Peraine 1042 BF
Baronie Ingerimms Steg


Coran rieb sich zum wiederholten Male verstohlen die Seite seines Hinterteils und musste sich beherrschen, sein Gesicht nicht vor Schmerzen zu verziehen. Als gelernter Gardeoffizier hatte er selbstverständlich eine grundlegende Ausbildung in der Kunst der Reiterei erhalten, als langjähriger Hauptmann des Fußvolks war es jedoch nie erforderlich gewesen, diese Fähigkeit über das nötige Maß hinaus weiter auszubauen. Und gewohnt war er solche mehrtägigen Ritte aufgrund seiner Tätigkeit in den Schreibstuben der herzoglichen Kanzlei in den letzten Jahren ohnehin schon lange nicht mehr.

Ganz anders erging es da Elfwid, die auf ihrem Tralloper Riesen neben ihm trabte, ihren Kopf wegen des Größenunterschieds ihrer Pferde fast einen Halbschritt über dem seinen, und gnädigerweise so tat, als würde sie die körperlichen Leiden ihres Vaters nicht bemerken. Sie war Abgängerin der balihoer Kriegerakademie und als solche eine ganz hervorragende Reiterin – wahrlich eine von „Rondras Besten“ – und außerdem natürlich weitaus jünger und belastbarer als er.
Den Zwölfen sei Dank war ihr Ziel nicht mehr weit.

Sechs Tage waren sie nun schon seit ihrem Aufbruch in Trallop unterwegs und Coran freute sich, seinem Allerwertesten alsbald eine verdiente Ruhepause gönnen zu dürfen.

Gestern Abend waren sie erst nach Sonnenuntergang endlich in Neu-Dragenfeld, dem Hauptort von Ingerimms Steg, angekommen und hatten entschieden, die Nacht in der örtlichen Herberge zu verbringen und das letzte Stück nach Burg Drôlenhorst dann heute, am Morgen des siebten Reisetages, ganz entspannt und ausgeruht anzugehen.

Neu-Dragenfeld war für einen so abgelegenen Ort überraschenderweise ein recht schmuckes Dörfchen mit vielleicht einhundert Einwohnern. Neben einer Schenke und einer Herberge gab es verschiedene Handwerker sowie einen Tsatempel und einen Traviaschrein. Offensichtlich hatte die Lage am Sieben-Baronien-Weg dem Dorf gutgetan.

Am vergangenen Tag hatten die Branghains den ersten Abschnitt dieser neugebauten Handelsstraße absolviert, der die Ödnis der Wüstenei im Westen und Norden umging und an den Ausläufern der Roten Sichel entlang verlief um das Kernland Weidens mit dem Bornland zu verbinden. Von dort aus hatten sie nicht nur einen guten Überblick über die Drachenpforte gehabt, wie der Einschnitt zwischen Roter und Schwarzer Sichel genannt wurde, sondern waren schließlich auch der unheiligen Wüstenei selbst ansichtig geworden. 

Für Elfwid, die die Gegend das erste Mal bereiste, ein erschreckender Anblick. Über Meilen hinweg war das Grün des Altenforsts, der den Grund des Taleinschnittes eigentlich bedeckte, verdrängt worden von einem düstern und unheilvollen Grau, in dem keine Bäume oder sonst welche Pflanzen gediehen, keinerlei Landmarken zu erkennen waren und wo das Leben selbst verschluckt worden zu sein schien. 

Mit bangem Blick hatte die junge Kriegerin unwillkürlich ein leises Stoßgebet an die Zwölfe gerichtet und erstmals, seit sie vom Vorhaben ihres Vaters wusste, kamen ihr Zweifel, ob das ganze wirklich eine gute Idee war. Schließlich sollte irgendwo da unten, am Rande dieses Nichts, Kressing liegen.
Coran hingegen, der die Wüstenei in seinem Leben schon häufiger erblickt hatte, war eine andere Erkenntnis viel wichtiger gewesen. Seit seinem letzten Besuch in der Gegend, der schon einige Jahre zurücklag, hatten sich die Ränder des lebensfeindlichen Gebiets offensichtlich tatsächlich zurückgezogen – nicht erheblich, aber doch sichtbar. Ja, er war sich sicher, die Natur hatte begonnen, sich das unwirtliche Land Stück für Stück zurück zu holen, so dass nun ein vielleicht zwei Meilen breites, mit grünen und braunen Flecken gesprenkeltes Band die tote Zone umschloss und sich förmlich immer weiter in das abstoßende Grau hinein zu fressen schien.

Zudem war etwas später der Mironsee in Sicht gekommen, welcher unterhalb von Neu-Dragenfeld inmitten dieses neuen Gürtels zaghaften Lebens lag und dessen Glitzern in der Abendsonne nicht nur der Wüstenei einen Gutteil seines Schreckens nahm, sondern es darüber hinaus vermocht hatte, auch Elwids Gemüt wieder etwas zu erhellen.

Und Coran war sich sicher, dass heute ein weiterer Anblick bevorstand, der Elfwids Laune, dem leichten Nieselwetter zum Trotz, steigern würde: Burg Drôlenhorst.


Etwa drei Meilen hinter Neu-Dragenfeld erreichten sie schließlich die Abzweigung zum ehrwürdigen Sitz der Barone von Ingerimms Steg und kurz nachdem sie den Sieben-Baronien-Weg verlassen hatten, kam das Gemäuer selbst auch schon in Sichtweite.

Die Burg war verhältnismäßig jung, nur etwas mehr als hundert Jahre alt, und ihre Erbauung hatte das Lehen damals bekanntermaßen finanziell fast ruiniert. Während sie sich der Festung weiter näherten und Elfwid schließlich deren ganzen Ausmaße erfasste, konnte sie auch erahnen warum.
Auf einem einzelnstehenden schroffen Hügel erhob sich Burg Drôlenhorst wohl mehr als einhundert Schritt in die Höhe. Lediglich die höchsten Stockwerke bestanden aus Fachwerk, der Rest war aus Stein errichtet, und eine Anzahl prächtig anzuschauender Türme mit Erkern und Schießscharten sowie hohe, mit Zinnen gespickte, Mauern zeugten von ihrer Wehrhaftigkeit. Einzigen Zugang bildete eine Brücke, die über eine steile Klamm hinweg führte und die ihrerseits durch trutzige Vorwerke gesichert war. Verglichen beispielsweise mit der Motte der Schroffenfelser Vögtin in Runhag, bei der sie vor drei Tagen zu Gast waren, konnte man diese Burg wahrlich nur als imposant beschreiben. 
Elfwid kannte einige Baronssitze in der reichen Grafschaft Baliho und den Vergleich mit den meisten davon musste diese Burg wahrlich nicht scheuen.

Coran freute sich über die Sprachlosigkeit seiner Tochter und vergaß darüber sogar kurz sein gepeinigtes Hinterteil, als sie schließlich die Brücke erreichten und weiter auf das erste Tor zuhielten vor dem sich ein Waffenknecht auf den Schaft seiner Hellebarde stützte und die beiden sich nähernden Reiter aufmerksam musterte. Der Mann wirkte irgendwie mürrisch und bestätigte diesen Eindruck, indem er ihnen bloß ein knappes „Zwölfe zum Gruße!“ entgegenraunzte, nachdem sie ihre Pferde vor ihm zum Halt gebracht hatten. Dann ließ er den Blick noch einmal prüfend über Coran und Elfwid gleiten, wobei er sich ein bisschen länger beim Wappen des frisch gebackenen Ritters aufhielt. Er konnte es offenbar nicht zuordnen, was ihn aber nicht weiter zu stören schien.

Als er die Musterung beendet hatte, richtete der Wächter den Blick auf Corans Gesicht und brummelte: „Bragenhain, nehme ich an? Wir hatten schon gestern Abend mit Euch gerechnet.“ Coran meinte leichten Vorwurf aus der Stimme des Mannes herauszuhören, aber er plusterte sich nicht weiter auf, sondern machte eine auffordernde Geste: „Ihr könnt passieren.“

Damit war der Höflichkeit offenbar Genüge getan, denn der Mann verlor umgehend das Interesse an ihnen und richtete den Blick wieder auf die Brücke. Coran und Elfwid trieben ihre Pferde durch die Vorwerke und dahinter noch ein ganzes Stück weiter, bis sie sich mit einem Mal auf einem großen Hof wiederfanden. Um sie herum schossen die Gebäude der Burg in die Höhe – fest gefügter Stein, der kunstvoll behauen und an vielen Stellen mit Reliefs verziert. Der Erbauer dieser Burg hatte mindestens ebenso viel Wert auf Prunk wie auf Wehrhaftigkeit gelegt, das erkannte Coran sofort. Es war sicher auch ein Grund dafür, dass der Bau den damaligen Baron ruiniert hatte.

Der Branghainer hatte Burg Drôlenhorst bisher immer nur aus der Ferne gesehen und war daher durchaus gespannt, wie der beeindruckende Bau von Nahem anmuten würde. Die Festung galt allgemein als überaus schwer einzunehmen, war bisher allerdings noch keiner ernstzunehmenden Belagerung ausgesetzt gewesen – zumindest soweit Coran das wusste. Und während er seinen Blick über die schmucken Torhäuser, Mauern und Türme schweifen ließ, begann er sich zu fragen, worauf dieser Ruf eigentlich gründete. Er war zwar kein Fachmann auf diesem Gebiet, aber die meisten anderen Burgen, die er kannte – allen voran die kaiserliche Pfalz Donnerschalck, auf der er einige Monate lang gedient hatte – waren bei näherer Betrachtung deutlich konsequenter auf Verteidigung ausgelegt als diese. So schien es hier innerhalb der Mauern beispielsweise kaum Engpässe, Zwinger oder sonstige Todeszonen zu geben, in denen Eindringlinge effektiv von mehreren Seiten gleichzeitig unter Beschuss genommen werden konnten. Zudem boten mitunter übergroße Fensteröffnungen sowie zahlreiche dekorative Vorsprünge und Friese nach Corans Einschätzung Angriffspunkte, die vermeidbar gewesen wären.

Er hatte den Eindruck, dass solcherart Erfordernisse beim Bau der Burg scheinbar hinter eher repräsentativen Belangen zurückgestanden hatten. Vermutlich hatte der Erbauer damals vor allem auf den abgelegenen Standort der Feste gesetzt, um mögliche Angreifer von Vornherein von einer Belagerung abzuschrecken. Der Aufwand, ein schlagkräftiges Heer bis hierher in die Drachenpforte und hinauf in die Rote Sichel zu führen, wäre zu dieser Zeit tatsächlich immens gewesen. Mit der Fertigstellung des Sieben-Baronien-Wegs vor rund fünfzehn Jahren jedoch hatte sich dieser Vorteil so ziemlich erledigt. Auf der breiten und gepflasterten Herzogenstraße war es mittlerweile ohne weiteres möglich, neben massierten Truppen selbst handfestes Belagerungsgerät wie Sturmrammen oder Onager gewissermaßen bis direkt vor die Tore der Burg zu verfrachten. Zweifelnd musterte er nochmals die hübschen Erker und Giebel und kam nicht umhin, sich zu fragen, inwieweit diese wohl einem Beschuss mit kopfgroßen Felsbrocken standhalten würden. 

Coran hätte sich das Gemäuer gern noch ein bisschen näher besehen, doch es stand schon jemand mitten im Hof, den er schwerlich ignorieren konnte, um die Feste zu inspizieren: Ein sehr junger, sehr schnieker Mann, der eine noch schniekere Tunika in den Farben der Baronie trug. Der Kastellan vielleicht? Der junge Kerl kam mit einem strahlenden Lächeln auf sie zu, deutete eine Verneigung an und schmetterte ihnen ein „Den Zwölfen zum Gruße, die Herdmutter ihnen allen voran!“ entgegen. Kein Wort über ihre „Verspätung“, wofür Coran durchaus dankbar war, denn das wäre nun wirklich keine schöne Gesprächseröffnung gewesen. „Der Hohe Herr ui Branghain und ... seine Tochter, nehme ich an? Willkommen auf Burg Drôlenhorst. Ich hoffe, Ihr habt eine angenehme Reise mit möglichst wenig Fährnissen gehabt?“

Die beiden Neuankömmlinge schwangen sich aus den Sätteln, wobei Elfwid eine deutlich elegantere Figur machte als ihr Vater, und traten dem aufgekratzt wirkenden Mann entgegen nachdem ihnen zwei hinzugeeilte Stallburschen die Zügel ihrer Reittiere und des Packpferdes abgenommen hatten.

„Vielen Dank für den überaus freundlichen Empfang“, erwiderte Coran. „Die Götter auch mit Euch.“
Ihm kam kurz der Gedanke, Elfwid als seine Gemahlin vorzustellen, nur um das verdatterte Gesicht des herausgeputzten Jüngelchens zu sehen, verbiss sich diesen unangebrachten Scherz allerdings, vor allem auch um seiner Tochter die Peinlichkeit zu ersparen. Manchmal verstand die einfach keinen Spaß. Stattdessen schob er sie mit einer Hand im Kreuz sanft ein Stück nach vorne und machte mit der anderen eine präsentierende Bewegung. „Und ihr habt ganz recht vermutet. Bei meiner Begleiterin handelt es sich um die Dame Elfwid ni Branghain, meinem einzigen Spross und ganzen Stolz.“ 

Nach einem kurzen, aber vielsagenden Seitenblick in Richtung ihres Vaters, neigte Elfwid das Haupt zum Gruß und lächelte verhalten. „Die Reise ist im Großen und Ganzen ereignislos verlaufen. Nichtsdestotrotz sind wir froh, endlich angekommen zu sein. Umso mehr, da der Anblick von Burg Drôlenhorst wahrlich ein erhebender ist.“

„Nicht wahr?“ Coran hätte es kaum für möglich gehalten, aber nach diesem Lob wurde das Lächeln ihres Gegenübers sogar noch eine Spur breiter. Der junge Mann verneigte sich erneut, diesmal richtig, als die Neuankömmlinge nicht mehr auf ihren Pferden saßen, sondern vor ihm standen, und fügte ein frohgemutes „Ich bin Theobald von Triggenfels“ an. „Seit Anfang Phex Kastellan hier auf der Burg und hocherfreut, die ersten Gäste in Empfang nehmen zu dürfen.“ Kurz hielt er inne, um den Neuankömmlingen prüfend in die Gesichter zu sehen – als wolle er abschätzen, wie erschöpft sie wohl waren, oder auch wie eilig sie es hatten, die Herrin des Hauses zu treffen.

„Es freut mich zu hören, dass Ihr gut durchgekommen seid“, meinte er anschließend. „Ich zeige Euch gleich Eure Zimmer, damit Ihr Euch einrichten und frischmachen könnt. Wenn Ihr mögt, könnt Ihr gern auch ein Bad nehmen, ich habe dafür alles vorbereiten lassen. Ihr seid ja schon einige Tage unterwegs und es ist hier in dieser Zeit des Jahres recht frisch, da dachte ich, das wäre vielleicht in Eurem Sinne. Es ist noch ein bisschen hin bis zur Audienz mit Ihrer Hochgeboren, also bleibt genug Zeit. Ach ja, und ein gemeinsames Abendmahl ist natürlich auch vorgesehen.“

„Also, das lässt sich gut an, will ich meinen. Das Wetter sitzt mir in der Tat ein wenig in den Knochen und da wäre ein warmes Bad vor dem offiziellen Teil genau das Rechte. Und wo ihr ja alles dafür in die Wege geleitet habt, wie ihr sagt, wäre es doch eine Schande, dieses Angebot auszuschlagen. Oder was meinst du?“, entgegnete Coran wobei er sich beim letzten Satz an seine Tochter wandte, die daraufhin zustimmend nickte.

Offensichtlich überaus zufrieden damit, dass sein vorausschauender Vorschlag auf Anklang gestoßen war, klatschte der Triggenfelser einmal in die Hände und wies den beiden Gästen anschließend mit einer schwungvollen Geste den Weg in Richtung Palas. „Sehr schön, sehr schön. Dann darf ich Euch bitten, mir zu folgen. Euer Gepäck wird auch sogleich auf Eure Zimmer gebracht.“

Während der Kastellan sie in das prunkvolle Hauptgebäude führte, nahm Coran kurzerhand Schritt an seiner Seite auf. „Ihr sagt also, Ihr seid erst einen Götternamen lang hier im Amt, wie? Sicherlich eine verantwortungsvolle und nicht immer ganz einfache Aufgabe, stelle ich mir vor.“ Er lächelte verbindlich und setzte verschwörerisch blinzelnd hinzu: „Aber habt keine Sorge, wir, als Eure ersten Gäste, werden euch keine Schande bereiten. Zumindest werden wir’s versuchen.“ 

Theobald schien nicht zu wissen, wie er das Gesagte einordnen, geschweige denn, was er darauf erwidern sollte. Er starrte Coran einen Moment lang überrumpelt an, schaffte aber irgendwie trotzdem das Kunststück, sein Lächeln zu wahren. Bevor er einen Ton über die Lippen bringen konnte, fuhr der Branghainer auch schon im Plauderton fort: „Sagt, steht Eure Familie denn schon lange in Diensten der Baronie?“

„Nein“, der Kastellan schüttelte den Kopf, während er sich dankbar auf das sichere Terrain begab, das Coran ihm nun bot. „Meine Familie lebt zwar schon seit vielen Generationen hier in Ingerimms Steg, aber im Dienst der Barone haben wir bislang nie gestanden. Tun wir ja strenggenommen auch immer noch nicht, schließlich ist Frau von Fluck lediglich Vögtin und ob der junge Baron Interesse daran hätte, mich weiter zu beschäftigen, steht in den Sternen.“

Es drängte sich irgendwie der Verdacht auf, dass der Triggenfelser selbst nicht genau wusste, wie er zu der Ehre gekommen war. Erfahrung hatte sicher nicht für ihn gesprochen, dazu war er viel zu jung. Dafür bot er einen ziemlich erfreulichen Anblick. Das war dem Branghainer sofort aufgefallen und er versicherte sich dessen nun noch einmal – mit einem prüfenden Blick auf dunkle Locken, eine schmale, gerade Nase und seelenvolle graue Augen. Vielleicht hatte die Vögtin ja eine Vorliebe für blutjunge, gutaussehende Männer?

Mittlerweile hatten sie eine hohe galeriegesäumte Eingangshalle passiert und eine breite, nach oben führende, Treppe betreten. Auch das Innere des Gebäudes wies an zahlreichen Stellen dekorative Reliefs auf und wo immer Holz verbaut war, war dieses mit kunstvollen Schnitzereien versehen.

„Ihr kommt aus Albernia, nicht wahr?“, hakte Theobald derweil nach. „Der Name ... ich meine, das ,ui‘ und das ‚ni‘“, er sah kurz zu Elfwid hinüber und lächelte freundlich. „Das ist doch albernisch?“

Elfwid gelang es gerade noch rechtzeitig, sich vom Anblick des überaus ansehnlichen Hinterteils des Triggenfelsers loszureißen – hoffentlich ohne, dass der etwas davon mitbekommen hatte – und beeilte sich, eine Antwort zu geben, bevor ihr Vater das tun konnte. Dessen Neigung, jüngere Gesprächspartner ein wenig auf die Probe zu stellen, gepaart mit seinem Hang zu unterschwelligem, wenn auch gutmütigem, Spott, waren in der Angelegenheit, deretwegen sie nach Ingerimms Steg gereist waren, sicherlich nicht gerade förderlich. Und sie mussten es sich ja nicht gleich mit dem Kastellan ihrer Gastgeberin verscherzen, wo der sich doch offensichtlich alle Mühe gab, es ihnen recht zu machen. Hinzu kam, dass ihr Vater dazu tendierte, sehr weit auszuholen, wenn es um die alte Heimat ging.

„Äh, ja, das ist richtig“, kam sie Coran daher zuvor, der bereits mit erhobenem Zeigefinger zu einer Erklärung angehoben hatte. „Grundsätzlich jedenfalls. Ich selbst bin noch nie in Albernia gewesen, doch mein Vater ist dort vor langer Zeit geboren worden und aufgewachsen. Das Leben in der Reichsarmee hat ihn letztlich allerdings schon bald in die Mittnacht verschlagen und mittlerweile hat er die Praiosscheibe wohl häufiger über dem Finsterkamm aufgehen sehen als über dem Meer der Sieben Winde.“

„Deutlich häufiger“, brummelte Coran dazwischen, offensichtlich unzufrieden damit, dass er sich zu diesem Thema nicht auslassen konnte, wie er es gerne getan hätte.

„Das ‚ui‘ und das ‚ni‘“, fuhr Elfwid derweil unbeirrt fort, „bedeuten nichts anderes als ‚Sohn‘ oder ‚Tochter aus dem Haus von‘. Ihr müsst wissen, mein Vater ist in manchen Dingen recht traditionalistisch eingestellt und besteht daher auf diese Namenszusätze, auch wenn hierzulande kaum jemand was damit anzufangen weiß. Die Nachkommen Branghains jedenfalls sind eine alte ehrbare Familie aus den Seenlanden, wenn auch nicht sonderlich groß und auch nicht von Adel.“

„Ich verstehe. Vielen Dank für die Erklärung, hohe Dame“, meinte Theobald nickend. Sein Lächeln ließ erahnen, dass ihm zumindest der Part mit dem „ui“ und dem „ni“ schon geläufig gewesen war, doch verlor er darüber kein Wort. Stattdessen machte er eine einladende Geste nach links, als er im zweiten Stock des Pallas vom Hauptflur in einen schmaleren Gang abbog.

„Ihr habt vor Kurzem Euren Ritterschlag erhalten, nicht wahr, Herr ui Branghain?“, fragte er dann. „Und ein vom Soldgrafen gestiftetes Wappen, wenn mich nicht alles täuscht? Da sind Glückwünsche angebracht, würde ich meinen. Nach so einem langen Dienst in den Bärenlanden war es sicher wohlverdient.“ Er hielt kurz inne und sah dann neugierig zu Elfwid hinüber: „Und Ihr, hohe Dame? Seid Ihr auch Ritterin?“

Coran hatte zur Bestätigung genickt und schließlich, als Zeichen, dass er die freundlichen Worte des Triggenfelsers zu würdigen wusste, ein wenig sein Haupt in dessen Richtung gebeugt. Bevor er jedoch darüber hinaus noch etwas sagen konnte, hatte sich Theobald schon wieder mit einer Frage zu seiner Tochter umgedreht, die ihrerseits bei dieser Unterhaltung einen Enthusiasmus an den Tag legte, den er sonst von ihr gar nicht kannte. Innerlich schmunzelnd ließ er sich ein wenig hinter den jungen Leuten zurückfallen und überließ ihnen das Gespräch.

„Nein, das bin ich nicht.“, antwortete Elfwid dann auch gleich. „Ich habe jedoch vor etwa zwei Jahren an der ‚Schwert und Schild‘ zu Baliho meinen Kriegerbrief erhalten“, fügte sie nicht ohne Stolz in der Stimme hinzu. „Man könnte also sagen, ich bin so ritterlich ausgebildet worden, wie das ohne Knappenzeit wohl nur möglich ist. Außerdem diene ich seitdem bei den Rundhelmen, bin zurzeit allerdings bis auf weiteres freigestellt, um Vater bei seinen Vorhaben zur Seite stehen zu können.“

Theobald nickte anerkennend, während sein Blick kurz zu Elfwids Vater hinüber wanderte. Der junge Kerl war zwar hübsch, schien aber erfreulicherweise nicht ganz hohl zu sein. Coran konnte ihm von den Augen ablesen, dass er seine Rolle in dieser Sache sofort erkannt hatte: Als engem Vertrauten des alten Linnart von Ruckenau war es ihm ein Leichtes gewesen, seine Tochter fürs Erste von ihren dienstlichen Verpflichtungen entbinden zu lassen. Schließlich war der Soldgraf Weidens auch gleichzeitig Bannerherr des herzoglichen Leibregiments. Der Triggenfelser schien sich daran aber nicht zu stören, er wirkte nach wie vor bestens gelaunt – und dann wurde seine Aufmerksamkeit eh schon wieder vom Branghainer abgelenkt.

„Wo wir bei dem Thema sind“, fragte Elfwid nun, „habt Ihr denn die Schwertleite erhalten und könnt euch Ritter Weidens nennen?“

„Ritter der Sichel, ja“, erwiderte Theobald und nickte erneut. „Ich bin am Grafenhof in Salthel ausgebildet worden. Von dort kennt mich auch Frau von Fluck. Sie hat dem Grafen auf seiner Feste gedient, bevor er sie hierher sandte, um für geordnetere Verhältnisse in Ingerimms Steg zu sorgen.“ Während er das sagte, deutete Theobald auf zwei direkt nebeneinander liegende Türen. Wenigstens eine davon hätte er sogleich öffnen und den Gästen ihre Zimmer zeigen können, hielt aber vorher noch mal inne und hob neugierig die Brauen: „Wart Ihr schon mal in Salthel, Frau Elfwid? Auf Burg Aarkopf? Sie ist einmalig, Ihr kennt die Geschichten ja sicher?“

„Nun, Salthel habe ich tatsächlich vor ein paar Tagen während unserer Durchreise das erste Mal besucht. Die Stadt gefiel mir ganz gut, wir haben uns dort allerdings nicht lange genug aufgehalten, als dass ich mich ein wenig hätte umsehen können. Und die Feste haben wir leider nur von außen gesehen. Aber sie wirkte überaus trutzig und ich fand sie durchaus … einschüchternd. Welche Geschichten meint Ihr denn?“

„Nun ... vor allem natürlich die Entstehungsgeschichte“, erwiderte der Triggenfelser ohne zu zögern, erkannte aber am leeren Blick Elfwids, dass ihr das nicht wirklich weiterhalf. „Dass sie dereinst vom Riesen Aarfir erbaut worden sein soll?“, fügte er rasch an, doch die Branghainerin schüttelte den Kopf, um ihm zu bedeuten, dass ihr auch das nichts sagte.

Daraufhin sah Theobald erst kurz zu Coran hinüber und dann auf die beiden Türen, die vor ihnen lagen. Kurz rang er mit sich, sah dann aber ein, dass dies weder die richtige Zeit noch der richtige Ort war, um die Wissenslücke der Kriegerin zu füllen. „Ich ... äh ... Ihr seid ja noch ein paar Tage hier in der Baronie, schätze ich. Vielleicht finden wir Zeit, und ich kann sie Euch erzählen. Wenn nicht … könnt Ihr aber auch so ziemlich jeden anderen Sichler danach fragen, würde ich meinen. Den meisten sollte sie bekannt sein.“

Der Kastellan schenkte Elfwid noch ein beschwingtes Lächeln und öffnete dann endlich eine der beiden Türen. „Die Zimmer sind sich sehr ähnlich“, erklärte er, während er eine einladende Geste machte. „Ihr könnt frei wählen, wer welches beziehen soll.“ Theobald ließ die Branghainer vorangehen und folgte in respektvollem Abstand. So blieb ihnen genug Zeit, den Raum zu inspizieren, der an erster Stelle mal größer und nobler eingerichtet war, als sie es von Gästezimmern in vergleichbaren Burgen der Mittnacht kannten.

Die großen Betten und auch das übrige Mobiliar waren offensichtlich hochwertig gearbeitet und mit allerlei gedrechselten und geschnitzten Verzierungen versehen. Weiche Felle auf den Böden und hübsch gewebte Teppiche an den Wänden sowie Kamine, die die beiden Zimmer wohl über einen gemeinsamen Abzug miteinander verbanden, sorgten für Behaglichkeit. Und der Ausblick aus den zur Talseite weisenden Fenstern musste an weniger diesigen Tagen schlicht atemberaubend sein.

Ja, dachte Coran, ihre Gastgeberin gab sich wirklich große Mühe.

 

***

Etwa zwei Stunden später saß Coran gewaschen und umgezogen in seinem Zimmer auf der Kante des Bettes und polierte in Gedanken versunken seine halbhohen Schnallenschuhe, die er beim Empfang der Fluck zu tragen gedachte. Sein Schuhwerk selbst in Schuss zu halten und diese Aufgabe nicht dem Gesinde zu überlassen, war eine Angewohnheit, die er sich aus seiner Zeit als Feldoffizier bewahrt hatte. Tatsächlich entspannte ihn die Tätigkeit sogar ein wenig, während er über das kurze Gespräch, das sie vorhin mit dem Triggenfelser geführt hatten, nachdachte. Seit der nämlich erwähnt hatte, dass er seine Ausbildung zum Ritter unter den Fittichen des Grafen Bunsenhold erhalten hatte, aus dessen Umfeld ja auch die Vögtin kam, gingen ihm die vertraulichen Worte Eberwulfs von Weißenstein von vor einigen Tagen nicht mehr aus dem Kopf:

 „Wenn ich es recht bedenke, so hat es der gute Graf in den letzten Götterläufen doch immer wieder aufs trefflichste verstanden, überraschend vakant gewordene Positionen in der Sichelwacht mit Gefolgsleuten zu besetzen, deren Loyalität ihm gegenüber außer Frage steht.“

Zudem hatte Coran anhand der wachen Blicke Theobalds eines auf jeden Fall erkannt: So unbedarft, wie er ihn aufgrund seines jungen Alters und seines Aufzugs zunächst eingeschätzt hatte, schien er wohl nicht zu sein. Und mit seiner zugewandten und charmanten Art hatte er es in kürzester Zeit geschafft, sogar die sonst eher zu Zurückhaltung und Ernsthaftigkeit neigende Elfwid aus ihrem Schneckenhaus hervorzulocken. Unter anderen Umständen hätte ihn das gefreut.

Der Kastellan hatte sie, nachdem sich Vater und Tochter geeinigt hatten, wer welche Unterkunft beziehen würde, zunächst sich selbst überlassen. Alsbald waren auch ihre Sachen auf die Zimmer gebracht worden und kurz darauf war ein Dienstbote erschienen und hatte sie über ein zweites diskreteres Treppenhaus vom Gästetrakt geradewegs in ein geräumiges Badegemach im Erdgeschoss des Palas geführt, wo ein großer Zuber mit warmem Wasser auf sie gewartet hatte. 

Nach dem angenehm belebenden Bad waren sie auf ihre Zimmer zurückgekehrt, wo mittlerweile in den Kaminen knisternde Feuer entfacht worden waren, und wäre er nicht dermaßen in seine Überlegungen vertieft gewesen, hätte Coran sich zusammenreißen müssen, sich nicht kurzerhand auf die gemütliche Schlafstatt zu legen um ein kurzes Nickerchen zu halten. 

Er wurde aus seinen Grübeleien gerissen als die Zimmertür ohne Vorwarnung geöffnet wurde und eine gutgelaunte Elfwid hereinspaziert kam. Auch sie hatte sich inzwischen fein gemacht, ihr Kettenhemd gegen eine gefällig geschnittene Tunika eingetauscht und einen hübschen Haarreif angelegt, der ihr kinnlanges noch feuchtes Haar aus dem Gesicht fernhielt. „Bist du noch nicht soweit? Ich denke, wir werden jeden Augenblick abgeholt.“, ermahnte sie ihn mit einem Lächeln.

„Ja, ja.“, entgegnete er nur, schlüpfte in seine Schuhe und erhob sich. „Wie sehe ich aus?“

 Elfwid trat nach einem prüfenden Blick an ihren Vater heran, strich zunächst sein Wams glatt und nahm ihm dann mit flinken Fingern seine neue Wappenbrosche ab, die er als Geschenk zum Ritterschlag vom Soldgrafen geschenkt bekommen hatte, nur um sie gleich darauf wieder an seine Brust anzuheften, diesmal jedoch ordentlich ausgerichtet.

„Sag mal“, raunte ihr Vater ihr dabei zu, „der Herr von Triggenfels gefällt dir schon, was?“

„Wie kommst du denn da drauf?“ erwiderte Elfwid stirnrunzelnd, jedoch weiterhin mit einem Lächeln auf den Lippen. Ihr Vater hob als Antwort nur seine Augenbrauen.

„Na ja, er ist doch sehr nett“, sagte sie und fügte nach kurzem Zögern hinzu: „Und gut aussehen tut er auch.“

Coran verzog geringschätzig seine Mundwinkel nach unten. „Ein rechter Geck ist er.“

Doch Elfwid ließ sich ihre Fröhlichkeit nicht verderben. „Ach verzeiht bitte hoher Herr Ritter, dass mein Geschmack euren Ansprüchen nicht genügt, da ihr selbst ja unter dem Titel einer ‚Alt-Baronin‘ niemanden an euch heranlasst.“

Coran seufzte und verzog gequält sein Gesicht. Hätte er ihr doch bloß nichts von seiner Schwärmerei für die Witwe des verstorbenen Barons von Schneehag Walderia von Klöppelstein zu Ostheim erzählt, die er durch seine Freundschaft zu ihrem Bruder Wolfhelm vor einigen Monaten in Trallop kennengelernt hatte und die ihm seitdem nicht mehr aus dem Kopf ging.

„Mal im Ernst.“, sagte er schließlich mit gesenkter Stimme und drückte, da sie immer noch an seinem Gewand herumnestelte, mit seinem Zeigefinger sanft ihr Kinn nach oben, um ihr direkt in die Augen schauen zu können. „Wir müssen vorsichtig sein. Ich weiß nicht, wem wir hier trauen können. Und das schließt auch den hübschen Theobald mit ein.“

Bevor sie etwas entgegnen konnte erklang vom Eingang her ein verhaltenes Klopfen. Elfwid hatte die Tür nach ihrem Eintreten nicht wieder zugezogen und so stand jetzt im offenen Rahmen eine Frau von vielleicht dreißig Götterläufen, ihrer aufwändigeren Kleidung nach zu urteilen wohl keine einfache Dienstmagd, und blickte sie nach einer Verbeugung mit einem leicht verlegenen Lächeln an. 

„Verzeiht bitte, Frau von Fluck erwartet Euch nun“, sagte sie. „Mein Name ist Torgunn von Ascheraden und ich soll Euch zu ihr in den Rittersaal geleiten, wenn Ihr Eure Vorbereitungen abgeschlossen habt.“

Coran hätte sich selbst in den Hintern beißen können. Da ermahnte er seine Tochter zu Umsicht und Wachsamkeit und selber plapperte er bei offenstehender Tür munter drauflos. Er fragte sich, ob die Hofdame etwas vom Inhalt ihrer Unterhaltung mitbekommen hatte, kam jedoch zu dem Schluss, dass dem wahrscheinlich nicht so war. Wenigstens deutete nichts an ihrer Mimik oder Haltung darauf hin.

Einigermaßen beruhigt lächelte er breit zurück: „Sehr wohl, werte Dame, wir sind soweit. Geht nur vor, wir folgen Euch.“


Das ließ sich die Ascheradenerin nicht zweimal sagen, sondern übernahm prompt die Führung. Aus dem zweiten Stock des Pallas ging es wieder in den ersten hinab und durch eine große Halle direkt zu einer wuchtigen Tür – oder vielleicht eher einem Portal, denn so massiv und überbordend verziert wie das Eichenholz war, wäre der Begriff „Tür“ wohl eine Untertreibung gewesen.

Vor diesem letzten Hindernis zum Thronsaal warteten zwei Wachleute mit auf Hochglanz polierten Rüstungen und Hellebarden sowie Theobald von Triggenfels. Letzterer warf den Gästen seiner Herrin einen neugierigen Blick zu. Was er sah, schien ihm zu gefallen. Das ließ zumindest das breite Lächeln vermuten. Und das anerkennende Kopfnicken, das in Elfwids Richtung ging. „Folgt mir“, meinte der Kastellan und wandte sich um, woraufhin einer der Gardisten rasch vortrat, um die Tür für das kleine Grüppchen zu öffnen. Theobald ging den Branghainern voran und Torgunn folgte ihnen, als sie das Herz der Burg betraten.

Im Thronsaal setzte sich fort, was Coran in anderen Bereichen bereits beobachtet hatte: Er war groß. Sehr groß sogar, sehr hoch und sehr prächtig. In vermögenderen Gegenden des Mittelreichs hätte vermutlich niemand ein Aufheben um steinerne Säulen, kunstvolle Reliefs an den Wänden und den marmorierten Granitboden gemacht, aber hier in der Sichelwacht war das alles nicht normal. Eine Ansage vielmehr. Der Raum war darauf ausgerichtet, Gäste zu beeindrucken, dessen war sich der Branghainer sicher. Vermutlich hatte sein Bau Unsummen verschlungen, was die Pleite des damaligen Barons noch viel verständlicher wirken ließ – und vielleicht auch erklärte, warum die Wehrhaftigkeit des Gemäuers an manchen Stellen zu wünschen übrigließ.

Angesichts der Länge des Saals dauerte der Weg zum Thron eine gefühlte Ewigkeit. So hatten Coran und seine Begleiter genug Zeit, um das zu betrachten, worauf sie zusteuerten: Einen prächtigen Thron, der ebenfalls ... aus irgendeinem edlen Gestein war, mit sehr hoher Rückenlehne und sehr herrschaftlichen Armlehnen und allerlei sicher kunstvollen Verzierungen. Ob bildhaft oder abstrakt konnte Coran auf die Ferne nicht sagen, und im Näherkommen verschob sich sein Fokus: Statt des Throns musterte er lieber die Frau, die darauf saß.

Affra von Fluck füllte das noble Sitzmöbel voll aus – weniger in der Höhe als in der Breite und vor allem mit ihrer Haltung. Gleich auf den ersten Blick entstand der Eindruck, dass das Ego der Vögtin groß genug, um den gesamten, riesigen Raum mühelos zu fluten. Und vielleicht auch noch ein bisschen was darüber hinaus. Coran konnte beim besten Willen nicht sagen, wie alt die Frau war. Sie mochte 40 Winter zählen oder auch 50. Vielleicht sogar 60? Von ihrem fülligen Gesicht ließ es sich schwer ablesen. Das Haar war bereits ergraut, aber was hieß das schon?

Die Fluck hatte Haare wie eine Drahtbürste, Augen wie Dolche und einen Zug um Mund, der auf enorme Willensstärke hindeutete. Das waren neben ihrer Untersetzheit wohl die auffälligsten Merkmale. Keines davon sagte etwas über ihr Alter aus. Sie hatte die Neuankömmlinge kurz gemustert, mit einer merkwürdigen Mischung aus Skepsis und Desinteresse, bevor sie den Blick auf ihren Kastellan richtete. Dem oblag es nun, die Branghainer vorzustellen, und er kam dieser Pflicht umgehend nach.

„Hochgeboren“, im Angesicht der abweisenden Miene Affras, war die freundliche Stimme des Triggenfelsers sogar Coran hochwillkommen. „Ich bringe Euch Ritter Coran ui Branghain, ehedem Hauptmann im kaiserlichen Reichsheer und bis dato Quartiermeister im Stab des Weidener Soldgrafen. Und dies ist seine Tochter, Elfwid ni Branghain, Abgängerin der Akademie Schwert und Schild zu Baliho und nunmehr in den Rängen der Rundhelme tätig.“

Aufgrund des Anblicks und der Ausstrahlung, den seine Gastgeberin bot, musste Coran schlucken. Ihm kam die Befürchtung in den Sinn, dass ihr holpriger Kurzbesuch bei Irlgunde von Waldenklamm in Runhag vor zwei Tagen im Vergleich zu dem, was ihnen hier scheinbar bevorstand, das reinste Honigschlecken gewesen sein könnte. Er hatte in der Schlacht wütenden Ogern gegenübergestanden, die ein sonnigeres Gemüt zu haben schienen als diese Dame, die da in all dem Protz auf dem Thron hockte wie eine Unke. Natürlich ließ er sich seine Gedanken nicht anmerken, sondern lächelte brav als er sich zusammen mit Elfwid vor der Vögtin verneigte.

„Euer Hochgeboren, den Zwölfen zum Gruß. Ich danke Euch für die Einladung und freue mich außerordentlich, Euch endlich persönlich kennenlernen zu dürfen. Ich muss sagen, dass sich unsere Ankunft und unser bisheriger Aufenthalt durch die Bemühungen Eures guten Kastellans und auch des übrigen Gesindes als überaus angenehm darstellten. Die Gastfreundschaft, die Ihr hier auf Drôlenhorst hochhaltet, macht der gütigen Mutter wahrlich alle Ehre.“

Die Vögtin quittierte das Lob für ihren Hofstaat lediglich mit einem kehligen „Hum“, beließ es aber dankenswerterweise nicht dabei, sondern schob sogleich ein „Die Zwölfe zum Gruße, Hoher Herr – Praios und Travia voran“ hinterher. Zu Elfwid sagte sie kein Wort, vielleicht weil sie sie eher als Staffage denn als ernstzunehmenden Gast wahrnahm? Es entstand eine kurze Pause, in der Affra den Branghainer noch einmal genauestens musterte – aus kalten, grauen Augen und mit leicht nach unten geneigten Mundwinkeln.

„Nun denn, fühlt Euch auch von mir willkommen geheißen, in Eurer künftigen Heimat, womöglich“, meinte sie dann. Ihre Stimme erinnerte Coran an eine knarzende Bratsche. Oder eben an eine Unke, aber den Gedanken verfolgte er lieber nicht weiter, damit er sich nicht zu sehr verfestigte. „Stellt Euch unsere Überraschung vor, als wir hörten, dass Ihr die Herzogenstadt verlassen wollt, um nach Ingerimms Steg zu kommen. Ausgerechnet hierher, in die von den Göttern wohl verlassenste Gegend Weidens.“ Sie schniefte leise und ein beinahe belustigter Ausdruck trat auf ihre Züge. Derweil fragte sich Coran, ob die Frau tatsächlich den Pluralis Majestatis für sich nutzte, oder ob sie Theobald und Torgunn in ihre Feststellung miteinbezog.

„Was ist das, Hoher Herr?“, fragte Affra schließlich. „Ein merkwürdiger Sinn für Humor? Oder fühlt Ihr Euch den Landen hier verbunden? Aus irgendeinem Grund, der mir bislang verborgen geblieben ist? Kennt Ihr Ingerimms Steg überhaupt? Wart Ihr schon einmal hier? Zu Gast? Auf der Durchreise? Vielleicht wenigstens in Gedanken?“

Der Austausch von Höflichkeiten, wenn man das bisherige Gespräch denn so bezeichnen wollte, war damit scheinbar beendet, stellte Coran fest. Ans Eingemachte also. Er zwang sich, den herablassenden Tonfall der Vögtin zu ignorieren und seiner eigenen Stimme einen freundlichen Klang zu geben als er nun zum Sprechen anhob.

„Wie Ihr sicher wisst, Euer Hochgeboren, entstamme ich keiner altehrwürdigen Blutlinie, ja, komme nicht einmal aus Weiden, und kann hierzulande somit nicht auf den Rückhalt, Besitz oder Einfluss einer namhaften Familie bauen. Den Ritterschlag erhielt ich erst vor kurzem und so stehe ich am Ende eines durchaus entbehrungsreichen Lebens im Dienst von Reich und Herzogtum mit nicht viel mehr da, als Ihr hier vor Euch seht.“ Er machte eine kurze Pause und sah zu Elfwid hinüber. „Und da erhalte ich auf meine alten Tage unverhofft die Gelegenheit, vielleicht noch einmal etwas Eigenes aufbauen zu können, ein Vermächtnis gar. Auch wenn es in der von den Göttern verlassensten Gegend Weidens liegen mag, wie Ihr sagt.“

Coran erkannte am Blick ihrer Gastgeberin, dass die Theatralik, die er in seinen Worten hatte mitschwingen lassen, bei ihr kaum verfing. Daher erdete er seine Rede kurzerhand ein Stück weit als er fortfuhr: „Doch seien wir ehrlich: Es ist ja nicht so, als dass man einem Emporkömmling wie mir eine große Auswahl gelassen hätte. Die fetten Weiden im Balihoschen oder in der Tiefen Mark sind wohl fest in anderen – altehrwürdigeren – Händen. Und so bleibt mir denn Ingerimms Steg.“ Er lächelte.

„Aber um Eure Frage zu beantworten: Ja, ich kenne Eure Baronie durchaus“, fügte er dann an. „Ich habe mehr als fünfzehn Jahre lang in der Drachenpforter Garde gedient, die, wie Ihr sicher wisst, ihre Heimat in der Sichelwacht hatte. Ich war dementsprechend an verschiedenen Standorten in der damaligen Reichsmark stationiert und zahlreiche Patrouillen und Geleitschutzaufträge führten mich dabei auch nach und durch Ingerimms Steg. Außerdem bezog mein Regiment damals die weitaus meisten seiner Rekruten eben aus diesen Landstrichen und daher weiß ich um den Schlag Mensch, der von hier kommt. Ich habe nie bessere Soldaten gesehen. Und das führt mich zum nächsten Punkt, an dem sich der Kreis dann schließt. Die Männer und Frauen nämlich, an deren Seite ich gekämpft, gelitten und geblutet habe, mit denen zusammen ich unzähligen ungenannten Schrecken getrotzt habe und die stets treu für das Reich und die Weidener Heimat einstanden, die haben heute noch weit weniger vorzuweisen als ich.“

Sein Gesichtsausdruck hatte sich bei diesen Worten unwillkürlich verhärtet und seine Stimme hatte einen verbitterten Unterton angenommen. „Eine Belehnung mit einem Stück Land in Eurer Baronie, Hochgeboren, so unwirtlich es auch sein mag, gäbe mir die Möglichkeit, einem Teil dieser Leute und ihren Familien etwas zurückzugeben: ein Zuhause, ein Auskommen, die Aussicht auf ein besseres Leben.“ Nun war er doch wieder in Pathos verfallen. Sei’s drum. Wenn die Fluck dafür keinen Sinn hatte, dann konnte sie ihn mal.


Nachdem Coran seine kleine Ansprache beendet hatte, herrschte einen Moment völlige Stille im Thronsaal. Einen Floh hätte man husten hören können – wenn denn ein erkälteter da gewesen wäre. Der stählerne Blick der Vögtin ruhte auf dem Branghainer und kurz glaubte er in ihren Augen ehrliche Überraschung aufblitzen zu sehen. Die wandelte sich aber schnell zu Irritation und schließlich zu unverhohlener Skepsis. Sie verlagerte ihre Aufmerksamkeit auf Elfwid, während sie die Stirn runzelte und ein leises „Tsk!“ von sich gab. Man konnte ihr das ungläubige „Meint er das etwa ernst?“ förmlich von der Nasenspitze ablesen, doch sie sprach es nicht aus. Stattdessen wandte sie sich an ihren Kastellan und schüttelte energisch den Kopf.

„Ein Idealist“, Affra sprach das Wort aus, als handele es sich um eine schwere Beleidigung. „Trallop hat uns einen Idealisten und Romantiker geschickt, Theobald. Biete mir bitte einen Erklärungsansatz, der irgendetwas Gutes für sich hat, sonst muss ich leider das Schlimmste annehmen: Was denken die sich dabei?“

„Nun ...“, der Triggenfelser zögerte, sicher weil er ebenso ratlos war wie seine Herrin. Allerdings konnte er die Frage schwerlich weiterreichen, nachdem sie explizit an ihn gerichtet worden war. Er warf einen nachdenklichen Blick auf Coran, dann straffte er seine Haltung und räusperte sich. „Ich kenne die Beweggründe des Weißensteiners nicht und es stünde mir auch schlecht zu Gesicht, Mutmaßungen darüber anzustellen. Aber wenn Ihr etwas Gutes hören wollt, Hochgeboren, warum nicht dies: In unseren Landen und ... der Situation, in der wir stecken, ist ein Quäntchen Idealismus vielleicht gar nicht so schlecht? Als ... ähm ... Gegengewicht zu ...“

Er verstummte, als Affra ihm mit einer knappen Geste zu verstehen gab, dass sie genug gehört hatte. Dabei verriet ihre Miene eine merkwürdige Mischung aus Ärger und Belustigung. Schließlich fasste sie Coran wieder ins Auge und neigte den Kopf leicht zur Seite.

„Wisst Ihr eigentlich, was Euch in Kressing erwartet, Hoher Herr?“, fragte sie. „Dass es dort im Grunde nichts gibt und Ihr bei Null anfangen müsst? Es wird eine Weile dauern, bis dieser Ort genug zu bieten hat, dass dort irgendjemand ein ‚besseres Leben führen‘ kann. Und mit ‚eine Weile‘ meine ich nicht Monate, sondern Jahre.“

Coran nahm aus den Augenwinkeln war, wie sich Elfwids Körperhaltung mit fortschreitendem Wortwechsel zunehmend versteifte. Er konnte förmlich fühlen, wie es in ihr brodelte und hoffte, dass sie sich weiterhin zusammenreißen würde – etwas, was auch ihm zugegebenermaßen immer schwerer fiel. Doch noch machte er gute Miene zu bösem Spiel. Immerhin war ihm der Triggenfelser nicht in den Rücken gefallen. Und auch wenn dessen Beitrag wohl nicht allzu hilfreich gewesen war, rechnete er ihm dies hoch an.

„Ich denke, ich habe eine ganz gute Vorstellung davon, wie es um Kressing bestellt ist und worauf ich mich dort einlasse“, antwortete er schließlich, weiterhin mit einem Lächeln auf den Lippen, dem nun jedoch jede Wärme fehlte. „Wobei ich mir natürlich nicht anmaße, das Lehn wirklich zu kennen, aber dafür bin ich ja jetzt hier.“ Coran atmete einmal tief durch. „Ihr nennt mich einen Idealisten. Dagegen werde ich mich nicht wehren, auch wenn ich vermute, und Ihr werdet mir die Dreistigkeit verzeihen, dass Ihr Idealismus mit Einfalt verwechselt und Höflichkeit mit Schwäche.“

Coran spürte den bohrenden Blick Affras schwer auf sich lasten und meinte, Theobald leise seufzen zu hören. Dennoch fuhr er mit ruhiger Stimme fort.

„Ich habe so gut wie in allen großen Kriegen der letzten Jahrzehnte gekämpft, gegen mordgierige Schwarzpelze, blutsaufende Dämonenbündler und wandelnde Tote. Stets an vorderster Front. Und glaubt mir, ich habe das nicht überlebt, weil ich mit einem Übermaß an Naivität und Sanftmütigkeit geschlagen wäre. Ich habe Entscheidungen getroffen, die Ihr Euch nicht vorstellen könnt, habe Männer und Frauen, die ich seit Jahren kannte, sehenden Auges ins Verderben geschickt. Nennt mich, wie Ihr wollt, doch denkt nicht, ich sei ein schwärmerischer Träumer ohne Sinn für die Realität.“

Er sah der Vögtin fest in die Augen.

„Ich habe Euch meine Motive dargelegt, Hochgeboren. Ihr mögt sie respektieren oder auch nicht, wie auch immer, ich stehe dazu und bin mehr als bereit, dafür Unbill und Mühsal in Kauf zu nehmen.
Ich kam nach reiflicher Überlegung nach Ingerimms Steg, um Euch meine Dienste und Gefolgschaft anzubieten. Was ich nicht tun werde, ist darum zu betteln, dass Ihr sie annehmt. Doch wenn Ihr es denn wirklich ernst damit meint, diese Baronie wieder aufbauen zu wollen und die Bedingungen in Kressing tatsächlich so sind, wie Ihr sagt – woran ich nicht zweifle –, dann frage ich Euch, wem außer einem Idealisten könntet ihr diese Aufgabe überhaupt aufbürden?“

„Ihr tut Euch keinen Gefallen damit, vorschnelle Urteile über meine Vorstellungskraft zu fällen, Hoher Herr“, entgegnete Affra ungerührt – also nicht beeindruckt, aber immerhin auch nicht erzürnt, was ja ebenfalls eine Möglichkeit gewesen wäre. „Ich kann mir so einiges vorstellen, muss das in diesem Fall aber gar nicht, denn ich habe selbst schon Menschen ins Verderben geschickt, an denen mir etwas lag. Meine kleine Schwester zum Beispiel.“ Sie machte eine kurze Pause, in der sie Coran mit Blicken erdolchte, aber sonst keine Miene verzog. „Das hier ist Weiden, Herr Branghain, der Schild des Reiches. Ein Grenzland, dem kriegerische Auseinandersetzungen von den Göttern sozusagen ins Ahnbuch geschrieben wurden. Und die machen nicht bei Soldaten Halt, sondern fordern auch Opfer vom Adel. In diesem Raum befindet sich wohl niemand, der nicht wenigstens einen engen Verwandten an den Feind verloren hat und meine Worte bezeugen könnte“, meinte sie mit einem Seitenblick auf Elfwid, der einzigen Person, bei der sie sich dessen nicht gewiss war.

„Ich bin auch ganz gut mit Worten“, fügte sie dann an. „Folglich muss mir niemand den Unterschied zwischen Naivität und Idealismus erklären. Der ist mir von ganz allein bewusst. Und ich habe Euch einen Idealisten genannt, keinen schwächlichen Idioten, dem jeglicher Bezug zur Realität fehlt. Ich schätze es nicht, wenn mir das Wort im Mund verdreht wird, also vielleicht könntet Ihr auf so was in Zukunft verzichten. Darüber hinaus ... nehme ich zur Kenntnis, dass Ihr fest entschlossen seid, die Herausforderung anzunehmen. Das kann ich durchaus respektieren und vielleicht wird Idealismus Euch tatsächlich eine Hilfe sein. Ist für mich schwer zu sagen, denn ich besitze schon lange keinen mehr. Wenn es Ingerimms Steg voranbringt, soll mir recht sein, was immer Ihr an prägenden Eigenschaften zu bieten habt.“ Nachdem das gesagt war, löste sie den Blick von ihrem Gast und richtete ihn wieder auf Theobald: „Nun, da das geklärt ist, können wir eigentlich zum formlosen Teil dieser Zusammenkunft übergehen, würde ich meinen?!“

Der Triggenfelser bestätigte das mit einem Nicken, gab aber keinen Ton von sich, sondern wartete ab, ob Coran nicht erst noch etwas auf die Worte seiner Herrin erwidern wollte.

Und dem brannte in der Tat eine Entgegnung auf der Zunge, die er jedoch zähneknirschend zurückhielt. Die letzten überraschend offenen Worte der Fluck hatten bei Coran unwillkürlich eine Empfindung geweckt, die seine wachsende Abneigung ihr gegenüber ein wenig abmilderte, auch wenn dies mit Sicherheit nicht in ihrer Absicht gelegen hatte: Mitgefühl.
Natürlich war die Vögtin nicht so verbittert geboren worden. Niemand war das. Und hatte nicht auch er selbst an verschiedenen Punkten in seinem Leben an Wegscheiden gestanden an denen Wut und Verzweiflung die Oberhand zu gewinnen drohten? Ihm hatten jedoch stets geliebte Menschen zur Seite gestanden, die ihn in solchen Zeiten aufgefangen hatten. Er vermutete, dass der Fluck solches Glück wohl nicht beschieden war. Kurz blitzten in seinem Geist die Bilder einer vierjährigen Elfwid sowie ihrer verstorbenen Mutter Wolftrude auf, die sein im Laufe des Gesprächs erhitztes Gemüt weiter abkühlten.

Außerdem wusste Coran, wann eine Schlacht nicht zu gewinnen war. Und immerhin fühlte diese sich zumindest nicht nach einer vollständigen Niederlage an. Also ließ er es gut sein, neigte als versöhnliche Geste ein wenig seinen Kopf und sagte nur: „Das ist ein ausgezeichneter Vorschlag, Euer Hochgeboren.“ Und an Theobald gewandt ergänzte er: „Ich für meinen Teil könnte jetzt jedenfalls einen ordentlichen Schluck vertragen.“

***

Später am Abend fanden sich Coran und Elfwid in einem Kaminzimmer wieder, das weniger auf Repräsentation als auf Gemütlichkeit ausgelegt war. Mit der Heimeligkeit, die Coran aus anderen Burgen der Weidenlande kannte, ließ sich das zwar immer noch nicht vergleichen – was allein schon an der Größe lag. Aber immerhin war dieser Raum nicht so protzig wie das, was er auf Burg Drôlenhorst sonst so zu sehen bekommen hatte.

Ein weiterer Vorteil: Sie waren hier nicht mit der Vögtin allein. Das war beim Abendmahl noch der Fall gewesen und hatte für eine seltsam krampfige Stimmung am Tisch gesorgt. Offenbar hielt Affra nicht viel davon, beim Essen Konversation zu betreiben, sondern konzentrierte sich lieber voll und ganz auf die Nahrungsaufnahme. Mit geradezu heiligem Ernst. Daher hatten sie sich über weite Strecken schweigend an Fasan und Knödeln mit Wirsing gütlich getan und die Branghainer waren alles andere als abgeneigt gewesen, als ihre Gastgeberin nach dem Mahl einen Umzug in ein anderes Zimmer vorschlug.

Am Kamin gesellten sich Torgunn und Theobald zu ihnen sowie Radulf von Kleiendorn, der Coran als Burghauptmann und Gemahl Torgunns vorgestellt wurde. Sie machten es sich in niedrigen Lehnstühlen rund um die Feuerstelle bequem und bekamen zunächst einen Brannt serviert – um die Verdauung anzuregen, wie es hieß. Zwar waren auch hier noch nicht viele Worte gewechselt worden, aber die Stimmung schien Coran deutlich entspannter als vorher am Essenstisch, was ihn dazu bewog, den Versuch eines Gesprächs mit den anderen zu wagen. 

Da der Triggenfelser Radulf bei seiner Vorstellung unter anderem auch als Junker von Reß betitelt hatte, hielt er dies für einen geeigneten Einstieg – zumal der großgewachsene Burghauptmann ihn mit einem freundlichen Lächeln begrüßt hatte, das Coran durchaus als ehrlich gemeint empfand. „Erlaubt mir die Frage, hoher Herr, wo liegt Euer Reß denn wohl?“, fragte er. „Und habt Ihr dort einen Verwalter eingesetzt, da Euch Eure Verpflichtungen auf Drôlenhorst doch sehr einnehmen werden, wie ich vermute?“

Ein Moment unangenehmer Stille schloss sich an und das Lächeln Radulfs nahm einen melancholischen Zug an, als er schließlich antwortete: „Nun, dem damaligen Baron Fenn hat es gefallen, mir das Gut in Erfüllung einer alten Familienverpflichtung als Lehen zu überlassen. Leider erst nachdem sich die Wüstenei in Ingerimms Steg ausgebreitet hatte. Reß liegt inmitten der Ödnis unweit von Alt-Dagenfeld. Dort gibt es nichts, was verwaltet werden müsste.“

Coran fühlte kalte Panik in sich hochsteigen und in seinem Geist entfaltete sich das Bild seines frisch gewienerten Schnallenschuhs, der mit Wums in einen gewaltigen Fettnapf stampfte. Doch Radulf schien ihm die Frage nicht übel zu nehmen.

„Fenns Vetter und Nachfolger, Tiro von Drôlenhorst, erbarmte sich dann meiner und bot mir hier nach unserer Rückkehr von der Trollpforte die Stellung als Burghauptmann an. Da bin ich nun und die Dinge haben sich für mich wahrlich nicht zum Schlechtesten entwickelt.“ Bei diesen Worten ergriff er die Hand der neben ihm sitzenden Thorgunn, die ihn liebevoll anblickte.

Der Kleiendorner erzählte noch etwas mehr von sich und wie sich herausstellte, hatte er die Hoffnung, dass Reß irgendwann wieder besiedelt werden könnte, nie aufgegeben – wohl nicht mehr unter seiner Ägide, aber vielleicht unter der seiner Kinder. Er schilderte, dass er immer, wenn er einen der Versorgungszüge zum Tsatempel nach Alt-Dragenfeld eskortierte, die Gelegenheit nutzte, um das nahgelegene verwaiste Gut zu besuchen und nach dem Rechten zu sehen. Dabei bestätigte er Corans Beobachtung, dass sich die Wüstenei langsam, aber sicher zurückzog und es nur eine Frage der Zeit war, bis die Menschen wieder dorthin zurückkehren konnten.

Coran fragte sich, wie die Fluck so einen wie den Kleiendorner, bei dem es sich ganz offensichtlich ebenfalls um einen Idealisten handelte, hier am Hof ertrug. Doch die Antwort lag auf der Hand. Radulf war von allen Anwesenden mit Abstand am längsten in Ingerimms Steg aufhältig. Er kannte sich wahrscheinlich in der Baronie aus wie kein Zweiter und wenn er seine Aufgabe als Burghauptmann beherrschte, wäre es fahrlässig gewesen, ihn aus einer persönlichen Abneigung heraus zu entlassen. Außerdem schätzte er den Mann als eher zurückhaltend ein, so dass sich die Vögtin wohl nicht ständig mit seinen doch langfristigen Plänen auseinandersetzen musste.

Er sah hinüber zu Affra, die dem Gespräch bisher schweigend und mit ausdruckslosem Gesicht gefolgt war, und gab sich einen Ruck. „Euer Hochgeboren, mich würde interessieren, was Ihr Euch von einer Wiederbelebung Kressings versprecht? Auch wenn die Situation nicht mit der in Reß zu vergleichen ist, so wird es, wie Ihr selbst sagtet, noch Jahre dauern bis dort wieder ein gutes Leben möglich ist. Das gleiche wird für Erträge und Abgaben gelten. Und ich bin nicht so töricht oder stolz zu glauben, dass ich gerade in der Anfangszeit nicht auf Eure Unterstützung und Hilfe angewiesen sein werde.“ Er lächelte. „Aber das wisst Ihr natürlich auch.“

„Wenn es Fortschritte geben soll, muss man irgendwann ja mal irgendwo anfangen, nicht wahr?“, gab die Vögtin zurück. Sie schien das für eine ausreichende Antwort zu halten, bemerkte dann aber den vorwurfsvollen Blick ihres Kastellans und seufzte schwer.

„Wie Ihr offenbar schon selbst bemerkt habt, befindet sich die Wüstenei auf dem Rückzug“, fügte sie pflichtschuldig an. „Der Altenforst holt sich wieder, was einst sein gewesen ist, und auch die Bäumchen, die Gläubige seinerzeit im Auftrag des Dieners des Lebens gepflanzt haben, gedeihen mittlerweile prächtig. Das Land erholt sich und die Kirchen Brorons und Hesindes haben entsprechend gehandelt: Der Noionit, der am Rande der Wüstenei einen Außenposten hatte, ist zurück nach Baliho und die Draconiter haben sich in alle Winde zerstreut. Allein die Kirche des Götterfürsten wird ihrem Ruf einmal mehr gerecht und beharrt auf überkommenen Standpunkten: Es gibt hier noch genauso viele Bannstrahler wie eh und je und niemand darf unüberwacht auch nur einen Fuß in die Wüstenei setzten – oder auf das Gebiet, das ehedem Wüstenei war, heute aber schon wieder deutlich besser aussieht.“

Die Vögtin hielt inne, um ein unwilliges Schniefen auszustoßen und sich einen Schluck Bier zu gönnen. „Das bisschen an Fortschritt, das wir machen, bremsen sie dadurch aus“, meinte sie dann. „Wie soll man denn vorankommen, wenn ein Großteil der Baronie Sperrzone ist? Unnötigerweise noch dazu? Nachdem meine Apelle an die Kirche niemanden zu interessieren scheinen, habe ich entschieden, einfach selbst tätig zu werden. Mir ist mittlerweile egal, was die Praioten davon halten, dass ich einst verlassene Siedlungen wiederbeleben will. Dies hier ist mein Land und nicht ihres, ich entscheide, wann es sicher genug ist, zurück in die verlassenen Dörfer zu gehen. Und wenn dort erst mal wieder jemand lebt, muss auch der Zugang ermöglicht werden. Vielleicht sehen sie dann endlich selbst Klärungsbedarf und kommen auf mich zu?“

Coran blinzelte kurz und sein Mund öffnete sich zwei oder dreimal tonlos bevor er antworten konnte: „Äh, ich muss zugeben, mit einem Stolperstein an dieser Front hatte ich bisher nicht gerechnet.“ Ihm war klar, dass in diesem Konflikt zwischen Affra und der Praioskirche wahrscheinlich er den Großteil der zu erwartenden Konfrontation austragen würde. Innerlich seufzend fügte er in seinem Kopf der immer länger werdenden Liste von Schwierigkeiten, die Kressing für ihn bereithielt, diesen „Stolperstein“ hinzu. 

„Wir machen also Nägel mit Köpfen, gut, gut“, fuhr er fort und nahm hörbar einen tiefen Schluck aus seinem Becher. „Es ist ja nicht so, dass ich nicht schon mit Bannstrahlern zu tun gehabt hätte. In der Schlacht war ich jedenfalls immer froh, wenn die in der Nähe gefochten haben. Insbesondere wenn es gegen Dämonengezücht und so was ging. Bei Praios, da haben die uns schon mehr als einmal den Ar…, ich meine den Tag gerettet.“ Er warf Thorgunn einen entschuldigenden Blick zu, da er annahm, dass sie von den Anwesenden noch am ehesten Anstoß an unflätigen Ausdrücken nahm. Die Hofdame ließ sich jedoch nichts anmerken und reagierte lediglich mit einem verständnisvollen Lächeln. Coran wurde bewusst, dass der Alkohol wohl langsam seine Wirkung tat und er ermahnte sich, von nun an besser auf seine Wortwahl zu achten.

„Auf jeden Fall haben die Ordensleute stets echten Mumm bewiesen, wenn sie sich ohne Rücksicht auf das eigene Leben und ihre Choräle schmetternd auf die scheußlichsten Kreaturen gestürzt haben. Da stehen sie den Rondrianern wahrlich in nichts nach. Und es war auch immer inspirierend für meine Mädels und Jungens.“ Nachdenklich starrte Coran einige Momente in das prasselnde Feuer und als es schon schien, dass er nichts mehr hinzufügen wollte, ergriff er unvermittelt doch wieder das Wort: „Abseits vom Schlachtfeld verhielt sich das natürlich ganz anders. Im Feldlager gab es eigentlich nichts Übleres als direkt neben den Praioten untergebracht zu sein, weil … na ja, weil sie halt sind wie sie sind.“

„Mit den Bannstrahlern in Ingerimms Steg verhält es sich ganz ähnlich“, warf Radulf ein. „Ich habe natürlich den höchsten Respekt vor ihrem tiefen Glauben und die Verdienste des Ordens um die Baronie in den vergangenen Jahren sind unbestreitbar, doch mitunter kann der Umgang mit ihnen schon recht anstrengend sein. Wobei man im Grunde mit den meisten unten im Inquisitionsturm ganz gut auskommen kann, nur hin und wieder ist einer dabei, der es dann doch wissen will. In der Regel ein Junger, der frisch dorthin versetzt wurde. Da hilft dann kein gutes Zureden und auch nicht, dass man alle notwendigen unterschriebenen und gesiegelten Schriftstücke dabeihat. Da gleicht die Behandlung schon fast einer hochnotpeinlichen Befragung. Ergeht mitunter selbst mir so. Und mich kennt man dort mittlerweile eigentlich ganz gut.“ Er prostete Coran mit mitleidiger Miene zu. „Ich fürchte, Ihr werdet es alsbald am eigenen Leib erleben.“

Coran erwiderte den Gruß des Burghauptmann ebenfalls mit erhobenem Krug und wandte sich dann mit einem anderen Thema wieder der ganzen Runde zu.

„Wie ist das eigentlich? Gibt es hier in Ingerimms Steg noch Menschen, die ursprünglich aus Kressing stammen und die in ihre alte Heimat zurückkehren wollen? Auch wenn mich durchaus einige tatkräftige Leutchen dorthin begleiten werden, kann es doch sicherlich nicht schaden, darüber hinaus noch jemanden dabei zu haben, der sich da unten ein wenig auskennt. Auch wenn die Gegend sich natürlich gewandelt haben mag.“

„Ja, ein paar Kressinger leben noch hier in Ingerimms Steg. Die gebe ich Euch mit“, antwortete Affra – ohne allerdings darauf einzugehen, ob diese Leutchen wirklich in ihre alte Heimat zurückwollten. Das schien für sie von nachrangigem Interesse. „Ich denke auch, dass Ortskundige eine große Hilfe sein können, darauf sollten wir unter keinen Umständen verzichten. Da das aber nicht allzu viele sein werden, ist die Umsiedlung von ein paar anderen Ingerimms Stegern vorgesehen, deren Fähigkeiten Euch beim Wiederaufbau des Orts von Vorteil sein können.“

Die Vögtin hielt einen Moment inne, um über ihre Worte nachzusinnen, und schien zu dem Schluss zu gelangen, dass diese viel zu positiv und entgegenkommend wirkten. Daher beließ sie es nicht dabei, sondern schickte noch eine Erklärung hinterher: „Ich betrachte das als Investition in die Zukunft der Baronie und nicht in Euch. Gleich wie: Ich habe großes Interesse daran, dass der Wiederaufbau Kressings von Erfolg gekrönt wird, also könnt Ihr darauf vertrauen, dass ich Euch nicht hängenlasse – sofern Ihr Euch nicht als vollkommen inkompetent erweist.“

Noch vor wenigen Stunden hätte Coran dieser brüsk nachgeschobene Hinweis sicherlich verärgert. Nun aber, da er die Fluck ein klein wenig kennengelernt hatte, hätte es ihn eher gewundert, wäre es bei einer einfachen Zusage der Unterstützung geblieben. Mit schiefgelegtem Kopf sah er seine Gastgeberin einen Moment lang an. Was war mit dieser Frau denn nur los? Na ja, wenigstens machte sie den Eindruck, dass sie es mit ihrem Versprechen wirklich ernst meinte. 

„Eure Umsicht ehrt Euch, Hochgeboren. Und ich meinerseits fühle mich geehrt, Euch bei Euren Bemühungen um die Baronie zur Seite stehen zu dürfen.“ Er hob seinen Krug in Affras Richtung, die dies mit einem kaum sichtbaren Nicken quittierte. „Wann meint Ihr denn, wäre es wohl möglich, dass ich mir Kressing mal persönlich anschaue? Da Euch ja daran liegt, dass es vorangeht, je früher, desto besser, denke ich.“

Tatsächlich bereitete ihm der Gedanke, länger als unbedingt nötig auf Drôlenhorst und in Gegenwart der Vögtin verweilen zu müssen, mittlerweile mehr und mehr Unbehagen – heiße Bäder und weiche Betten hin oder her.

„Wenn Ihr mögt, kann ich Euch morgen schon dorthin begleiten“, es war Theobald, der diese Frage beantwortete und nicht etwa Affra. Der junge Kastellan schien dem Gedanken, mal ein bisschen an die frische Luft zu kommen, ebenfalls einiges abgewinnen zu können – oder jedenfalls deutete Coran seine strahlenden Augen so. „Ich bin umfassend informiert und hoffe, alle Fragen beantworten zu können, die Euch dort in den Sinn kommen könnten.“

„Na, das klingt doch nach einem ausgezeichneten Plan.“ Der Branghainer wirkte fast erleichtert, dass nicht Affra persönlich sie nach Kressing begleiten würde. „Oder was meinst du?“, wandte er sich an Elfwid, die dem Gespräch bisher nur schweigend und bisweilen stirnrunzelnd gefolgt war. Deren Miene hellte sich nun aber mit einem Male auf und es war nicht ganz klar, ob dies an dem in Aussicht stehenden baldigen Aufbruch und dem damit einhergehenden Abschied von der Vögtin liegen mochte oder eher an ihrer charmanten Reisebegleitung mit dem knackigen Hintern. Coran vermutete, dass wohl beides eine Rolle spielte.
„Ja, das tut es in der Tat“, stimmte sie ihrem Vater dann auch eifrig zu.

„Wunderbar“, Coran stellte seinen Krug ab. „Dann, Euer Hochgeboren, bitte ich darum, mich zu entschuldigen. Mit Eurer Erlaubnis würde ich mich gerne zurückziehen. Morgen wird mit Sicherheit ein langer Tag und mir steckt der gestrige noch in den alten Knochen. Ich danke Euch abermals für Eure Gastfreundschaft, das gute Essen und den, ähm, fruchtbaren Austausch.“

***

Am nächsten Morgen wurden Elfwid und Coran kurz vor Sonnenaufgang geweckt. Bedienstete brachten Schalen mit warmem Wasser zum Waschen und legten ihnen ihre Reisekleidung bereit, die über Nacht getrocknet und gesäubert worden war, einschließlich ihrer ausgebürsteten Umhänge und frisch eingefetteten Reitstiefel. Danach wurde ihnen ein einfaches, aber nahrhaftes Frühstück auf ihren Zimmern serviert, was beide begrüßten, da ihnen kaum der Sinn nach einem weiteren gemeinsamen Mahl mit der Vögtin stand.

Gut eine Stunde später begaben sich die Branghains schließlich fertig zur Abreise in den Innenhof der Burg, wo Theobald sie bereits mit gesattelten Pferden und in Gesellschaft von Radulf von Kleiendorn erwartete. Neben den beiden Männern und einigen emsigen Stallknechten war außerdem noch eine Waffenmagd anwesend, eine kräftige Mittvierzigerin mit strohblondem Haar, deren Aufmachung und Ausrüstung darauf schließen ließ, dass sie sie offensichtlich ebenfalls begleiten sollte.                                             

Das Wetter hatte sich im Vergleich zum Vortag deutlich gebessert und so schien die Morgensonne, wenn auch noch etwas kraftlos, von einem mit nur wenigen Wolken bedeckten zartrosa Himmel und sorgte für eine avesgefällige Aufbruchstimmung. 

„Guten Morgen, hohe Herrschaften“, begrüßte der Triggenfelser sie mit seinem gewohnt strahlenden Lächeln. „Ich wünsche, wohl geruht zu haben.“ 
Natürlich sah der Kastellan auch zu dieser frühen Stunde schon aus wie aus dem Ei gepellt. Und nun, da er dem Anlass entsprechend, mit Kettenrüstung, Wappenrock und Reitmantel angetan war, wirkte er auf Coran fast wie das Idealbild des noblen weidener Ritters. Er war sich sicher, dass sein sowohl rondra- als auch rahjagefälliger Anblick an so manchem Adelshof für Schnappatmung sorgen würde und er befürchtete, dass auch Elfwid nicht von dieser Wirkung verschont bliebe. 

„Oh ja, hab‘ geschlafen wie ein Bär im Winter“, entgegnete der Branghainer während er die Zügel seines Warunkers von einem der Burschen entgegennahm. Er erwähnte nicht, dass er sich noch geraume Zeit hin und her gewälzt hatte, da ihm der Verlauf des Gesprächs mit der Vögtin zunächst keine Ruhe gelassen hatte. Doch als er schließlich in Borons Arme gesunken war, war ihm ein durchaus tiefer und traumloser Schlaf beschieden gewesen - wahrscheinlich auch wegen des guten Schnappes, dem er ganz ordentlich zugesprochen hatte.

„Allerdings“, warf Elfwid ein, die sich routiniert daran machte, den Sitz von Sattel und Zaumzeug an ihrem Tralloper zu überprüfen. „Genau wie ein Bär im Winterschlaf hat sich das Brummen auch angehört, was da aus deinem Zimmer geröhrt ist die halbe Nacht.“ Und an Theobald ergänzte sie: „Aber habt Dank, abgesehen von einer gewissen Geräuschkulisse, für die Ihr ganz sicher nichts könnt, habe auch ich ausgezeichnet geschlafen.“ 

„Das freut mich zu hören“, erwiderte der Triggenfelser und saß mit gekonntem Schwung auf sein Pferd auf. „Hochgeboren von Fluck lässt sich im Übrigen entschuldigen. Sie bedauert, Euch nicht persönlich verabschieden zu können, doch dringende Amtsgeschäfte bedürfen ihrer Aufmerksamkeit.“

„Bedauerlich in der Tat“, antwortete Coran und klang dabei fast aufrichtig. „Richtet Hochgeboren doch bitte meinen Gruß aus“, bat er Radulf, „und dass ich schon jetzt sehr unserer Rückkehr und der Fortführung unserer Unterhaltung entgegenfiebere.“ 

Der Burghauptmann nickte mit betont neutraler Miene und zeigte dann auf die Bewaffnete, die gerade im Begriff war ebenfalls aufzusteigen. „Das ist Irinja Tiefenfurter. Ich erlaube mir, sie Euch als Geleit mitzugeben. Sie ist verlässlich und erfahren, kennt sich in der Gegend da unten gut aus und eine Klinge mehr kann sicherlich nicht schaden.“

„Hochwillkommen“, antwortete Coran und führte sein Pferd an die Seite der Waffenmagd wo er ihr lächelnd seine Rechte zum Gruß entgegenstreckte. Einigermaßen verdutzt ergriff diese nach kurzem Zögern die dargebotene Hand und brachte noch ein gemurmeltes „Wohlgeboren“ und die Andeutung einer Verbeugung zustande.

Da nun alle offenbar abmarschbereit waren, trieb Theobald sein Ross schließlich voran in Richtung des Tores.

„Auf dann nach Kressing!“

***

Sie reisten mit nur leichtem Gepäck und führten daher auch kein Lastenpferd mit sich. Das wenige was sie benötigten – etwas Proviant und ein Minimum an Wechselkleidung – hatten sie in ihren Satteltaschen untergebracht. Bis zum Inquisitionsturm der Bannstrahler, der an der einstmaligen Grenze zur Wüstenei lag, würden sie bei zügigem Tempo gut einen Tag brauchen. Die Nacht konnten sie dann dort verbringen, um am nächsten Morgen das letzte Stück nach Kressing zurückzulegen.

Alsbald kamen sie durch Neu-Dragenfeld, wo ihnen einige neugierige Blicke zugeworfen wurden, wohl da die kleine Reisegruppe vom jungen Kastellan der Vögtin persönlich angeführt wurde. Mit Sicherheit würden in dem kleinen Ort schon kurz darauf zahllose Gerüchte über den mutmaßlichen Grund des Ausritts und vor allem über die Identität der beiden Fremden kursieren, die hier ja bereits eine Nacht verbracht hatten.

Der Ritt ging weiter auf dem Sieben-Baronien-Weg südwestwärts, dieselbe Strecke also, die Coran und Elfwid vor zwei Tagen bereits in entgegengesetzter Richtung bereist hatten. Jetzt lag linkerhand die von den Auswirkungen der Wüstenei betroffene Drachenpforte und felsige zum Teil mit Nadelbäumen bewaldete Hänge reichten dort mal mehr, mal weniger steil talabwärts, während sich auf der rechten Seite der Straße die Ausläufer der Roten Sichel erhoben, deren Gipfel in nicht allzu weiter Ferne majestätisch bis in den Himmel zu reichen schienen.   

Theobald war gut gelaunt. Offenbar genoss er es, der Enge der Burg, so weitläufig sie auch sein mochte, für einige Zeit zu entkommen. Bereitwillig beantwortete er den Branghains alle Fragen, die sich entlang des Weges ergaben oder erläuterte von sich aus dieses und jenes, die Baronie betreffend. Gelegentlich vergewisserte er sich dabei bei Irinja, die dann häufig etwas ergänzen konnte oder die Ausführungen des Triggenfelsers mit einem entschuldigenden Blick in dessen Richtung gar korrigierte. Dass Theobald ihr das nicht übel zu nehmen schien, nahm Coran wohlwollend zur Kenntnis.

So erfuhren sie, dass sich hier nördlich der Straße in den Bergen etwa eine Handvoll Eisenminen befanden, deren Ausbeute das Überleben von Ingerimms Steg nach der Entstehung der Wüstenei und dem weitgehenden Zusammenbruch von Forst- und Landwirtschaft überhaupt erst möglich gemacht hatte. Bis vor einigen Jahren hatte es hier sogar noch ertragreiche Silbervorkommen gegeben, welche mittlerweile jedoch vollkommen erschöpft waren. In diesem Zusammenhang wusste Theobald zu berichten, dass der Vorgänger der Frau von Fluck, Tiro von Drôlenhorst, vor etwa fünf Jahren in eben jener stillgelegten Silbermine auf der Jagd nach einer Bande von Räubern von diesen erschlagen worden war.

Hin und wieder machte er seine Begleiter auf abzweigende steinige Karrenpfade aufmerksam, auf die sie während ihrer Anreise kaum geachtet hatten und die zu kleinen befestigten Bergbaulagern führten, in denen die Grubenarbeiter - nicht mehr als ein halbes bis knappes Dutzend je Lager - unter recht einfachen Bedingungen untergebracht waren. Da Irinja häufig die zwei- bis dreimonatigen Erztransporte von dort nach Salthel oder Zollhaus eskortierte, wusste sie einiges von diesen abgelegenen Flecken zu berichten, die so blumige Namen trugen wie ‚Abgrundtiefloch‘, ‚Vielroth‘ oder ‚Pickelbruch‘. Die Bergleute, die hier hausten, stammten zumeist aus Neu-Dragenfeld, wohin sie in ihrer arbeitsfreien Zeit auch regelmäßig zurückkehrten, da dort ihre Familien lebten. Überhaupt war das ganze Dorf zum großen Teil auf die Unterhaltung und Versorgung dieser Lager ausgerichtet, stellten sie doch lange die einzige erwähnenswerte Einkommensquelle der Baronie dar. Erst nach der Anbindung an den neuen Sieben-Baronien-Weg und dem Aufkommen von regelmäßigem Handelsverkehr waren weitere Verdienstmöglichkeiten hinzugekommen, so dass die Bevölkerung seitdem sogar in bescheidenem Maß ein wenig gewachsen war. 

Nahrungsmittel indes wurden in Neu-Dragenfeld mit Ausnahme von etwas Fischfang im Orlbach kaum produziert. Theobald berichtete allerdings von den Plänen der Vögtin, die Fischerei alsbald auch auf den nahegelegenen Mironsee auszuweiten, da der stetige Zufluss an Frischwasser durch den, in den Ausläufern der Roten Sichel entspringenden, Orlbach dazu geführt habe, dass die Ödnis rund um das Gewässer schon seit einiger Zeit deutlich zurückgegangen sei. Ansonsten wurde nur im wenige Meilen nördlich von Burg Drôlenhorst gelegenen Örtchen Perainengrund mittlerweile wieder etwas Ackerbau auf einigen abschüssigen Feldern betrieben. Sogar einen Perainetempel gab es da und mit Hilfe der Geweihten gelang es den braven Bäuerlein tatsächlich seit einigen Jahren dem kargen Boden zumindest einen gewissen Teil des Getreidebedarfs der Baronie abzutrotzen.

Erst am frühen Nachmittag kamen ihnen die ersten anderen Reisenden entgegen: Ein kleiner Handelszug von vier Gespannen, der Eisenwaren von Uhdenberg nach Festum transportierte und der von einer Rotte berittener Söldner bewacht wurde. Nach kurzem ‚Woher‘ und ‚Wohin‘ trennten sich die Gruppen auch schon wieder und wenig später erreichten sie die Abzweigung nach Zollhaus, die sie jedoch rechterhand liegen ließen. Von nun an zog sich die Strecke südwärts hauptsächlich durch bewaldetes hügeliges Gebiet und wo es bisher immer wieder bergauf und -ab gegangen war, verlief der Weg jetzt konsequent talwärts. 

Hier trafen sie auf einen einzelnen fahrenden Trödler, der in die gleiche Richtung reiste wie sie und mit seinen zwei schwer beladenen Maultieren nach Runhag unterwegs war. Ein Stück des Weges legten sie nun zusammen mit dem geschwätzigen Händler zurück, wobei der sogleich die Gelegenheit ergriff, den hohen Herrschaften wortreich sein Sortiment an Krimskrams vorzuführen. Dabei erwies er sich als dermaßen geschickt und hartnäckig, dass Coran sich unversehens als stolzer Besitzer eines Paares kratziger Strümpfe, einer halb abgebrannten Stundenkerze sowie eines Beutelchens bunter Kiesel wiederfand. Außerdem sah sich Theobald genötigt, einen fingergroßen Anhänger aus geschnitztem Holz in Form eines flammenden Schwertes zu erstehen, den er anschließend mit großer Geste einer lachenden Elfwid als Geschenk überreichte. Erst nach Abschluss dieser Geschäfte ließ der tüchtige Phexensjünger seine Opfer weiterziehen und wünschte ihnen, ihre Großzügigkeit lobpreisend, eine von den Zwölfen gesegnete Reise.

Bald teilte sich die Straße erneut und während der Sieben-Baronien-Weg weiter nach Südwesten gen Salthel führte zog es die vier Reiter entlang des hier abgehenden alten Goblinpfades nach Osten, geradewegs in Richtung der Wüstenei. Der vor ihnen liegende Weg verlief nun zwar weitgehend eben auf dem Talboden, war allerdings deutlich weniger gut ausgebaut und aufgrund des seltenen Gebrauchs stellenweise stark zugewuchert und von Schlaglöchern übersäht. Lange mussten sie sich jedoch nicht quälen, kam doch nach wenigen Meilen und kurz vor Einbruch der Abenddämmerung endlich ihr Tagesziel in Sicht: Der Inquisitionsturm der Bannstrahler.


Jener Turm entpuppte sich als ein schmuckloser, dunkel dräuender Wehrbau, an dessen Spitze eine weiße, goldumrandete Fahne träge im Wind wehte und der zusammen mit ein paar Nebengebäuden von einer hohen Palisade umgeben war. Der Wald war rundherum gerodet worden und auf der freien Fläche waren in regelmäßigen Abständen schwere Feuerkörbe aufgestellt, so dass die Umgebung und vor allem der sich direkt am Turm vorbeischlängelnde Weg wohl auch nachts leidlich gut erhellt sein würde. Wie erwartet, meinten es die Praioten offenbar ernst mit der Überwachung des in die Ödnis hineinführenden Goblinpfads.

Als sich die Reiter weiter näherten, war ein langanhaltender Hornstoß zu vernehmen, vermutlich von einem aufmerksamen Wachposten im obersten Turmgeschoss, und als sie die Palisade kurz darauf erreichten, konnten sie hören, wie das Tor im Inneren entriegelt wurde, ohne dass sie rufend um Einlass hätten bitten müssen. Während sich das Tor gleich darauf langsam öffnete, beugte sich Theobald zu Coran hinüber: „Wenn Ihr nichts dagegen habt, werde ich das Reden übernehmen.“

Bevor der Angesprochene antworten konnte, war einer der Torflügel auch schon vollständig nach innen geschwungen und ein streng dreinblickender breitschultriger Mann von vielleicht fünfundzwanzig Jahren erwartete sie dahinter, flankiert von zwei leicht gerüsteten Waffenknechten. Er trug die klassische Tracht der Bannstrahler, eine weiße goldgesäumte Tunika über einem Kettenhemd sowie einen offenen Helm, und trat nun, die Linke locker auf den Knauf seines gegürteten Schwerts gelegt, hinaus. 

„Im Namen des Herrn des Lichts“, richtete er das Wort an die Gruppe. „Wer seid Ihr und was ist Euer Begehr?“

„Praios zum Gruße. Mein Name ist Theobald von Triggenfels, Kastellan Ihrer Hochgeboren Affra von Fluck. Wir sind in ihrem Auftrag unterwegs und bitten um Gastung für die kommende Nacht.“

Der Bannstrahler musterte sie noch einmal kurz und gab dann mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie hineinreiten sollten.

Auf dem kleinen Hof jenseits der Palisade brachten sie ihre Pferde schließlich zum Halten und stiegen ab, während sich hinter ihnen das Tor wieder schloss und ein paar Mägde und Knechte herbeieilten, um ihnen die Zügel abzunehmen. Neben dem alles überschattenden Turm fiel insbesondere ein kleines Steingebäude mit einer reliefüberzogenen Außenfassade und einem runden Buntglasfenster über der doppelflügigen Tür ins Auge, bei dem es sich um offenbar um eine Praioskapelle handelte. Im Eingang zum Turm waren derweil zwei weitere, ebenfalls in weiß gewandete Ordensmitglieder erschienen, die nun gemessenen Schrittes auf sie zukamen. Es handelte sich um eine großgewachsene Frau mit hochgestecktem Haarknoten, die etwa im selben Alter wie der Torwächter sein mochte, und einen wohl gut fünfundvierzig Jahre zählenden Mann mit Halbglatze und einer auffälligen Narbe im Gesicht, dessen Kettenhemd an den Säumen mit vergoldeten Ringen verziert war. 

„Der hat hier das Sagen“, raunte Irinja.

Der Bannstrahler, der sie am Tor empfangen hatte, trat an ihnen vorbei an die Seite seines älteren Ordensbruders und wechselte leise ein paar Worte mit ihm, bevor dieser sie mit zwar ernster Miene, jedoch in nicht gänzlich unfreundlichem Tonfall ansprach:

„Ich grüße Euch im Namen des Götterfürsten und seiner Schwester Travia. Ich bin Sigprandt Gnitzenheimer, Ritter des Bannstrahl Praios’, und Vorsteher dieses Postens. Was führt eine Gesandtschaft der Vögtin von Ingerimms Steg zu dieser Zeit in eine solch abgelegene Gegend?  Soweit ich weiß, steht keine Versorgungslieferung nach Dragenfeld an?“

Theobald machte einen Schritt nach vorn und blickte den Ordensritter lächelnd an. „Den Zwölfen zum Gruße. Meine Begleiter und ich sind auf Geheiß der Vögtin unterwegs, da ihre Hochgeboren von Fluck eine aktuelle Bestandsaufnahme der Zustände in ihren Ländereien wünscht.“ Die Worte ‚in ihren Ländereien‘ hatte der Triggenfelser besonders deutlich betont. „Falls Ihr Zweifel an meinen Befugnissen hegt, habe ich selbstverständlich ein entsprechendes, von ihrer Hochgeboren unterzeichnetes, Schreiben dabei.“ Geschickt nestelte er ein zusammengefaltetes Stück Papier aus einer Gürteltasche hervor und hielt es dem Bannstrahler entgegen.

Der runzelte die Stirn, nahm das Schriftstück aber an und reichte es an die große Frau neben sich weiter, die es aufschlug und zu lesen begann. 

„Und was für Zustände sollen das sein?“, wollte er dann wissen.

„Nun“, fuhr Theobald fort, scheinbar ohne sich von dem nunmehr strengen Ausdruck seines Gegenübers beeindrucken zu lassen, „gerade Ihr, die standhaften Wächter dieses Landstrichs, werdet bemerkt haben, dass sich Sumus Leib in den Gebieten östlich von hier in der letzten Zeit deutlich gewandelt hat – und zwar zum Guten. Dank der jahrelangen Bemühungen der Kirchen von Peraine und Tsa wird die Ödnis Schritt für Schritt zurückgedrängt. Der Wald breitet sich wieder aus. Da ist es doch verständlich, dass die praiosgewollte Herrin dieser Lande über den derzeitigen Stand der Dinge informiert sein möchte, schon allein, um an höherer Stelle auskunftsfähig zu sein. Daher werden wir morgen dorthin aufbrechen, um uns ein erstes Bild von diesem und jenem zu machen. Und bis dahin ersuchen wir darum, die Nacht unter Eurem Schutz verbringen zu dürfen.“

Der junge Triggenfelser überraschte Coran einmal mehr. Einem erfahrenen Bannstrahler dermaßen selbstbewusst gegenüberzutreten und sich dabei nicht zu verplappern, dazu gehörte schon was. Er vermutete, dass der tägliche Umgang mit der Fluck hierfür wahrscheinlich die beste Vorbereitung gewesen sein mochte. 

„So, so“, entgegnete Sigprandt gedehnt und ließ seinen eindringlichen Blick prüfend über die einzelnen Gruppenmitglieder schweifen, die sich alle Mühe gaben, ungerührt zu wirken. Der unangenehme Moment dauerte an und brach erst ab als seine Ordensschwester ihm das Begleitschreiben wieder aushändigte und mit einem Nicken andeutete, dass sie mit dessen Inhalt zufrieden war. 

„Selbstverständlich sind uns die Gefolgsleute der Vögtin von Fluck hier willkommen“, erklärte der Ritter und gab den Zettel an Theobald zurück. „Und selbstverständlich gewährt Euch der Orden vom Bannstrahl Praios’ seinen Schutz, sowohl in der kommenden Nacht als auch während der morgigen – wie nannten ihr es? – Bestandsaufnahme. Genauso wie es das Dekret der Kirche vorsieht.“

Er deutete knapp eine Verbeugung an. „Ich erwarte Euch bei Sonnenaufgang zur Morgenandacht.“
Dann drehte er sich auf dem Absatz um und marschierte wieder zurück in Richtung des Turms, dicht gefolgt von der Frau.

Anschließend wurde die Gruppe in einem der Nebengebäude untergebracht, einem Fachwerkhaus, das als Herberge für Durchreisende vorgesehen war. Es verfügte über einen Speiseraum sowie einen Schlafsaal, alles einfach möbliert und wenig heimelig, aber penibel sauber gehalten. Das Ordensgesinde bereitete ihnen ein einigermaßen schmackhaftes Abendmahl und da sich kein rechtes Gespräch entspannen wollte, begaben sie sich bald darauf zur Nachtruhe.

***

Am nächsten Morgen wurden sie früh geweckt und fanden sich, nach einem bescheidenen Frühstück, kurz vor der Dämmerung auf dem Hof ein – zusammen mit allen Ordensmitgliedern und Bediensteten. Man versammelte sich in einem Halbkreis um Ritter Siegprandt, der sich in der weit geöffneten Pforte der kleinen Praioskapelle aufgestellt hatte, so dass hinter ihm der weißgekalkte durch Kerzenschein erleuchtete Innenraum sowie der reich verzierte Altar zu sehen waren. Auch Coran und den anderen wurden Positionen in dem Rund zugewiesen und als kurz darauf dann die ersten Sonnenstrahlen den Horizont erhellten, begann der Vorsteher mit ausgebreiteten Armen das ‚Lied zum Lobe des Herrn Praios‘ in Bosparano zu intonieren, in das sämtliche Anwesenden miteinstimmten - wenn auch mit deutlichen Unterschieden, was Textsicherheit und Inbrunst anging. Nachdem mit der letzten Liedzeile „In tua luce Vanescit nox“ die Stimmen verklangen, wurden in knappem Kommandoton die Tagesaufgaben festgelegt und verteilt, wobei die große schweigsame Frau vom Vortag, Ordensknappin Dorntrud von Wellendamm, als Begleitung für die Gesandtschaft der Vögtin ausgewählt wurde.
  
Mit dem gemeinsamen ‚Gebet um innere Stärke‘ wurde die morgendliche Zusammenkunft schließlich beendet:

„Herre Praios, unbesiegter König der Sonne!
Hier stehe ich, in deinem Namen zu streiten und dein Werk zu tun.
Wappne meinen Geist gegen finstere Zauberei,
Erfülle mein Herz, dass es nicht wankt noch zweifelt,
Und führe meinen Arm, deine Feinde zu zerschmettern!
Es sei!“

Wenig später setzte sich die Reisegruppe, nun um eine wortkarge Bannstrahlerin angewachsen, in Richtung Osten wieder in Bewegung.

Sie kamen nur langsam voran. Der Weg war weiterhin schlecht und morgendlicher Bodennebel erschwerte das Vorankommen zusätzlich. Abgesehen davon machte sich die Nähe zur Wüstenei bemerkbar. Das Gelände veränderte sich mit jeder zurückgelegten Meile – zunächst fast unmerklich, bald aber unübersehbar. Der Wald lichtete sich und das Gehölz wirkte niedriger, weniger üppig. Es fehlten die knorrigen Baumriesen, die hohen alten Tannen und das ausgreifende Blätterdach betagter Laubbäume, die den Altenforst bisher ausgemacht hatten. Außerdem war der Boden zunehmend mit kahlen Stellen übersät, wo statt Gräsern und Wildblumen nur etwas Moos und ein pilzartiges Geflecht die karge Erde bedeckten. Das bisher allgegenwärtige Vogelgezwitscher und übliche Gewusel von Kleintieren im Unterholz nahm ebenfalls ab, wenn auch nicht vollständig.

Dennoch mutete die Landschaft nicht gänzlich niederdrückend an. Denn der Bewuchs, den es gab, schien gesund und aufstrebend, leuchtend grün und trotzig. Es war eine seltsame Mischung aus Trostlosigkeit und hoffnungsvollem Neuanfang, die die Umgebung ausmachte und die sich alsbald auch auf die Stimmung der Menschen niederschlug. Als sich nach etwa zwei Stunden dann – der Morgendunst hatte sich mittlerweile ganz verzogen – der Wald schließlich vollständig öffnete, meldete sich Irinja zu Wort: „Da vorn müsste es gleich kommen, hohe Herrschaften.“

Und tatsächlich: Kurz darauf kam linkerhand ein einzelnes freistehendes Gebäude in Sicht, oder eher: die Ruine eines solchen. Der Pfad führte direkt daran vorbei und während sie sich näherten, konnten sie erkennen, dass es sich um die Überreste eines recht geräumigen zweistöckigen Holzhauses handelte, hinter dem ein weitläufiges Areal von einem größtenteils zusammengefallenen Zaun eingefriedet war. Ein ebenfalls marodes Nebengebäude musste wohl einstmals als Stall gedient haben.

„War mal ne Herberge für Fuhrleute, glaub’ ich. Als hier noch was los war“, erklärte Irinja und zeigte am Haus vorbei den Hang hinauf nach Norden. „Nach Kressing geht’s dort entlang. Da war ich selber aber auch noch nicht.“

Sie nahmen die Ruine nur oberflächlich von außen in Augenschein, ohne sich die Mühe zu machen, dafür abzusteigen. Hier gab es nichts von Interesse zu entdecken. Also lenkte Coran sein Pferd kurzerhand in die von Irinja bezeichnete Richtung und trieb es mit festem Schenkeldruck die Steigung nach oben, vorbei an der überraschten Dorntrud, die bisher an der Spitze geritten war.

„Wir sollten den Weg nicht verlassen“, stieß die Bannstrahlerin alarmiert aus.  „Ich kann dort kaum für Eure Sicherheit bürgen.“

„Keine Sorge, wir sind vorsichtig“, entgegnete Theobald nur lächelnd und beeilte sich, Coran zu folgen. Elfwid und Irinja schlossen sich sogleich an und letztlich blieb auch der überrumpelten Ordensknappin nichts anderes übrig, als mit verdrießlicher Miene hinterher zu eilen. 

Zunächst ging es einigermaßen steil hangaufwärts, flachte nach ein paar hundert Schritt aber deutlich ab, um schließlich in eine ebene freie Fläche überzugehen, wo sich unvermittelt einige weitere, von jungen Bäumen umstandener Gebäude erhoben.  

Coran hielt an, um das Geisterdorf und die Umgebung eine Weile in Ruhe aus der Entfernung zu betrachten. 

Kressing – oder das, was davon übrig war – bestand scheinbar hauptsächlich aus einem guten Dutzend einfacher, mehrheitlich eingeschossiger Holzbauten, die fast alle in einem ähnlich erbärmlichen Zustand waren, wie die Herberge am Fuß des Hangs. Direkt hinter dieser Ansammlung von Ruinen allerdings ragte ein großes steinernes Gebäude auf, ein geschlossener Vierkanthof, der insgesamt einen durchaus wehrhaften Eindruck machte und der an einer Ecke gar einen wuchtigen Rundturm aufwies. Im Gegensatz zu allem anderen, wirkte das Gemäuer zudem auf den ersten Blick einigermaßen gut erhalten – auch wenn im Dach einige dunkle Löcher klafften, fast sämtliche Fensterläden aus ihren Rahmen gefallen waren und hier und da Stein und Putz von den Wänden bröckelte.

Etwas außerhalb, nahe des Waldrandes, befand sich außerdem ein weiteres Bauwerk, das aufgrund seiner Höhe und ungewöhnlichen Beschaffenheit ins Auge fiel: Ein grob kegelförmiges Gebilde mit abgeflachter Spitze und einem niedrigen langgezogenen Anbau. Coran hatte solcherart Gebäude schon zuvor in der Sichel gesehen, jedoch nur an Orten, an denen Bergbau betrieben wurde. Wenn er sich recht erinnerte, wurde sowas ‚Göpel‘ genannt und diente dazu, Erz und Abraum aus einem Minenschacht an die Oberfläche zu befördern. Coran kratzte sich am Kopf. Bis jetzt war nie die Rede davon gewesen, dass es in Kressing eine Grube gegeben hatte. 

„Das ist es also“, sagte Elfwid, die an die Seite ihres Vaters geritten war und ihm nun sanft eine Hand auf die Schulter legte.

„Ja“, antwortete er und lächelte sie an. „Dann lass uns mal schauen, was wir uns eingebrockt haben.“

***

Am Ende des nächsten Tages waren sie nach einer ereignislosen Rückreise endlich wieder auf Drôlenhorst angekommen. Die Begutachtung Kressings hatte etwa bis zum Nachmittag angedauert und im Anschluss hatten sie notgedrungen eine weitere Nacht bei den Bannstrahlern verbringen müssen. Die sichtlich düpierte Dorntrud von Wellendamm hatte keinen Zweifel daran gelassen, was sie von dieser Art der ‚Bestandsaufnahme‘ hielt und war nur schwer wieder zu beschwichtigen gewesen. Außerdem war Theobald nicht länger drumherum gekommen, ihr gegenüber einzuräumen, was der wahre Grund für die Besichtigung war und dass es für Kressing schon recht konkrete Pläne gab. Aus diesem Grund hatten sie sich bei ihrer Rückkehr am Inquisitionsturm einige unangenehme Fragen und Vorhaltungen durch Siegprandt Gnitzenheimer stellen müssen. Da war noch einiges zu klären.

Jetzt saß Coran erschöpft in seinem Burgzimmer, genoss ein heißes Fußbad und überflog noch einmal die Notizen und Skizzen, die er in Kressing mit Kohlestift in sein Feldbuch eingetragen hatte. 

Wie sich herausgestellt hatte, waren die meisten der Hütten, bis auf wenige Ausnahmen, tatsächlich nicht mehr zu retten. Ein paar immerhin waren jedoch noch so gut erhalten, dass man sie wohl wieder aufbauen konnte. Und mit den Überresten der übrigen Gebäude war auch erstmal genügend Material zur Ausbesserung vorhanden. 

Der Gutshof selbst war, wie bereits vermutet, an vielen Stellen ebenfalls reparaturbedürftig, jedoch grundsätzlich so unversehrt, dass Coran guter Dinge war, dort recht bald trocken und sicher mit Mann und Maus unterkommen zu können. Selbst der Brunnen im Innenhof war noch intakt und schien genießbares Wasser zu führen.

Etwas anders verhielt es sich da mit dem ‚Göpel‘, der, wie sie herausgefunden hatten, mitnichten der Förderung von Bodenschätzen diente, sondern der Verarbeitung von Holz. In dem eigentlich ganz passabel erhaltenen Gebäude hatten sie die Überbleibsel einer mechanischen Vorrichtung entdeckt, die, von Zugtieren angetrieben, eine große Gattersäge in Bewegung setzen konnte, um damit Baumstämme zu baufertigen Brettern und Balken zuzuschneiden – wenn sie denn funktionierte. Denn viele der metallenen Teile, wie Antriebsstangen, Zahnräder und Schrauben, waren verrostet oder gar gebrochen. Andere Komponenten, wie Seile und Lederriemen, schlicht vergammelt. Coran war allerdings einigermaßen zuversichtlich, dass sich das wieder richten ließ, zumindest mit entsprechend sachkundiger Hilfe. 

Zu guter Letzt hatten sie etwas abseits des Dorfes noch einen heruntergekommen, jedoch mit allerlei firungefälligen Schnitzereien verzierten, Unterstand entdeckt, der einen flachen Findling einfasste. Offensichtlich hatte es sich einmal um einen Schrein des Weißen Jägers gehandelt, doch Coran hegte seine Zweifel, dass nach so langer Zeit noch immer göttlicher Segen auf der Stätte lag.

Insgesamt also eine durchwachsene Bilanz. Zumal Coran nicht einschätzen konnte, wie es um die Fruchtbarkeit des Bodens bestellt war. Zwar grünte es in bescheidenem Umfang auch hier, doch ob sich dort Gemüse oder Getreide anbauen ließen, stand gewiss auf einem ganz anderen Blatt. Seufzend legte er die Kladde zu Seite und nahm seine Brille von der Nase. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum er sich das alles überhaupt antun wollte. Die Götter wussten, dass er kaum ein so großer Idealist war, wie er sich gegenüber der Fluck gegeben hatte. Er schloss die Augen und massierte mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel. 

Einmal mehr meinte er die Stimme Eberwulfs von Weißenstein zu hören: „Glaubt mir, Ihr seid nicht ohne Grund für diese Aufgabe ausgewählt worden.

***

Am nächsten Vormittag fanden sich Coran und Elfwid einmal mehr im Ingerimms Steger Thronsaal wieder – vor dem hochherrschaftlichen Sitzmöbel, auf dem es sich Affra von Fluck bequem gemacht hatte. Die Vögtin musterte ihren potenziellen Vasallen ganz unverhohlen, und er glaubte, in ihren Augen deutlich mehr Neugier funkeln zu sehen als noch beim letzten Zusammentreffen dieser Art. Die Höflichkeiten waren bereits ausgetauscht, sodass Affra nun endlich zu dem Punkt kommen konnte, der sie eigentlich interessierte.

„Und, Herr von Branghain“, hob sie mit einem feinen Lächeln an. „Wie ist der Stand der Dinge, nachdem Ihr Kressing mit eigenen Augen gesehen habt? Immer noch interessiert daran, Euch als Ritter auf diesem Gut niederzulassen und ihn zu einer neuen Heimat für glücklose Menschen zu machen? Oder seht Ihr Eure Zukunft nun doch eher anderswo?“

Coran erwiderte das Lächeln der Vögtin und hob in einer Geste der Schicksalsergebenheit seine Schultern. „Nun, Euer Hochgeboren, es mag sein, dass ich auf meine alten Tage einen gewissen Hang zur Sturheit entwickele, den weisere Menschen als töricht ansehen könnten, aber an meiner grundsätzlichen Entscheidung hat unser Besuch in Kressing nichts geändert. Und wie würde ich jetzt auch dastehen, nachdem ich vor zwei Tagen hier an dieser Stelle so große Töne gespuckt habe. Nein, ein UI Branghain steht zu seinem Wort.“

Elfwid verkniff sich ein Augenrollen, als ihr Vater das ‚ui‘ besonders betonte, das die Fluck – bei aller unterstellter Bösartigkeit vermutlich nicht mal absichtlich – unterschlagen und durch ein naheliegendes ‚von‘ ersetzt hatte. Wenigstens ritt ihr alter Herr nicht weiter darauf herum, sondern fuhr in seiner Rede fort.

„Ich muss jedoch zugeben, dass sich die Lage da unten vielleicht doch etwas heikler darstellt, als ich bisher angenommen hatte. Das Gute ist, dass wir jetzt einen Überblick über die Bedarfe haben und entsprechend planen können. Ich habe mir auch schon Gedanken gemacht und da ich Eure Zeit nicht vergeuden will, werde ich nicht lange um den heißen Brei herumreden und geradeheraus darstellen, inwieweit wir meiner Einschätzung nach auch auf Eure Unterstützung angewiesen sein werden. Ihr gestattet?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, zog Coran sein Feldhandbuch unter dem Gürtel hervor, schlug es auf und suchte mit dem Zeigefinger die entsprechenden Notizen, was ihm ohne Augengläser einigermaßen schwerfiel. Als er kurz darauf wieder zu sprechen anhob, war der altgediente Offizier jedoch offenbar ganz in seinem Element. Alle Anwesenden fühlten sich unvermittelt in die Stabsbesprechung eines Heerzugs versetzt, da Coran sogleich in einen abgehackten knapp-präzisen Militärjargon verfiel, mit dem er seine Überlegungen dozierte.
„Zunächst das offensichtlichste Problem: Die Versorgung mit Nahrungsmitteln. Mir fehlt hier das ausreichende Fachwissen, doch gehe ich davon aus, dass der Boden in Kressing so nahe an der Wüstenei in absehbarer Zeit keine ausreichenden Früchte hervorbringen wird, um als Lebensgrundlage für die Bewohner dienen zu können. Ich rechne im Übrigen am Anfang mit etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Personen einschließlich Kindern. Schlussfolgerung: Lieferungen von außen werden über einen längeren Zeitraum notwendig sein, etwas, was auf Dauer finanziell nicht aus eigener Kraft gestemmt werden kann. Um hier auf lange Sicht Abhilfe zu schaffen scheint mir die Hinzuziehung eines Perainetempels ratsam. Außerdem wären landwirtschaftliche Kenntnisse bei denen, die Ihr nach Kressing umzusiedeln gedenkt, von großem Nutzen, da die Leute, die ich mitbringen werde, darin wenig beschlagen sind. Abgesehen davon wird, aufgrund des kargen Untergrunds, auch Viehhaltung in größerem Maße kaum in Frage kommen – mit Ausnahme von ein paar Schweinen und Hühnern möglicherweise.“

„Ziegen“, warf die Vögtin ein, als Coran einen Moment innehielt, um Luft zu holen. Den fragenden Blick, den er ihr daraufhin zuwarf, quittierte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. Offenbar wollte sie ihm klarmachen, dass es nur eine Anmerkung und keine Aufforderung er zur Diskussion sein sollte. Sie fügte dann zwar noch ein knappes „Sind sehr genügsam“ an, bedeutete dem Albernier aber, dass er fortfahren sollte.

Coran leckte daraufhin seinen Daumen an und blätterte eine Seite weiter. „Die Frage der Unterbringung hingegen sollte vorerst keine Schwierigkeiten bereiten. Der Gutshof selbst ist groß genug und in einem so passablen Zustand, dass dort zunächst alle Menschen und Tiere einigermaßen annehmbar und sicher einquartiert werden können. Erforderliche Instandsetzungen sollten binnen weniger Wochen mit eigenen Mitteln zu bewerkstelligen sein. Zudem ist die Wasserversorgung durch einen Brunnen gewährleistet. In folgenden Zügen können dann weitere Wohngebäude, sowie Ställe und Zäune, gegebenenfalls Palisaden, je nach anstehendem Bedarf, wieder hergerichtet beziehungsweise neu gebaut werden. Das Holz dafür ist grundsätzlich in ausreichendem Maße vorhanden, was mich direkt zum nächsten Punkt führt.“

Wieder blätterte der Branghainer um. „Offensichtlich beruhte Kressings Dasein in der Vergangenheit vor allem auf der Forstwirtschaft. Dafür sprechen die Lage und das Vorhandensein eines kleinen Sägewerks – Ingerimm sei gepriesen. Es macht kaum Sinn, daran etwas zu ändern, zumal Alternativen nicht ersichtlich sind und meine Leute mit dieser Art Arbeit grundsätzlich etwas Erfahrung haben. Bedauerlicherweise sind an der Mechanik des Sägewerks komplizierte und somit wohl kostspielige Reparaturen erforderlich. Ich bin jedoch davon überzeugt, der Vorteil, in Zukunft bereits zugesägtes Bauholz anstatt roher Baumstämme liefern zu können, wird auf Dauer diese finanziellen Anstrengungen überwiegen. Ein weiteres Problem stellt in diesem Zusammenhang der Zustand des Altenforsts im Lehensgebiet von Kressing selbst dar. Der Wald hat sich dort zwar bis zu einem gewissen Grad erholt, ist aber meiner Einschätzung nach bei weitem noch nicht in einer Verfassung, die eine wirtschaftliche Abholzung zulässt. Hier bedürfte es einer Erlaubnis, die älteren Bestände westlich und nördlich von Kressing, wo die Auswirkungen der Wüstenei nie in diesem Maße zu spüren waren, auf den der Baronie zugehörigen Gebieten fällen und verarbeiten zu dürfen. 

Schließlich klappte Coran sein Buch zu und blickte wieder auf. „Soweit ein erster Überblick über die Kernfragen.“ Er seufzte leise. „Und dann wäre da noch die Sache mit den Bannstrahlern über die wir ja schon gesprochen haben.“
Affra hatte dem kleinen Vortrag gelauscht, ohne eine Miene zu verziehen – nur hin und wieder mal dem Schreiber an ihrer Seite einen knappen Wink gegeben, der daraufhin notierte, was auch immer Coran gerade zum Besten gab. Die Vögtin ließ sich nicht anmerken, ob die Beschreibung des Gutes in etwa dem entsprach, was sie sich vorgestellt hatte, oder ob sie in positiver beziehungsweise negativer Weise davon abwich.

Nachdem der Branghainer geendet hatte, überlegte sie einen Moment und wandte sich erst einmal an den Schreiber: „Wir fragen in Zollhaus, ob sie da jemanden haben, der sich den Göpel hier mal anschauen kann. Nach allem, was man so hört, haben die Dälckensteins Ahnung von dem Gewerk, das ihnen das ganze Geld in die Kassen spült. Wenn ein Fachmann vor Ort ist und einen Blick auf das Sägewerk wirft, wird er uns ja vermutlich sagen können, wie viel es kosten würde, das Ganze wieder instand zu setzen.“

Sie wartete, bis der Schreiber mit seiner Notiz fertig war, richtete den Blick dann auf Coran und fragte: „Ich habe gehört, dass die Reaktion sauertöpfisch ausgefallen ist: Das war nicht anders zu erwarten. Was wollt Ihr mir zu dieser Sache denn sagen, Hoher Herr?“ 

Corans Züge nahmen einen leicht gequälten Ausdruck an. „Nun, wie wir bereits ahnten, gehen die Ordensleute weiterhin fest davon aus, dass Kressing sich ganz und gar auf jenem Gebiet befindet, für dessen Schutz sie per kirchlichem Dekret zuständig sind – ungeachtet der tatsächlichen Zustände dort. Und solange von höherer Stelle keine andere Regelung erlassen wird, werden sie sicherlich auch weiterhin diesem Credo entsprechend handeln. Ich gehe zwar nicht davon aus, dass sie versuchen werden, die Besiedlung selbst irgendwie zu verhindern, aber den generellen Zugang ins Kressinger Gebiet werden sie mit Sicherheit, nun ja, verkomplizieren. Ich sehe schon, dass dringend benötigte Vorratslieferungen wenige Meilen vor Kressing abgewiesen werden, weil den Geißlern dann eben dieses oder jenes Schriftstück als Erlaubnis zum Betreten der Wüstenei nicht ausreicht.“ 

„Hmhum“, machte Affra leise und stierte danach einen Moment schweigend ins Leere. „Es wird ein Geduldsspiel, ich denke, das wissen wir alle. Die Frage ist, ob sie ein dermaßen striktes Vorgehen ewig durchhalten können, oder ob ihnen das nicht auch irgendwann zu blöd wird. Ob dann nicht doch endlich andere Lösungen gefunden werden – wie zum Beispiel Passierscheine für bestimmte Personen, die den gleichen Weg immer und immer wieder beschreiten. Oder ... im Zweifel ...“, sie hielt inne, um Coran einen stählernen Blick zuzuwerfen, „... ob sie sich wirklich dazu versteigen, Menschen gewaltsam aufzuhalten, die nach Kressing reisen wollen, um die Einwohner mit Waren zu versorgen, von denen ihr Leben abhängt. Das könnte Folgen haben, die nicht einmal die Kirche des Götterfürsten in Kauf nehmen möchte. Bei aller Korrektheit.“

Obwohl das relativ spektakuläre Worte waren, zuckte die Vögtin nicht mit der Wimper, sondern begann nach einer weiteren kurzen Pause sogar kühl zu lächeln. „Ich denke, ich werde Kontakt mit Salthel aufnehmen. Wir brauchen ja ohnehin einen Priester, der Euren Lehnseid bezeugt und segnet“, meinte sie dann. Der irritierte Blick, den ihr Theobald nach dieser Feststellung zuwarf, ließ vermuten, dass das auch in Ingerimms Steg nicht unbedingt dem üblichen Vorgehen bei der Vergabe einfacher Rittergüter entsprach. Er machte aber keine Anstalten, sich dazu zu äußern, und hätte es wahrscheinlich eh nicht geschafft, denn Affra sprach weiter, als wäre nichts gewesen.

„Eines der größten Probleme in dieser Sache hat sich ja mittlerweile dank der rasenden Irren in Rotenforst eh erledigt“, meinte sie. Auf Corans fragenden Blick reagierte die Vögtin mit einem freudlosen Auflachen: „Hensgar von Salthel, der Praioshochgeweihte der Grafenstadt, ist vor ein paar Götterläufen ... nun ja, wegbefördert worden. Die Stelle war eine ganze Zeit lang vakant, aber wenn ich es richtig verstanden habe, wurde sie kürzlich neu besetzt. Mit einem noch recht jungen Priester aus Greifenfurt. Nach allem, was man so hört, wird dort eine recht pragmatische Herangehensweise gepflegt. Unsere Chancen stehen also gut, dass wir es nicht wieder mit einem engstirnigen Fanatiker zu tun bekommen, der nicht in der Lage ist, über die Grenzen seines eigenen Tempels hinaus zu schauen und zu denken.“

Coran nickte bedächtig, während er sich die Worte der Fluck durch den Kopf gehen ließ. „Das klingt nach einem Plan“, entgegnete er schließlich. „Je früher wir die Sache ins Rollen bringen umso besser. Und um die Einzelheiten einer neuen Regelung können wir uns sicher dann kümmern. Ich werde mir bis dahin aber Gedanken dazu machen und mir in Trallop gegebenenfalls noch den einen oder anderen Rat einholen.  Ich hoffe, wir können diesem Priester die Dringlichkeit des Ganzen vermitteln. Bis nämlich letztendlich alles formell beschlossen und bestätigt ist, wird noch einiges Wasser den Großen Fluss hinabfließen. Wenn ich eins in meinen Jahren in der herzöglichen Kanzlei gelernt habe, dann, dass die Mühlen der Bürokratie langsam mahlen. Und bis es so weit ist, müssen wir uns mit den Bannstrahlern eben arrangieren so gut es geht.“ 

Er atmete einmal tief durch, einigermaßen erleichtert, da sich wenigstens bei diesem Problem der Ansatz einer Lösung am Horizont abzeichnete. Und dann wurde ihm schlagartig klar, was die Vögtin soeben außerdem – ganz beiläufig in einem Nebensatz – erwähnt hatte: seinen Lehnseid. Bisher hatte sie so deutlich nämlich noch nicht verlauten lassen, dass sie ihn tatsächlich als ihren Vasallen akzeptierte.

„Ähm, wenn Ihr mir erlaubt, Euer Hochgeboren, so kann ich also aus Euren Worten schließen, dass Ihr letztlich gewillt seid, mir Kressing zu überantworten?“ 

Affra starrte Coran nach dieser Frage schweigend an und verzog dabei zunächst keine Miene. Es dauerte eine Weile, bis sich ein schmales Lächeln auf ihre Lippen schlich, das irgendwie ironisch wirkte. „Es scheint dem Herrn Kanzler sehr daran gelegen zu sein, Euch hier unterzubringen, Hoher Herr. Und ich habe weder Zeit noch Lust, mich mit ihm auseinanderzusetzen“, meinte sie dann. „Offenbar kennt Ihr ihn ja ganz gut, also wisst Ihr sicher, wie nervig der Mann werden kann, wenn er sich ein Ziel gesetzt hat. Nein danke! Abgesehen davon ... .“

Die Vögtin hielt kurz inne und unterzog Coran erneut einer kritischen Musterung. „Ich sehe aber auch wenig, was dagegen sprechen würde, Euch zu belehnen. Offenbar ist Euer Kopf nicht nur zur Zierde da, sondern Ihr könnt halbwegs geradeaus denken. Noch dazu besitzt ihr nicht nur eine Kladde, sondern wisst sogar, wie man darin sinnvoll schreibt. Das kann man bei weitem nicht von jedem Weidener behaupten. Sorgfalt ist mir wichtig. Genau wie Pflichtbewusstsein und Loyalität. Ich vermute, als ehemaliger Offizier könnt Ihr mit beiden Begriffen etwas anfangen. Also ja, ich werde Euch Kressing überantworten. Was denkt Ihr denn, wie viel Zeit es brauchen wird, bis Ihr wieder hierher zurückkehren könnt?“

„Ich bin froh, dass Ihr Euch zu dieser Entscheidung habt durchringen können. Ich werde mein Bestes geben, auf dass Ihr sie nicht bereut.“ Coran wirkte erleichtert, als er in Reaktion auf die Aussage der Vögtin sein Haupt ein wenig beugte. Auch wenn sie schon seit einer Weile recht konkret darüber beratschlagten, wie es mit Kressing weitergehen könnte, war er sich bis eben nicht sicher gewesen, ob die Fluck ihn tatsächlich mit ins Boot holen oder ihn letztlich mit einem müden Wink hinausschmeißen lassen würde. Und das mit dem Kopf und der Kladde nahm er einfach mal als Kompliment. Mehr konnte er kaum erwarten.

„Ich rechne damit, dass ich etwa in drei oder vier Wochen in Trallop alles geregelt haben werde und mit Sack und Pack aufbrechen kann“, entgegnete er auf Affras abschließende Frage. „Wir sollten nicht trödeln und die warmen Monde so gut es geht nutzen, um Kressing winterfest zu machen. Vorräte für die erste Zeit habe ich schnell verfügbar, die nötige Ausrüstung ebenso. Letztlich muss ich nur meinen Leuten Beine machen.“

„Gut, dann lasst Euch nicht aufhalten“, meinte Affra daraufhin. „Macht Ihr Euren Leuten Beine und wir schauen unterdessen, dass wir hier in Ingerimms Steg alles Notwendige in die Wege leiten. Wir hatten ja schon darüber gesprochen, was Ihr von uns braucht.“ Nachdem das gesagt war, hielt die Vögtin kurz inne, um noch einmal in sich zu gehen. Sie schien zu überlegen, ob sie irgendetwas vergessen hatte – und zu dem Schluss zu gelangen, dass das nicht der Fall war. „Ich denke, damit ist alles gesagt“, fügte sie schließlich an. „Ich wünsche Euch in Trallop viel Erfolg. Mögen die Götter mit Euch sein.“

***

Die Branghains verließen die Burg früh am nächsten Morgen. Der Rest des Vortages war dann doch noch mit Besprechungen und kleinteiligen Planungen ausgefüllt gewesen, die die Vögtin allerdings ihrem Kastellan überlassen hatte.  

Jetzt ritten der zukünftige Herr von Kressing und seine Tochter im Licht der ersten Praiosstrahlen einmal mehr gen Westen ohne zu ahnen, dass ihnen aus einem der höchstgelegenen Fenster von Drôlenhorst zwei kalte Augen nachblickten. Lippen verzogen sich zu einem abschätzigen Lächeln. 

„Dann haben wir also eine neue Figur auf dem Spielfeld.“