Dramatis Personae

 

Neulich in der Sichelwacht: Wen schert’s?

Feste Aarkopf, Grafenstadt Salthel, Efferd 1034 BF

„So, und jetzt das Ganze bitte noch mal von vorn, Hohe Dame. Ich fürchte, ich bin nicht mitgekommen. Wer bekriegt sich mit wem und warum müssen wir da ‚unbedingt‘ eingreifen?“, Graf Bunsenhold zur Sichel ließ den Blick fragend über die Gesichter der versammelten Beraterschar gleiten und schließlich auf dem der Heermeisterin zur Ruhe kommen. Dabei wirkte es nicht, als würde ihn die Sache wirklich interessieren. Vermutlich hätte man dafür schon Schlagworte wie Gold, Goblins oder Unsterblichkeit ins Spiel bringen müssen.

Oswald von Högelstein, seit Jahr und Tag gräflicher Jagdmeister, konnte sich ein amüsiertes Schmunzeln nur mit Mühe verkneifen, aber er tat es. Und das war sicher gut so, denn anders als er schien Erdlinde von Hollerieth an der gelangweilten Miene ihres Herrn so gar nichts Lustiges finden zu können. Die Heermeisterin der Sichel war jung und unverbraucht – weit entfernt vom ernüchterten Gleichmut der anderen Räte. Sie runzelte verärgert die Stirn und fing dann noch einmal an. Was blieb ihr auch anderes übrig?

Erzelhardt von Graufenbein-Drôlenhorst, der Rotenforster Baron, und die Junkersfamilie von Rauheneck aus dem südöstlichesten Zipfel seines Lehns. Ich habe Euch schon ein paarmal davon berichtet, Hochwohlgeboren. Der Konflikt schwelt seit einigen Götterläufen. Die ersten Toten gab es im Frühling 1033, als der Bannstrahl sich einmischte, und seitdem gerät die Situation immer mehr außer Kontrolle. Nach aktuellen Berichten ist dort mittlerweile mindestens ein Dutzend Menschen zu Tode gekommen, darunter ein Ritter.“

„Der Bannstrahl? Hat das was mit der Angelegenheit zu tun, wegen der Hochwürden Hensgar uns ständig in den Ohren liegt, Ilmhold?“ Der Graf wandte sich seinem Sekretär zu, einem jugendlichen Speichellecker von niederer Geburt, der es ganz besonders eilig damit hatte, nach oben zu kommen. Deshalb steckte er auch stets mindestens bis zu den Ohren in Bunsenholds Allerwertestem.

Oswald wandte den Kopf, um das Kerlchen zu mustern. Es hatte kaum den ersten Flaum am Kinn, gab sich aber redlich Mühe, die paar Haare zu hegen und zu pflegen. Vermutlich, um etwas männlicher auszusehen. Oder wenigstens erwachsener.

„Ich fürchte ja, Hochwohlgeboren“, sagte der Junge. „Rotenforst ist die Baronie, in der ihm besagter Bannstrahler letztes Jahr abhandenkam.“

„Ach?!“, ein belustigtes Lächeln eroberte die Züge des Grafen, und er fuhr sich nachdenklich über den Bart. Wenigstens hatte er tatsächlich einen und nicht nur so ein trauriges Alibi wie sein kriecherischer Handlanger.

„Abhandenkam?“, das war nun wieder die Hollerieth. Sie sah Bunsenhold und seinen Schreiber irritiert an. „Verzeiht, aber davon weiß ich ja noch gar nichts. Was soll das bitte heißen, es ist ein Bannstrahler abhandengekommen? Wie kann denn so was passieren?“

„Ilmhold, nun walte schon deines Amtes“, der Graf machte eine ungeduldige Handbewegung und wandte sich seinem Wein zu. Er hatte natürlich Besseres zu tun, als der Heermeisterin Rede und Antwort zu stehen.

„In den vergangenen Monden ist der Vorsteher der Halle der Sonnenglut ein paarmal hier am Hof vorstellig geworden. Er beschwert sich darüber, dass einer von zwei Bannstrahlern, die er im Frühling 1033 auf Bitten Ihrer Hochgeborenen Gnaden Thargrin von Graufenbein nach Rotenforst entsandte, spurlos verschwunden ist. Er behauptet, dass die Familie Rauheneck den Mann verschleppt und getötet hat. Dafür gibt es allerdings keinerlei Anhaltspunkte.“

„Einen Bannstrahler getötet?“, Erdlinde konnte es offenbar nicht fassen.

„Nun mach nicht solche Augen, Kind“, die Heroldin Tsarahbella von Tompa ließ sich dazu herab, ihre Pfeife aus dem Mund zu nehmen und ein paar Worte zu sprechen. „Das wäre nun wirklich nicht das erste Mal, dass in der Gegend ein Praios-Diener verschwindet. Während der Herrschaft der Priesterkaiser wurde auf Rotenforster Land ein großer Tempel niedergebrannt und die gesamte Geweihtenschaft erschlagen. Das ist da drüben sozusagen gute Tradition.“

„Gut?“

„Entschuldige. Ist mir rausgerutscht. Das meine ich natürlich nicht so.“

„Ist da was dran? An der Sache mit dem Bannstrahler?“, fragte die Heermeisterin daraufhin.

„Wer kann das schon sagen“, murmelte Bunsenhold gleichmütig. „Ich wüsste auch nicht, warum uns das interessieren soll. Wenn sich die Kirche des Götterfürsten dazu entscheidet, ihre Kettenhunde auf eine Horde nichtsahnender Hinterwäldler loszulassen, die – welch unfassbare Überraschung! – dem Alten Glauben anhängen, ist das ihr Problem und nicht meins. Solange nicht bewiesen ist, dass der Adel Rotenforsts tatsächlich damit zu tun hat und solange Seine Hochgeboren Erzelhardt mich in der Sache nicht förmlich um Hilfe ersucht – was ganz sicher niemals passieren wird –, habe ich damit nichts am Hut. Sollen die Pfaffen doch selbst gucken, wie sie mit dem Schlamassel zurechtkommen, in den sie aus eigenem Antrieb hinein geraten sind. Ich habe genug andere Probleme."

Wieder musste Oswald kämpfen, um sich ein Feixen zu verkneifen. Und wieder schien die Heermeisterin kurz vor dem Herzkasper zu stehen, alldieweil die Heroldin bloß gelangweilt in ihrer Pfeife herumprokelte.

„Schön“, presste Erdlinde schließlich zwischen den Zähnen hervor. „Da habt Ihr sicher Recht. In kirchliche Angelegenheiten sollte man sich nicht einmischen, wenn sich das vermeiden lässt. Aber was ist mit den weltlichen? Diese ganzen Menschen sind ja nicht alle vom Bannstrahl hingerichtet worden. Ein paar sind auch Opfer der Querelen zwischen den Graufenbeinern und Rauhenecks geworden. Sollte man dem nicht wenigstens einen Riegel vorschieben? Wir können die Leute doch nicht einfach sich selbst überlassen!“

„Was schlagt Ihr denn vor?“, Bunsenhold lehnte sich in seinem Sessel zurück und warf der Heermeisterin einen prüfenden Blick zu. Gerade so, wie man wohl auch ein merkwürdiges Tier betrachten würde, das man eben zum ersten Mal zu Gesicht bekam.

„Ich würde vorschlagen, dass wir das Haus Rauheneck zur Ordnung rufen. Wie kommen die überhaupt dazu, sich mit ihrem Baron zu bekriegen? Sie sind ihm zur Lehnstreue verpflichtet. Dieses Aufbegehren verstößt gegen die praiosgefällig Ordnung.“

„Ich nehme an, dass sie das nicht im Geringsten schert“, meinte die Tompa schlicht. Sie löste den Blick nicht einmal von der Pfeife, als sie das sagte. „Die ganze Familie gehört zu den Sichler Hinterwäldlern, die Hochwohlgeboren just erwähnte. Wir haben keine gesicherten Belege dafür, aber es geht die Mär, dass sie seit jeher dem Alten Glauben anhängt. Wahrscheinlich ist das Pack nicht mal in den Zwölfgötterglauben initiiert.“ Die Heroldin griff nach einer der dünnen Kerzen, die auf dem Tisch standen und hielt sie völlig ungeniert an ihre herrlich beschnitzte Pfeife.

„Ihr erinnert Euch an den Praiostempel in Rotenforst, von dem ich gerade sprach?“, fragte sie dann. „Als der damals dem Erdboden gleichgemacht wurde, haben die Rauhenecks in der ersten Reihe gestanden. Ich will nicht behaupten, dass es in Weiden zu jener Zeit nicht mehr Familien gab, die so etwas getan haben. Aber keine andere war dumm genug, sich hinterher hinzustellen und offen darüber zu sprechen. Hat dem Haus eine Menge Ärger eingebracht und das Verhältnis zur Praioskirche ist nach wie vor leicht gestört. Wenn Hochwürden bei der Suche nach Schuldigen den Namen Rauheneck kräht, sollte uns das also nicht verwundern.“

Erdlinde von Hollerieth schwieg eine ganze Weile. Offenbar brauchte es etwas, bis sie diese Neuigkeiten verdaut hatte. Dann schüttelte sie ungläubig den Kopf: „Wie kann es sein, dass die sich bis heute gehalten haben?“

„Wohnen auf einer mächtig feinen Burg. Nachgerade uneinnehmbar, das Ding. Und bisher gab es keinen Verräter, der Belagerern einen Weg hätte preisgeben können.“ Die Heroldin führte die Pfeife wieder an ihre Lippen und paffte ein paarmal probehalber.

„Humja“, Erdlinde räusperte sich und sah dann zum Grafen hinüber. „Aber davon sollten wir uns nicht beeindrucken lassen. Recht ist Recht und Ordnung Ordnung. Nach allem, was ich weiß, steht der Tod des Rotenforster Baronets am Anfang des aktuellen Konflikts. Er soll auf rauheneckschem Land gestorben sein und es heißt, dass die Familie dabei ihre Finger im Spiel hatte. Sollte man das nicht untersuchen?“

„Wenn der Baron uns nicht darum bittet ...“, Bunsenhold saß noch immer entspannt zurückgelehnt. „Nein, ich denke nicht. Wir haben mit dem Herrn korrespondiert. Ein paarmal in den letzten Monden. Damit ist unsere Schuldigkeit getan. Ist es nicht so, Ilmhold?“

„Ja. Es hat Schriftverkehr gegeben. Seine Hochgeboren bestehen auf der Aussage, alles im Griff zu haben. Sowohl sein Volk als auch den verbliebenen Bannstrahler, der seines Amtes waltet und wohl schon etliche Ketzer zur Strecke gebracht hat. Er lässt wissen, dass er keine Unterstützung benötigt. Vom Tod seines Sohns war dabei nie die Rede.“

„Was soll ich da tun?“, in einer gespielt verzweifelten Geste hob Bunsenhold die Hände. „Der Baron schreibt, er habe die Situation unter Kontrolle. Würde ich mich dennoch einmischen, setzte ich mich über seinen erklärten Willen hinweg und ließe überdies erkennen, dass ich seinem Urteil nicht traue. Seit Jahr und Tag gibt sich der Mann als starker, unnachgiebiger Herrscher. An diesem Bild zu kratzten, indem ich ihm Unterstützung schicke, die er nie haben wollte, würde er mir kaum danken.“

„Aber ...“, Erdlinde kam heute gar nicht mehr aus dem Staunen heraus.

„Nichts aber! Ich will Euch jetzt mal etwas verraten, Hohe Dame“, meinte der Graf und lehnte sich vor, um der Heermeisterin einen eindringlichen Blick zuzuwerfen. „Dieser vermaledeite Graufenbeiner geht mir schon seit dem Tag meiner Amtseinführung auf die Nerven. Das ist ein sturer, aufsässiger Bock, der glaubt, dass er es sich erlauben kann, mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Stirn zu bieten und mich mit seinen Unverschämtheiten zur Weißglut zu treiben. Wenn der Kerl nicht auf blutigen Knien bis hierher gekrochen kommt – von seinem verfluchten Praiosingen bis in den Saltheler Thronsaal –, werde ich nicht einen Finger rühren, um ihn zu unterstützen. Sollen sich diese Rotenforster doch gegenseitig ihre dämlichen Holzschädel einschlagen. Das ist mir völlig egal! Entweder verliere ich eine Horde heidnischer Schwachköpfe oder einen Baron, der nichts als Probleme macht ...“

An dieser Stelle hielt Bunsenhold inne, überlegte kurz und sah fragend zu seiner Heroldin hinüber. „Der Mann hat nach dem Tod seines Sohns keinen Erben mehr, ist es nicht so? Wer sind denn die engsten Verwandten?“

„Gibt es auch keine“, brummte die Tompa. „Seine Frau und eine Base, die mit ihm auf der Burg lebt, aber ledig und kinderlos ist. Wenn es da drüben irgendwann richtig zur Sache gehen sollte, ist die Baronsfamilie im Zweifel mit einem Schlag ausgelöscht. Vielleicht taucht dann von irgendwo ein Drôlenhorster auf und versucht sein Glück. Aber nachdem die hier in Weiden nicht mehr gut gelitten sind, glaube ich es fast nicht.“

„Also müsste das Land neu vergeben werden.“

„Wenn nicht noch jemand anders legitime Ansprüche erhebt.“

„Klingt, als hieltet Ihr das für möglich?“

„Die Rauhenecks könnten es tun, Hochwohlgeboren. Nach der Sache mit dem Praiostempel wurde die Sippschaft entlehnt. Ihr blieb nur der entlegenste Winkel von Rotenforst. Bis dahin hat sie aber die Barone gestellt. Kennt Ihr übrigens die Geschichte darüber, warum dieser Flecken überhaupt Rotenforst heißt?“

Wahrscheinlich kannte er die nicht. Aber so wie es aussah, interessierte sich Bunsenhold auch nicht dafür. Sein Blick war mit einem Mal nach innen gerichtet. Er dachte angestrengt über etwas nach, und Oswald hatte eine vage Ahnung, was das sein könnte. Er kannte seinen Grafen mittlerweile gut genug, um wenigstens hin und wieder zu erahnen, was in dessen Kopf vorging. Gerade eben hatte sich ihm ein neuer Gedanke erschlossen. Eine neue Möglichkeit. Ein Weg, den unliebsamen Baron von Rotenforst aus dem Weg zu räumen, ohne sich die Finger schmutzig zu machen. Das verdiente in seinen Augen sicher nähere Betrachtung.

„Sie haben einen schweren Stand, diese Rauhenecks, sagt Ihr?“, fragte der Graf.

„Gelten als Heckenreiter, Hochwohlgeboren“, die Tompa nickte. „Seit den Tagen der Priesterkaiser haben sie es nicht mehr geschafft, auf die Beine zu kommen und sich den blutigen Schlamm von der Brust zu wischen. Es gibt einige, mit denen sie ganz gut zurechtkommen, aber die meisten davon sind genauso verfemt wie sie.“

„Würden wir ihren Anspruch also anerkennen und ihnen dazu verhelfen, ihr Land wieder in Besitz zu nehmen, dann wären sie ...“

„... Euch zu Dank verpflichtet. Aber ich wäre vorsichtig. Es ist von alters her bekannt, dass dieses Geschlecht sich schwer steuern lässt. Eigentlich haben die Rauhenecks seit den Tagen ihrer Gründung nur einer Instanz stets die Treue gehalten: dem Herzogenhaus.“

„Solche Dinge können sich ändern, wenn man die richtigen Anreize bietet“, Bunsenhold griff nach seinem Weinpokal und schwenkte ihn ein paarmal. „Tut, wofür ihr in Lohn und Brot steht, Heroldin“, sagte er dann. „Vergrabt Euch in Eure Pergamente und findet heraus, wie es um die Ansprüche dieser Familie steht. Ich will es wissen.“

„In Ordnung.“ Die Tompa nickte bedächtig und warf Oswald dann einen kurzen Blick zu. Das was hier auf dem Aarkopf lief, spottete gelegentlich jeder Beschreibung. Sie beide, die alten Hasen, hatten sich damit schon arrangiert, aber die Heermeisterin schien noch ihre Probleme zu haben. Sie wirkte mit einem Mal sehr blass und die Kiefermuskeln arbeiteten auffällig. Das bemerkte Bunsehold offenbar auch, denn er lächelte dünn.

„Seid Ihr mit meiner Amtsführung nicht zufrieden, Hohe Dame?“, fragte er mit einer Stimme, die sehr leise war und dadurch umso gefährlicher wirkte.

Erdlinde wurde noch blasser. Aber sie hatte Schneid und den ließ sich den auch von ihrem Grafen nicht abkaufen: „Ich würde derlei anders handhaben als Ihr, Hochwohlgeboren, aber mir ist bewusst, dass sich dieses Vorhaben im Rahmen dessen hält, was die Gesetze erlauben. Daher werde ich es nicht weiter hinterfragen.“

„Da bin ich aber froh“, die Art, wie der Graf diese Worte aussprach, jagte selbst Oswald einen Schauer über den Rücken. Wie musste das dann erst für das junge Ding aus Fuchshag sein? Bunsenhold trank einen großen Schluck Wein und richtete sein Augenmerk erneut auf die Heermeisterin. „Für Euch gibt es noch viel zu lernen, von Hollerieth. Beeilt Euch, damit ich nicht irgendwann die Geduld verliere.“

Einen Moment herrschte atemlose Stille im Raum. Dann seufzte der Graf und richtete den Blick auf seinen kalkbleichen Sekretarius: „Kommen wir zum nächsten Punkt.“