Dramatis Personae

 

Neulich in der Sichelwacht: Tee und Träume

Feste Aarkopf, Grafenstadt Salthel, Mitte Boron 1040 BF

Nicht doch!

Nicht auch noch hier!

Als hätte sie in den vergangenen Götterläufen nicht bereits mehr als genug Gedanken an diesen vermaledeiten Ort verschwendet. Als wäre sie nicht sogar zweimal hergereist, um die ganzen fruchtlosen Bemühungen von der geistigen auf die körperliche Ebene zu heben – in der vagen Hoffnung auf Erkenntnisse, die sich einfach nicht einstellen wollten. Auf Wissen, das es hier vermutlich schlicht nicht zu erringen gab. Egal, wie genau sie hinsah. Wie sie es auch drehte und wendete. Weil dies eben kein Ort war, an dem man etwas über das Leben lernen konnte. Und schon gleich gar nicht darüber, wie es sich verlängern ließ.

Osbirg brummte unzufrieden.

Sie stand in nächtlicher Schwärze. Über ihr der sternenklare Himmel. Um sie herum Luft, die nach Stillstand roch und sonst nach nichts. Unter ihren nackten Füßen Sand. Sand und Staub. Und Tod. Und Verderben. Sie drehte sich einmal um die eigene Achse, ballte die Hände zu Fäusten und verfluchte ihr hinterfotziges Unterbewusstsein dafür, sie aus irgendeinem Gund ausgerechnet hierher geführt zu haben. Zurück in die Wüstenei. Dieses Drecksloch, dem sie längst für alle Zeiten den Rücken gekehrt hätte, wenn Xabrasil sich nicht in es verbissen hätte wie ein Saupacker mit Maulsperre. Er kehrte in seinen Überlegungen immer wieder hierher zurück und zerrte sie jedes Mal mit sich.

„Nicht, wonach ich suche!“, zischte Osbirg. „Ich will einfach nur meine Ruhe! Wenn du mich stattdessen mit Visionen quälst, gib mir wenigstens was, womit ich arbeiten kann!“

Während sie das sagte, fiel ihr Blick auf ferne Bergkuppen, die sich schroff gegen das Licht des Madamals abzeichneten. Davor Baumwipfel. Legionen von Baumwipfeln. Der Altenfrost, in den vor bald 25 Jahren mittels unheiliger Magie eine Zone des Verderbens gehauen worden war. Der unwiderstehlichen kosmischen Kräften hatte weichen müssen. Den es seit einiger Zeit aber offensichtlich danach dürstete, das Land wieder in Besitz zu nehmen. Nein, ihn dürstete nicht nur, sondern er tat es auch! In seinem ganz eigenen Tempo allerdings. Mit einer Geduld, über die nur Bäume verfügten. Und Berge. Flüsse. Die Haare Sumus. Ihre Glieder. Ihre Tränen.

„Das weiß ich doch alles schon.“ Osbirg schürzte die Lippen. „Gib mir was Neues!“

Dass die Spenderin allen Lebens einen toten Fleck zwischen den Leibern ihrer gefallenen Töchter nicht auf Dauer hinnehmen wollte, war keine Überraschung. Göttin, selbst der beschränkte Magus, mit dem sie sich ständig abgeben musste, hatte das von Anfang an geahnt. Nur brachte ihnen dieses Wissen nichts. Sie konnten sich die Kraft der Erde nicht zunutze machen. Es gab in der Sichelwacht eben keinen Quell des Lebens, der Jugend für welke Kreaturen spendete. Sie konnten auch schwerlich eine dämonische Nadel in den Boden rammen, um zu rauben, was nicht frei herausgegeben wurde. Schon weil das gegen alles sprach, woran Osbirg glaubte. Der Gedanke, sich eine Eigeborene Hexe zu schnappen, um ihre Unsterblichkeit zu rauben und auf den Sichelgrafen zu übertragen, erheiterte sie hingegen ungemein – aber in der Praxis wäre die Umsetzung extrem gefährlich gewesen. Der Ausgang noch dazu ungewiss und die Sache das Risiko somit nicht wert. Sich stattdessen eines anderen unsterblichen Wesens zu bemächtigen, eines Tierkönigs etwa ...

„Nein. Nein!“, ermahnte sie sich selbst. „NEIN!“

Osbirg schloss die Augen und atmete tief durch. Ihnen rannte die Zeit davon. Bunsenhold hatte, vor Jahren schon, ein Bild erworben, das an seiner statt alterte, während er einfach blieb, wie er war. Der Zauber würde aber nicht ewig andauern. Weniger als zwei Winter blieben ihnen, um eine andere Art zu finden, den alten Mann am Leben zu halten. Und wenn sie versagten, würde er voraussichtlich einfach zu Staub zerfallen, weil er ohne die Magie des Gemäldes längst gestorben wäre. Sie wusste, dass Xabrasil Wochen ... ach was: Monate mit dem Studium des „Kunstwerks“ zugebracht hatte, aber wenn er versuchte, sein Wissen zu teilen, setzte ihr Gehirn meist aus. Zu viel Geschwurbel, das! Kopflastiger Unsinn! Sie brauchten etwas anderes als diese graue Theorie, etwas Greifbares ...

Osbirg atmete erneut durch und öffnete die Augen, nur um sofort irritiert innezuhalten und sie zusammenzukneifen.

Da war doch was?!

Am Rande des stillen Waldes meinte sie eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Und ein schwaches Leuchten. Grünlich ... ?! Sie wollte nähertreten, bemerkte dann aber: Das war gar nicht nötig, denn das Licht bewegte sich in ihre Richtung. In die Wüstenei hinein. Es dauerte nur ein paar Herzschläge, bis Osbirg eine entfernt menschenähnliche Gestalt erkannte. Wobei ... schratähnlich traf es eher! Ein übermannhohes, dürres Wesen, mit Armen, die viel zu lang waren. Und viel zu spitzen, knorrigen Fingern. Mit grünlich-brauner Haut, wenn es denn wirklich Haut war, was sich da ledrig über klar erkennbare Knochen oder ... na, Strünke spannte. Aus den Schultern wuchs weiches, sattgrünes Moos hervor und der grotesk breite Kopf, der zu beiden Seiten hin spitz auslief, wurde von dünnen, langen Haaren umweht. Fein wie Gespinst, im Schein des Madamals silbrig schimmernd.

Osbirg starrte ungläubig. Was bei allen Geistern und Dämonen war das?

Während sie in Gedanken eine Reihe von Sichler Sagengestalten durchging, deren Aussehen grob passen könnte, fiel ihr Blick auf zwei große, kreisrunde Höhlen, in denen keine Augäpfel saßen, dafür aber zwei grüne Lichtflecken glosten. Dazu Gesichtszüge, die entfernt an einen mumifizierten Schädel erinnerten – eine Schönheit war dieses Wesen wahrlich nicht!

Osbirgs Fokus richtete sich auf dessen Leibesmitte und nahm auch dort ein Leuchten wahr. Größer, vor allem aber heller als im Kopf. Außerdem sah sie lange, moosige Flechten, die wie Fetzen eines zerrissenen Umhangs vom dürren Leib der Kreatur hinab hingen und ... irgendwie mit dem Boden verwachsen schienen? Sie bewegten sich aber dennoch mit ihr. Genau wie ein Teppich aus kleinen Pilzen, Flechten und unscheinbaren Blümchen mit fleischigen Blättern: Sie bildeten sich unter den Füßen des Wesens, reiften heran und vergingen wieder, sobald sie aus seinem Dunstkreis gerieten.

Leben? Der genügsamsten und widerstandsfähigsten Art, ja. Aber hier in der Wüstenei? Ohne andere Pflanzen, mit denen es eine Gemeinschaft bilden konnte? Wie?

Die Kreatur war mittlerweile lautlos an ihr vorbeigeschritten und Osbirg nahm die Verfolgung auf. Sie folgte ihr bis zu einem Fleckchen Wüste, an dem sich die Äste einiger toter Bäume wie verzweifelte Finger gen Himmel reckten. Im Todeskampf erstarrt, als sie das Unglück seinerzeit traf. Ihr fielen außerdem die Gerippe einiger Sträucher auf und irgendwo in der Nähe schien Wasser zu plätschern. Das Wesen blieb stehen und Osbirg trat an es heran, sodass sie ganz aus der Nähe beobachten konnte, was als nächstes geschah: Wie es seine klauenähnlichen, nadelspitzen Finger in den eigenen, grün leuchtenden Bauch hinein rammte und nach kurzem Innehalten etwas zutage förderte. Etwas ...

Ein Ei ... ?

Osbirg kniff die Augen erneut zusammen. Ja, das war in der Tat ein Ei. Ein großes, lilafarbenes Ei mit grünen Äderchen, die zu pulsieren schienen. Keine harte Schale wie bei einem Huhn also. Eher ledrig und weich, wie ... bei einer Schlange vielleicht? Bei einer Eidechse ... ? Oder auch ... bei einem Hexenei. Demjenigen, aus dem am Ende ein Pilz entsprang und keine Menschin, wohlgemerkt. Nur größer. So groß, dass die Kreatur es gerade eben in der Hand bergen konnte, es mit den langen Fingern vorsichtig umschließen. Was sie just tat, nur um sich anschließend hinzuhocken und Hand samt Ei in den sandigen Boden hinein zu bohren. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung. Vollkommen mühelos. Dann stand sie auch schon wieder aufrecht, reckte sich zu voller Größe und legte den Kopf in den Nacken, um einen Schrei auszustoßen.

Einen stummen Schrei.

Kein Laut entwich ihrem Maul, dafür aber Myriaden von Sporen, die im Schein des Madamals wie ein silbrig schimmernder Schwarm winziger Insekten durch die Luft schwirrten. Erst auf- und dann taumelnd, schwebend ... tanzend wieder abwärts. Der Erde entgegen. Den toten Resten, die davon an diesem traurigen Ort noch übrig waren. Die aber nicht mehr lange so tot bleiben würden. Davon war Osbirg überzeugt.

Sie hatte genug gesehen. Ein letztes Mal senkte sie die Lider, atmete tief durch und beorderte ihren Geist auf den Rückweg.

Als sie die Augen wieder öffnete, stand sie nicht mehr in der Wüstenei, sondern saß in ihrer heimischen Hexenküche. An der verloschenen Feuerstelle. Vor Kälte zitternd. Gänzlich allein. Mit einer irdenen Tasse in den Händen. Den Resten des Stechapfeltees, den sie eigentlich getrunken hatte, um Zerstreuung in einem ganz anderen Reich der Träume zu finden. Ohne Gesichte. Wer hätte auch ahnen können, dass höhere Mächte ausgerechnet heute bereit sein würden, Wissen mit ihr zu teilen?

Und was für welches?!

Das Reißen in ihren steifen Gliedern tapfer ignorierend erhob sich Osbirg. Auf dem Weg nach draußen warf sie sich noch rasch einen dicken Umhang aus Loden über. Sie hatte keine Ahnung, wie lange die Vision ihren Geist gefangen gehalten hatte. Welcher Tag es war. Wie spät es war. Aber sie wusste: Sie musste darüber reden.

Jetzt sofort!

***

Osbirg seufzte schwer, als Xabrasil einen dicken Wälzer vor ihr auf den Tisch knallte und wie wild darin zu blättern begann. War ja klar gewesen, dass das passieren würde! Sie erzählte ihm von den Erkenntnissen, die die Mutter allen Lebens ihr just offenbart hatte – in den schillerndsten Farben und noch immer tief ergriffen vom Erlebten, wohlgemerkt – und ihm fiel nicht besseres ein, als einen Haufen wertloses Pergament herbeizuschaffen, um dort nach Wahrheiten zu suchen, die er zweifelsohne besser im Gespräch mit ihr gefunden hätte.

Bestimmt stand er kurz davor, den Hauch ihrer göttlichen Eingebung zu profanisieren, indem er damit anfing, alles zu analysieren, in seine Einzelteile zu zerlegen und dann zu behaupten, dass es eine ganz einfache Erklärung dafür gab.

„So was hier?“, fragte der Magus, während er mit dem mit dem Zeigefinger triumphierend auf ein Bild tippte, das er aufgetan hatte.

Osbirg neigte sich vor, um einen pflichtschuldigen Blick darauf zu werfen und runzelte dann irritiert die Stirn: „Das ist ein Waldschrat, Xabrasil!“

„Ja, genau!“

„Warum zeigst du mir das Bild eines Waldschrats? Hast du überhaupt zugehört?“

Er richtete sich auf und sah sie verwirrt an.

Osbirg konnte sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen, denn sie hatte den Brabaker noch nie in einem derart derangierten Zustand zu sehen bekommen: Der Morgenmantel war schief und notdürftig zugebunden, sodass ein seidenes Nachthemd darunter hervorblitzte, sein Gesicht wirkte aschfahl, die Augen waren winzig und die Haare standen in wildem Chaos von seinem Kopf ab. Sie hatte ihn aus dem Schlaf gerissen, aus dem Bett gezerrt und offenbar war sein Geist weit von der Klarheit entfernt, mit der er normalerweise arbeitete. Anders war das alles hier einfach nicht zu erklären.

„Sicher habe ich dir zugehört“, hob er jetzt an. „Ein Wesen, auf dem Moos und Flechten wa...“

„Herrinje, was ... glaubst du denn, ich würde einen Baumschrat nicht erkennen, wenn ich direkt vor ihm stehe? Ich habe in meinem Leben schon einige gesehen, also ko...“

„Was? Du hast? Im Ernst? Das ist ja ... spektakulär!“

„Geister, gebt mir Langmut!“, Osbirg seufzte erneut. Noch schwerer diesmal. „Das ist das Problem mit euch Sesselfurzern: Ihr wisst nur, was in euren Büchern steht, habt aber keine Ahnung vom wahren Leben!“

„Pffft“, machte der Magus und verzog den Mund zu einem geringschätzigen Strich. „Nach allem, was ich eben gehört habe, bist du in dieser Sache genauso ahnungslos wie ich! Und das obwohl es allenthalben heißt, du wärst die Koryphäe auf dem Gebiet der Clairvoyance, Prophetie und Traumdeutung hier am Hof. Dann her mit deiner Theorie!“

„Ich weiß zumindest wie ein Baumhirte aussieht und dass das in meiner Vision keiner war“, schoss sie zurück. „Wenn, dann ist das ein ... /Pilzschrat/ gewesen, obwohl ich von so was noch nie gehört habe. Vielleicht ... eher ein Feenwesen. Oder der schratige Diener eines Feenwesens, das lila Eier legt. Oder etwas ganz anderes. Es muss auf dieser Bewusstseinsebene ja noch nicht mal so aussehen, wie es mir in der Vision erschienen ist. Einerlei: Der Altenfrost ist alt, wie sein Name schon sagt. In ihm hausen etliche Kreaturen, über die selbst meine Schwestern kaum etwas wissen, da brauchst du in deinen albernen Büchern gar nicht erst mit Suchen anfangen!“

„Die sind nicht albern“, brummte Xabrasil stur, während er das Blättern wieder aufnahm und zu Protokoll gab, was er dabei sah. „Felsschrat ... Höhlenschrat ... Vulkanschrat ... Wühlschrat ... . Hier steht nichts von einem Pilzschrat!“

„Sag ich doch! Jetzt hör halt endlich auf, in das dumme Ding da reinzugucken und sieh lieber mich an. Rede mit mir! Herrinje, das ist schrecklich mit dir. Seid ihr Gildenknilche alle so vernagelt? Ich bin hier die Quelle. Wenn du nach Erkenntnis trachtest, wirst du sie in diesem Fall leider nur über mich finden!“

„Feenwesen wäre gut“, murmelte der Brabaker, während er den Blick von seinem Buch löste, um ins Leere zu starren. „Die haben oft eine sehr lange Lebensspanne und durch die Verbindung zu ihren Globulen, in denen die Zeit anders läuft, gibt e...“

„Wir lassen das Wesen Wesen sein!“, fiel Osbirg ihm ins Wort.

Jetzt endlich sah er ihr in die Augen. Und hob dabei zweifelnd die Brauen.

„Keine Diskussionen! Vielleicht ist es das einzige seiner Art und die Aufgabe, die es erfüllt, erscheint mir viel zu wichtig, als dass wir sein Leben aufs Spiel setzen könnten, gleich für wen!“, meinte sie entschieden. „Wir holen uns eins von diesen Eiern. Wenn in denen genug Kraft steckt, um kleine Flecken Erde in der Wüstenei wiederzubeleben, dann reicht es sicher auch für Bunsenhold. Vielleicht kann ich es als besonders potente Ingredienz für einen Trunk verwenden. Oder du kannst ein Artefakt erschaffen, das sich aus ihm speist ...“

Aus Zweifel schien auf einen Schlag so etwas wie milde Anerkennung zu werden, während Xabrasil amüsiert die Lippen schürzte: „Hast du gerade ‚Ingredienz‘ gesagt, geschätzte Kollegin? Und ‚potent‘? Sollte es mir etwa doch noch gelingen, dir etwas Bildung einzubläuen?“

„Schnickschnack!“, fuhr Osbirg auf. Xabrasil quittierte das mit einem leisen Lachen und sie hob mahnend den Zeigefinger: „Hör auf mit dem Unsinn und sag mit lieber, was du von meinen Überlegungen hältst! Bist du an Bord?“

„Absolut! Fragt sich nur, wie wir eines deiner Eier finden sollen ...“

„Das sind nicht meine Eier, Herrin bewahre!“

„... oder hat deine Vision das auch verraten?“

„Nein, so läuft das nicht!“, Osbirg schüttelte den Kopf. „Ich sehe nur das, was die Göttin mir zeigen will. Und in diesem Fall war das eine Kreatur. Eine, die aus dem Altenforst kommt und vermutlich öfter mal irgendwo in der Wüstenei unterwegs ist. In der Nähe von Flecken, die sich ohnehin bereits erholen, würde ich annehmen.“

„Also schön. Wie dann? Es ist ja nicht gerade so, als könnten wir Suchtrupps dorthin schicken und probeweise Grabungen vornehmen lassen, ohne dass es den Praioranern auffallen würde, nicht wahr? Wenn die anfangen, Fragen zu stellen, bekommen wir ein Problem. Und im Zweifel nicht nur mit dieser einen Kirche, will ich meinen.“

„Dazu fällt uns schon noch was ein“, gab Osbirg seelenruhig zurück. „Ich glaube, ich habe eine Idee, mit der wir arbeiten können.“