Warum in die Ferne schweifen?
Bärenburg, Rahja 1041 BF

Im Vorfeld der Hadrokles-Paligan-Spiele in Punin erging von Seiten dreier Weidener Barone ein Aufruf an ihre Amtsbrüder und -schwestern, den feierlichen Anlass zu nutzen, um den versammelten Adel des Mittel- und Horasreichs an die Gefahr durch die Orks zu erinnern. Anders als seine Mutter, die in der Sache außen vor gelassen wurde, erhielt auch Prinz Arlan ein Schreiben und musste einen Weg finden, damit umzugehen. Hier der Text dazu.

 

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Unser Prinz,

wir bitten dich, führe uns nach Punin. Doch nicht nur als Kopf einer Gesandtschaft zum Feste, sondern auch als Bestärker einer äußerst wichtigen Botschaft!

Der Feind im Osten ist endlich besiegt. Nur noch wenige Flecken halten die Letzten der dunklen Horden in ihren frevlerischen Fängen. Doch Bruder Tobrien erstarkt immer weiter. Mit der Hilfe des Weißen Jägers und der vielen Freiwilligen aus allen Teilen des Reiches wird er auch diese schwarzen Flecken bald getilgt haben!

Für Weiden und das Reich gilt es daher, nun endlich wieder den Blick auf den Alten Feind zu richten. Der Feind, der uns nicht nur seit einigen Jahrzehnten bedroht. Nein, ein Feind, der seit den Zeiten Isegreins unser aller Geißel ist. Ein Feind, der abermals viele Jahre Zeit hatte, sich neu zu rüsten und unbehelligt zum nächsten Schlag auszuholen.

Das Reich hat wieder Kraft geschöpft, aber die Provinzen südlich der Mittnacht beginnen schon wieder, sich gegenseitig anzufeinden. Es sind nicht nur Gerüchte, die an unser aller Ohren dringen von großen Fehden.

Deshalb bitten wir dich: Lass uns alle nach Punin aufbrechen und die Gelegenheit nutzen, ihnen dort zu sagen: Weder für Fehden noch für ausschweifende Feierlichkeiten ist es an der Zeit!

Nun mögen einige sagen, was soll ein aufrechter Weidener auf einem Fest, welches ein Paligan ausrichtet! Weshalb die lange Reise nach Punin auf sich nehmen. Nun, angesichts einer Kaiserinnengroßmutter aus dem Hause Paligan und einem Kaiserinnengemahl aus eben diesem Hause kann wohl niemand mehr behaupten, dass dieses Haus nicht Teil des Reiches ist.

Doch noch viel wichtiger ist folgendes. Sie alle werden dort versammelt sein. Die scheinbar schon vom Frieden gelangweilten Hochadeligen des Reiches reisen an, um sich dort Ausschweifungen hinzugeben. Lasst uns mitten zwischen sie gehen beim Feiern, Prassen und Zechen. Dort können wir sie, ganz Weidener Art, direkt ansprechen. Dort wird es keinen Raum geben, sich hinter Formalitäten und höfischen Ritualen vor einer Antwort zu drücken. Lasst uns sie mit allem Nachdruck auffordern, unsere gemeinsame Sache zu unterstützen und ihre unwichtigen Streitigkeiten auf später zu verschieben.

Das Fest findet im Rondramond statt! Ein Zeichen?

Führe uns an, unser Prinz! Das Reich muss handeln und sich gegen den nächsten Orkensturm wappnen. Denn eines ist sicher: Der Ork dräut!

Baron Rondrian von Blauenburg
Baron Gamhain von Brachfelde
Baron Firian Asralion Böcklin von Buchsbart zu Schneehag

 

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Eigentlich saß Arlan auf glühenden Kohlen, doch er hielt an sich. Lehnte sich vorgeblich entspannt im Stuhl zurück und versuchte, seine Miene so weit unter Kontrolle zu halten, dass die Anspannung nicht allzu offenbar wurde. Der Blick allerdings hatte sich förmlich am Gesicht seiner Mutter festgesaugt. Er verfolgte jede ihrer Regungen, weil er unbedingt wissen wollte, was sie von dem hielt, was sie da las. Und dabei hatte er nicht vor, sich allein auf ihre Worte zu verlassen, denn die waren oft nur ein schwacher Abklatsch dessen, was sie dachte und fühlte. Nein, er wollte vorher schon Eindrücke sammeln. Beim Erstkontakt, nicht nachdem sie in sich gegangen war und sich eine durch und durch vernünftige Beurteilung zurechtgelegt hatte.

Der Erstkontakt war bei seiner Mutter immens wichtig. Sehr beredt, wenn man wusste, worauf man achten musste. Kleinste Regungen. Mal neigte sich der linke Mundwinkel nach unten, kaum merklich, aber wenn er das sah, wusste er, dass sich ihre Emotionen irgendwo zwischen Missfallen und Verachtung bewegten. Anders als beim rechten, da waren es eher Belustigung oder Unglauben. Mal begannen die Iriden dunkel zu glosen, dann bewegte sie sich im Bereich Ärger bis Wut. Ein helles Leuchten hingegen bedeutete das genaue Gegenteil. Und wenn sie die Augen nicht nur zusammenkniff, sondern das rechte Lid zu zucken begann – dann hieß das, dass man besser in Deckung ging. Arlan starrte seine Mutter also an, während sie las, und wartete darauf, dass sich irgendetwas tat. Nur leider vergebens.

Das einzig Auffällige war, dass sie den Brief weit von ihrem Gesicht weg hielt. Fast die ganze Länge ihres Arms betrug der Abstand zwischen dem Pergament und ihren Augen. Er hatte das in letzter Zeit öfter beobachtet und fragte sich, was es sollte. Ob sie damit vielleicht zeigen wollte, wie scharf ihre Augen waren? Im engsten Kreis der Familie machten sie sich gelegentlich darüber lustig, dass sie Probleme mit Entfernungen hatte und daher beim Bogenschießen nicht recht mithalten konnte. Dass sie mit ihrem seltsamen Leseverhalten das Gegenteil beweisen wollte, war allerdings noch ziemlich neu.

„Soso“, murmelte sie jetzt und legte den Brief mit einer bedächtigen Geste beiseite. „Wie nett.“

„Und?“, Arlan sah sie fragend an.

„Was und?“

„Na, was sagst du dazu?“

Sie erwiderte seinen Blick einen Moment lang schweigend und krauste dann die Nase – was kein gutes Zeichen war. „Hast du’s mir denn nicht längst vom Gesicht abgelesen?“, fragte sie. „Das wäre mir sehr recht, dann müsste ich die Luft nämlich nicht mit bösen Worten vergiften!“

Arlan suchte einen Moment nach dem verräterischen Lidzucken, wurde aber immer noch nicht fündig. Dafür nahm er einen harten Zug um Walpurgens Mund wahr, und dass der linke Winkel ein Stückchen absackte. Weil sie es zuließ. Sie hatte sich bis jetzt beherrscht, gestattete ihm nun aber die Erkenntnis, nach der er die ganze Zeit schon strebte.

„Warum machen die das?“, fragte Arlan daraufhin.

„Was genau?“

„Mich in dieser Sache anschreiben? Du bist die Herzogin, wenn sie wollen, dass Weiden das Reich in Sachen Ork aufrüttelt, müssen sie sich an dich wenden und nicht an mich. Ihnen sollte doch klar sein, dass ich bei einer Sache von solcher Bedeutung eh nicht ohne deine Zustimmung reisen kann.“

„Zwei mögliche Szenarien“, hob Walpurga nüchtern an und griff nach der Kladde, die sie beiseitegelegt hatte, um den Brief lesen zu können. „Entweder sie wollen uns damit sagen, dass sie eine Wachablösung für überfällig halten, oder sie denken, dass du in dieser Sache ganz auf ihrer Linie bist. Wenden sich an dich, weil sie davon ausgehen, dass du mich schon dazu bringen wirst, zuzustimmen, schließlich ist es dir ein ureigenes Anliegen.“

„Wachablösung?“, Arlan starrte seine Mutter konsterniert an. „Du zählst gerade mal 50 Winter! Wer wird denn da an eine Wachablösung denken?“

„Pffft!“, machte Walpurga belustigt und griff nach ihrem Kohlestift. „Der Böcklin hätte wahrscheinlich am liebsten gesehen, dass du den Thron an dem Tag besteigst, an dem du Laufen lernst. Es fällt ihm schwer, mich zu ertragen. Ich bin nicht nach seinem Geschmack.“

„Nicht nach seinem Geschmack? Du bist seine Herzogin!“

„Ja. Der arme Kerl. Das muss wirklich hart für ihn sein.“

„Und du bist meine Mutter“, fügte Arlan an. „Wenn er dich nicht ehrt, kann er mir gestohlen bleiben! Wir sind eins. Von einem Blute. Familie!“

„Ich weiß, Arlan“, meinte sie und schenkte ihm ein zärtliches Lächeln. „Aber er weiß doch nicht, wie wir zueinander stehen. Womöglich denkt er gar, er würde dir schmeicheln, indem er sich direkt an dich wendet, statt den Umweg über mich zu gehen.“

„Nun, das tut er nicht!“, stellte Arlan fest. „Im Gegenteil: Ich ärgere mich. Über alle drei. Weil sie dich in dieser Sache übergangen und damit missachtet haben – als meine Herzogin und Mutter. Und weil es mir das unmöglich macht ... .“ Er hielt inne und atmete einmal tief durch. „Und weil ich eigentlich wirklich auf ihrer Linie bin. Das weißt du!“

„Mit einem Eifer, den ich gelegentlich für unangemessen halte“, Walpurga nickte. „Und aus Gründen, über die du noch einmal genau nachdenken solltest, bevor es wirklich zur Wachablösung kommt.“

„Was hoffentlich noch lange dauert.“

„Wir werden sehen.“

Seine Mutter begann auf ihrer Kladde herum zu kritzeln und er sah ihr einen Moment lang schweigend dabei zu. „Der Ork ist der Feind, auf den wir uns jetzt konzentrieren müssen“, sagte er dann entschieden. „Auf den wir uns allzeit konzentrieren sollten.“

„Wir dürfen ihn nicht aus dem Auge lassen, das stimmt“, meinte sie leichthin.

„Aber?“

„Denkst du wirklich, dies wäre der rechte Anlass, um dem Adel des Mittelreichs in der Sache auf die Füße zu treten?“, wollte sie wissen. „Wärst du damit gut beraten? Oder würdest du dich unmöglich machen? Dir den Ruf eines Mannes erwerben, der es nicht mal auf der größten Sause seit Dekaden lassen kann, mit stets dem gleichen Thema anzufangen? Wo sie doch alle so schön feiern könnten, ungestört auf Kosten dieses hinterfotzigen Geldsacks, der besser bleiben sollte, wo sein beschissener alanfanischer Pfeffer wächst?“ Die Stimme seiner Mutter blieb glatt und kühl wie Seide, doch ihre Augen loderten mit einem Mal. Dunkel. „Und willst du tatsächlich da hin? Die Feier dieses Mannes zu Ehren seiner Ahnen mit deiner Anwesenheit adeln? Ausgerechnet!“

„Die Wacht wider den Schwarzpelz ist unsere vornehmste Aufgaben, Mutter. Darin dürfen wir nicht nachlassen. Nie. Wenn das heißt, dass ich den Adel des Reiches auf so einer Feier nerven muss, tu ich das halt“, hob Arlan an. Erst danach hielt er inne, um sich den Grund für ihre plötzliche Wut ins Gedächtnis zu rufen und seufzte leise. „Wiewohl ich gestehen muss, dass es ein ziemlich großer Schatten ist, über den ich in diesem Fall springen müsste.“

„Dann wähle einen kleineren“, meinte Walpurga schlicht. „Spar dir die Überwindung und spar dir zudem Zeit und Kraft, mein Sohn.“

„Was meinst du?“

„Wen willst du denn für deine Sache gewinnen, hm? Dass es unerlässlich wäre, so weit in den Süden zu reisen? Almadaner? Garetier? Am Ende gar Horasier oder Alanfaner? Und was denkst du, wie die dich im Kampf gegen den Ork unterstützen würden? Wenn es dir überhaupt gelänge, sie von der Wichtigkeit der Sache zu überzeugen?“

„Nun ja ... jede Art der Unterstützung ist gut, oder nicht?“

„Da hörst du von mir keine Einwände. Wenn du irgendwann einmal das dringende Bedürfnis verspüren solltest, nach Perricum oder Almada zu reisen, um den Adel dort zu überzeugen, dass es eine gute Sache wäre, Geld in das nördliche Bollwerk zu stecken, werde ich dich nicht aufhalten. Aber vorher solltest du dir überlegen, von wem du unmittelbarere ... handfestere Hilfe erhalten kannst. Dorthin solltest
du dich zuerst wenden. Würde ich meinen.“

„Du denkst ... hier im Norden?!“

„Greifenfurt, Arlan, Donnerbach! Dort wissen sie, wie es ist, den Ork zu bekämpfen. Warum es wichtig ist und warum wir in unserer Wacht niemals nachlassen dürfen. Dort gibt es Menschen, die verstehen, was dich antreibt. Oder in den Nordmarken und Albernia, wenn du weiter schweifen willst. Wende dich an Bruder Kosch oder die Rommilyser Mark, die zwar in zweiter Reihe steht, aber auch schon ausreichend vom orkischen Stahl gekostet hat. Da kennt man die Gefahr besser als in Almada oder Garetien. Aus dem Süden hast du nichts als Ausflüchte und Almosen zu erwarten. Glaub mir das. Du wärst nicht der Erste, der an der Ignoranz der weich Gebetteten scheitert.“

„Hum.“ Arlan sah seine Mutter nachdenklich an, während er ihren Gedanken im Geiste weitersponn. „Wenn es hier im Norden erst Allianzen gäbe“, meinte er schließlich langsam, „hätte meine Stimme unten im Süden auch mehr Gewicht.“

„Davon ist auszugehen.“

„Warum wollen die dann da hin?“, fragte er und griff nach dem Brief, der zwischen ihm und seiner Mutter auf dem Tisch lag.

„Das musst du sie schon selbst fragen“, erwiderte sie. „Ich kann dir nur sagen, was die Vögel von den Dächern zwitschern. Nämlich, dass der Böcklin unanständig oft auf Reisen ist – für jemanden, dem vermeintlich nichts so sehr am Herzen liegt wie die Sicherheit seiner Heimat. Es heißt, er sei zu dem Schluss gelangt, seine Brüder und Schwestern im Amte würden ihre Aufgabe nicht ernst genug nehmen und dass er daher nach anderen Verbündeten suchen muss.“

„In der Ferne? In erster Linie müssen wir doch von innen heraus stark sein und uns nicht auf das verlassen, was von außen kommt! Wenn das seine Furcht ist, hat er dann nicht den falschen Weg gewählt? Sollte er nicht besser hier im Herzogtum für seine Sache werben?“

Darauf erwiderte seine Mutter nichts, sondern blickte ihn nur mit einem vielsagenden Lächeln an. Arlan kam gar nicht dazu, das ausreichend zu würdigen, denn ihm fuhr ein plötzlicher Schreck in die Glieder und er riss die Augen auf:

„Stimmt es denn? Gibt es in der Mittnacht etwa Barone, die ihre Aufgabe nicht ernst genug nehmen?“

„Kommt es dir so vor?“

„Nein, aber ich kann mich ja nur auf das verlassen, was ich selbst sehe und höre. Du hast viele Quellen und bist daher besser informiert.“

„Es gibt Barone, die diese Sache ernster nehmen als andere, aber sicher keinen, der sich nicht darüber im Klaren wäre, welche Gefahr im Norden dräut. Begreife es als Frage des Blickwinkels. Der Schneehager ist einer derjenigen, die sich fast täglich mit der Bedrohung auseinandersetzen müssen. Da drängt das Problem selbstverständlich mehr als anderswo. Ob seine Einschätzung unter diesen Umständen von großer Sachlichkeit geprägt ist, mag eine andere Frage sein.“

„Du hältst ihn also für die treibende Kraft?“, fragte Arlan, während er den Brief, der die Unterschrift dreier Barone trug, demonstrativ hob.

„Absolut“, seine Mutter nickte. „Beim Blauenburger halte ich es für möglich, dass er sich den Brief nicht einmal genau durchgelesen hat, ehe er ihn unterzeichnete. Oder dass er sich nicht vergegenwärtigt hat, wie sehr das Vorgehen gegen die Etikette verstößt. Brachfelde hingegen ...“, sie seufzte leise, „... ein Mysterium. Vielleicht ist er auf den Geschmack gekommen, nachdem er Walderia seinerzeit schon so schwer beleidigt hat?“

„Ich werde denen antworten“, meinte Arlan, nachdem er kurz überlegt hatte. „Ich schreib ihnen was. Und vielleicht ergibt sich ja irgendwann auch mal eine Gelegenheit zum Gespräch. Sie setzen sich für die richtige Sache ein und ich weiß das zu schätzen. Deshalb will ich, dass sie verstehen, warum sie diesmal keine Unterstützung von mir erhalten. Und warum ich glaube, dass sie das Pferd von hinten aufzäumen, und sich in andere Richtungen wenden sollten.“

Der Entschluss war spontan gereift, deshalb aber nicht minder ernst gemeint. Er blickte seine Mutter fragend an und sah, wie sie die Lippen schürzte, zugleich aber schief lächelte. Das war ein gutes Zeichen. Es bedeutete Zustimmung. Anerkennende und vollumfängliche.