die Fische des Awalei. Doch wehe sie hören das Schlagen großer Flügel, oder das lockende Zirpen, das nur ein Dummkopf für den Lockruf der hier heimischen Kreuzkröte halten würde. Dann schauen sie aber, dass sie Land gewinnen, denn wer dann zögert, den schnappt Rasulko mit seinem großen Maul und trägt ihn hoch hinauf. Denn Flügel hat er, die denen eines Drachen ähneln und auch Schwanz, der in einem langen, harten und spitzen Dorn ausläuft. Mit diesem spießt er diejenigen, die ihn ärgern auch gerne auf, aber viel lieber trägt er sie hoch in den Himmel und lässt sie am Scheitelpunkt seines Fluges fallen. So kommt es, dass in der Heide bisweilen Tote gefunden werden, in deren Leib kein einziger heiler Knochen mehr ist. Und wenn dem so ist, dann eilen sich die kundigen Hollerheider, dem ollen Rasulko ihren Respekt zu zollen und sie bringen ihm am Ufer des Awalei kleine Geschenke dar. Das hilft meistens. Aber nicht immer, denn Rasulko ist ein oller Miesepeter, alt wie das Land und bisweilen ebenso launisch. Wenn ihr also im Osten der Hollerheide unterwegs seid und das Rauschen großer Schwingen hört, seht zu, dass ihr Deckung findet. Oder führt – wie die Schäfer es halten – einen frischen Fisch mit euch. Ein solcher mag Rasulko besänftigen, wenn ihr nur den Mut aufbringt, den Fisch einem bullengroßen Wesen anzubieten, das von Drachenschwingen getragen wird, zwei Krötenbeine hat, mit denen es auf einen Satz ein gutes Dutzend Schritt weit springt und ein breites Maul, in das auf einen Happs ein Schaf passt. Von den starren, aus dem Kopf ragenden gelbschwarzen Augen, von denen jedes so groß ist, wie ein Eimer und seiner mehrere Schritt langen stachelbewehrten Zunge, gar nicht erst zu reden.” Mit Armen und Händen ahmte Maeve die soeben beschriebene Gestalt nach, erhob sich gar und untermalte die Erzählung mit Gesten und Bewegungen und trug dabei einen zutiefst ernsten, im Ansatz gar ängstlichen Gesichtsausdruck.




“Glücklicherweise ist es schon eine Weile her, dass jemand den Ollen von Angesicht zu Krötenfresse gesehen hat”, schob sie nun deutlich aufgeräumter hinterher, “was freilich nichts heißen muss, denn der eine oder andere wird nach dem langen Winter schon vermisst und die Schäfer ziehen jetzt erst wieder aus.” Sie nickte bedeutungsschwanger. “Insofern würde ich in jedem Fall dazu raten, einen saftigen Fisch einzupacken, wenn ich entlang des Awalei reise. Zu verlieren habt ihr in keinem Fall etwas, denn wenn Rasulko nicht auftaucht, nun, dann haben es die Götter zweifach gut mit euch gemeint, denn dann habt ihr gleich ein schmackhaftes Abendessen parat.” Die Bardin strahlte und deutete nach ihrer langen Rede eine Verbeugung in Richtung ihres Publikums an.

 

Bild: Salokorai