Balsaith, Baronie Brachfelde, Phex 1045 BF
Der kühle Nachtwind schob dünne Nebelschleier über die Dächer Balsaiths hinweg. Nur hin und wieder brach sich das Licht des aufgehenden Madamals Bahn. In einer verwinkelten Gasse lag der Tempel des Herrn der Schatten in sanftem Dunkel. Genau ein Götterlauf war vergangen seit der feierlichen Weihe des Hauses des Handschlags, und nun, in der Nacht zum 24. Phex näherte sich eine Gestalt im grauen Kapuzenumhang dem metallbeschlagenen Eingangstor. Zärtlich strich ihre schlanke Hand über die eingelassenen kupfernen Sterne und Monde, die im Glanz des Madamals schimmerten. Die Dunkelheit war erfüllt von der Aura des Listenreichen und die Luft war durchdrungen von einer Ahnung des Unerklärlichen.
Stinia von Silberbrück, die Vogtvikarin des Phextempels und langjähriger Mondschatten, war eine Erscheinung von geheimnisvoller Anmut. Die Mitt-Fünfzigerin trug ihre Lebenserfahrung mit erhabener Würde. Ihr dunkles, langes Haar flutete über ihre Schultern, durchzogen von vereinzelten Strähnen von silbernem Glanz. Ihre mandelförmigen Augen, tief und dunkel wie die Nacht, verrieten das Erbe ihrer nivesischen Mutter, während ihre helle Haut von einem Hauch des Mondes geküsst schien. Ihre Gestalt war schlank und geschmeidig. Doch es war ihre innere Stärke, ihre Klarheit und Besonnenheit, die die erfahrene Kaufmannstochter zu einer wahren Meisterin der Listen machte. Mit ihrem geheimnisvollen Lächeln zog sie die Menschen ebenso in ihren Bann wie mit ihren klugen Worten. Und auch Baron Gamhain von Brachfelde schätzte den Rat der engen Vertrauten, die viele Götterläufe die Interessen der Händler Balsaiths vertreten hatte. Ihr eigenes Kontor hatte sie ihrem Gemahl Edorian und ihren Zwillingstöchtern überantwortet, als sie vor einem Götterlauf zur Vorsteherin des neuen Gebetshauses erhoben wurde.
Behutsam öffnete die Vogtvikarin das Tor und betrat den Tempel, um nach dem Rechten zu sehen. Eine eigenartige Stille lag in der Luft. Der schwache Schein der herabbrennenden Kerzen ließ die Schatten tanzen, während der Duft von Weihrauch die Sinne umhüllte. Ein leises Rascheln durchbrach plötzlich die Stille. Dann ein seltsames Fiepen, wie ein Flüstern in der Dunkelheit. Die Phexgeweihte erstarrte, ihr Herz schlug schneller, als sie sich langsam in Richtung des Geräusches bewegte.
Stinias Hand legte sich um das Heft ihres Dolchs, den sie stets bei sich führte. Der Gebetsraum erstreckte sich vor ihr, von silberdurchwirkten Stoffbahnen durchzogen, die den Raum in ein mystisches Licht tauchten. In ihrer Nische schien die zwei Ellen große, hölzerne Fuchsstatue, ein Werk von Meister Torben Traviatreu, im Halbdunkel lebendig zu werden, während ihre Augen aus Bernstein einen geheimnisvollen Glanz ausstrahlten. Stinia spürte die Gänsehaut auf ihren Armen.
Das Rascheln wurde lauter, und da erst erkannte sie, was zu Füßen der Statue lag: Eine Füchsin war es, deren braune Augen Stinia wachsam anblickten. Das Tier strahlte eine unerklärliche Ruhe aus. Es war, als ob der Listenreiche selbst gegenwärtig wäre und seine Hand über sein Tier hielt. Stinia atmete tief ein und trat näher an die Füchsin heran. Ihr Fell schimmerte im schwachen Licht und der Bauch war ungewöhnlich gewölbt. Wie Stinia erstaunt erkannte, war das Tier trächtig. Und so stand Stinia inmitten ihres Tempels, umgeben von der Stille der Nacht und den Geheimnissen des Listenreichen, bereit, die Gaben ihres Gottes zu empfangen und zu behüten.
Als der Morgen die Dunkelheit verdrängte, offenbarte die Vogtvikarin das Wunderzeichen, das die Stadt in Staunen versetzte. Eine Füchsin hatte Einlass in das Haus des Handschlags gefunden und gebar dort ihre Jungen, inmitten der Opfergaben des Glückstages. So viele Welpen waren es, wie man Phextempel im Herzogtum kannte.
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und bald kamen viele Menschen herbei, um das "Fuchsglück" zu erleben. Unter ihnen Händler, Glückssucher und wohl auch manche, die im Schatten ihren Geschäften nachgingen. Stinia von Silberbrück handelte umgehend. Sie schickte Boten aus, um die anderen Tempel des Listigen in Weiden zu informieren. Mit bewegten Worten beschrieb sie das Wunderzeichen und sprach ihren Glaubensbrüdern und -schwestern die Einladung aus, je einen der Welpen bei sich aufzunehmen. So sollte der Bund der Phexkirche gestärkt werden.
In den Wochen, die folgten, erschienen Phexgeweihte von nah und fern im Tempel zu Balsaith. Manche ganz offen am Tag, manche unerkannt im Schatten der Nacht, unter ihnen auch jene aus der Halle des Nebels zu Trallop, aus dem Sternentempel zu Nordhag, aus der Alten Schule in Salthel und aus der Schattenhalle zu Theabrandt. Das Haus des Handschlags zu Balsaith galt fortan vielen Anhängern des Ewig Flinken als besonderer Ort. Während die einfachen Menschen hier um Glück und Fürsprache in allerlei derischen Angelegenheiten beteten, bewahrte Stinia von Silberbrück die Erinnerung an das "Fuchsglück" und lenkte die Geschicke ihrer verschwiegenen Gemeinde weiterhin mit List und Weisheit.
(ar)