Trotz und Einsicht
Burg Luring in Gräflich Luring, Königreich Garetien
Ende Rondra 1041 BF
Gut drei Stunden hatten die beiden Frauen miteinander gesprochen. Es wurde intensiv diskutiert sowie hin und her argumentiert. Vorschläge wurden unterbreitet, wieder verworfen und durch andere ersetzt. Sogar gänzlich neue Ideen wurden entwickelt, dann gar ein wenig gefeilscht und am Ende war es geschafft: Ein Kompromiss war gefunden, der für Yalagunde und Selinde gleichermaßen annehmbar war, und diesen unseligen Zwist ein für allemal beenden könnte.
Jetzt galt es nur noch, Gemahl und Bruder davon zu überzeugen ...
***
Als Selinde Ugdalf in seiner Kammer aufsuchte, um ihn über das Gespräch mit der Gattin ihres Onkelsund die dabei erzielte Übereinkunft zu informieren, war der Baroness von vornherein klar, dass sie ihn damit gegen sich aufbringen und anschließend alle Hände voll zu tun haben würde, ihn von der Sinnhaftigkeit der gefundenen Lösung zu überzeugen. Dennoch traf sie die Heftigkeit seine Reaktion sehr. Ugdalf war bei ihrem Bericht puterrot angelaufen und musste alle Beherrschung aufwenden, um nicht loszubrüllen oder irgendetwas zu zerschlagen, um so seine Wut abzubauen. Sein Zorn, der diesmal ihr und nicht Emmeran galt, war ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben, ebenso die Enttäuschung, von seiner Schwester hintergangen worden zu sein.
„Das ist nicht Dein Ernst, Selinde! Du lockst mich mit Deiner kleinen Scharade aus dem Salon, um hinter meinem Rücken mit Tante Yalagunde diesen Unsinn auszubrüten und erwartest nun allen Ernstes von mir, dass ich diesem halbgaren Mist auch noch zustimme? Wie konntest Du mich nur so hintergehen und Dich selbst dermaßen über den Tisch ziehen lassen? Bedeuten Dir denn unser Name, unsere Familie gar nicht? Bedeute ich Dir nichts? Du bist wirklich eine einzige Enttäuschung für mich!“
Selinde hatte gerade der letzte Satz ihres aufgebrachten Bruders sehr getroffen, rührte er doch an einer alten, aber immer noch schmerzenden Wunde. Die Baroness war kurz davor, Ugdalf ebenfalls ein paar geharnischte Bemerkungen an den Kopf zu werfen, unterdrückte dies aber. Sie durfte sich nicht aus der Fassung bringen lassen, wenn sie ihren Bruder zur Annahme des Kompromisses bewegen wollte. Und letztlich konnte die Adlige seinen Ärger ja auch verstehen, schließlich hatte sie ihn tatsächlich hintergangen, mit den besten Absichten zwar, aber doch hintergangen.
„Glaubst Du wirklich“, begann Selinde leise und dabei sehr ruhig wirkend, dass Du und Onkel Emmeran auch nur im Ansatz eine Übereinkunft hättet erzielen können, die nicht von Geschrei, Zorn und womöglich gar Blutvergießen geprägt gewesen wäre? Die die ohnehin schon tiefen Gräben nicht noch weiter vertieft und verbreitert hätte? Ugdalf, wir haben beide Familie: Willst Du diesen schwelenden Zwist wirklich weiter bestehen und von Zeit zu Zeit immer wieder hochkochen lassen? Du magst dies aushalten, ich jedoch bin dieses Konflikts müde. Soll er tatsächlich zu den Dingen gehören, die wir unseren Kindern hinterlassen wollen? Ich würde ihnen dieses Erbe lieber ersparen.“
Im Antlitz des Obristen schienen ob Selindes Worte nun Ärger und Verstehen, gekränkter Stolz und Einsicht miteinander zu ringen. Ugdalf musste sich auch innerlich erst einen Moment lang sortieren, bevor er, nun deutlich ruhiger, zu einer Entgegnung ansetzen konnte.
„Hm, meinen Kindern möchte ich diesen Hader in der Tat nicht hinterlassen. Und ja, für derlei Verhandlungen bist Du sicherlich weit eher geschaffen als ich, wie ich zugeben muss. Dennoch: Du hättest mich hier nicht übergehen dürfen. Aber das werde ich, sofern es nicht wieder vorkommt, verschmerzen können. Ich bleibe aber weiter dabei, dass Du uns zu billig verkauft hast.“
Die Baroness nickte kurz, nahm die Hände ihres Bruders und sah ihm fest in die Augen. „Ugdalf, es tut mir wirklich leid und ich hoffe, Du nimmst meine Entschuldigung an. Ich weiß und verstehe sehr wohl, wie sehr ich Dich verletzt habe. Aber ich sah vorhin einfach keinen anderen Weg als den, unter vier Augen mit Tante Yalagunde zu verhandeln und mit ihr allein eine Lösung für diesen vermaledeiten Konflikt zu finden. Und da ich Dich ja nicht einfach rausschicken konnte, griff ich zu dieser kleinen List. Und nein, ich werde Dich nicht noch einmal dergestalt vor den Kopf stoßen, dessen sei versichert.
Das Ergebnis der Unterredung ist übrigens auch für mich nicht wirklich zufriedenstellend, aber zumindest annehmbar. So ist das halt bei Kompromissen: Wirklich glücklich machen sie die Beteiligten fast nie. Aber was wäre die Alternative? Ein Scheitern der Gespräche hätte vermutlich Herzogin Walpurga auf den Plan gerufen. Die hätte vermutlich nicht verhandelt sondern einfach dekretiert. Dann hätten wir wahrscheinlich gar nichts bekommen. Und dann? Ein langwieriger Rechtsstreit vor dem Reichskammergericht mit ungewissem Ausgang, der beide Seiten blamiert, da dieser Streit dann öffentlich würde? Wem wäre damit geholfen, geschweige denn daran gelegen? Aber unabhängig davon müssen wir ohnehin erst mal abwarten, ob auch Onkel Emmeran die Übereinkunft mitträgt und letztlich die Herzogin davon überzeugen kann. Andernfalls war mein Gespräch mit unserer Tante vorhin nicht mehr als eine nette Plauderei.“
Ugdalf nickte kurz, löste sich von seiner Schwester und schritt schweigend zum Fenster. Die herrliche Aussicht nahm er nicht wahr, sein Blick war nach innen gerichtet. Eine Vielzahl von Gedanken und Eindrücken gingen ihm durch den Kopf, während er im Geiste das bisher Gesagte wie auch die lange Geschichte dieses Familienzwists durchging. Dann, nach einer für Selinde fast endlos erscheinenden Weile, drehte er sich abrupt zu ihr um. „Gut, ich akzeptiere“, sprach er mit ausdruckslosem Antlitz und fast tonloser Stimme, während er sich anschickte, den Raum zu verlassen. „Aber erwarte nicht, dass ich nachher beim Abendessen deswegen in Jubelstürme ausbreche. Und jetzt brauche ich ganz dringend frische Luft!“ Mit diesen Worten verließ der Oberst das Zimmer, ohne die Tür hinter sich zu schließen.
Zurück blieb seine Schwester, die unschlüssig war, ob sie für Ugdalfs Zustimmung mit ihrem Vertrauensbruch nicht einen zu hohen Preis gezahlt hatte.
***
„Das ist zu wenig! Zu wenig, Yalagunde!“, Emmeran schüttelte den Kopf, während die Ader an seiner Schläfe bedrohlich zu pulsen begann.
Die Luring beobachtete es mit einer Mischung aus Unglauben und Resignation. Stundenlang hatte sich ihr Gemahl, der nun wahrlich nicht mehr der Jüngste war, im Schwertkampf geübt. Er wirkte ermattet, fast sogar gelöst, als sie zu ihm in ins Gemach trat. Und dennoch schwoll ihm jetzt schon wieder der Kamm. Woher kam bloß die Energie dazu? Wann würde er endlich ruhiger und weiser werden? Und war ihm eigentlich bewusst, wie sehr er dem jungen Verwandten aus Perricum glich? Mit dem hitzigen Temperament und der unerträglichen Sturheit?
„Ich will diesem anmaßenden kleinen Pisser nichts geben! Gar nichts!“, wetterte ihr Gemahl. „Nicht mal den Namen von Hinterfotzingen oder die Eier eines verfluchten Bären im Wappen! Hast du gesehen, wie der sich aufführt? Hat ihm eigentlich nie jemand beigebracht, wie man sich Menschen gegenüber verhält, die weit über einem stehen? Haben die ihm drüben in Perricum ins Hirn geschissen, oder was? Lässt man sich da etwa so was von Fatzkes wie dem bieten?“
„Wie wäre es, wenn du deine persönliche Betroffenheit mal vom dem trennen würdest, was gut für deine Familie ist? Es geht hier nicht darum, wie sich der Junge dir gegenüber verhalten hat, sondern darum, wie wir einen ewig schwelenden Konflikt aus der Welt schaffen, ohne dabei so viel Rabatz zu machen, dass das ganze Reich davon mitbekommt!“
„Ach ja?“, Emmeran schnaubte wie ein verwundeter Stier und starrte sie aus weit aufgerissenen Augen und mit bebenden Nüstern an. „Ist das so?“
„Jaaaa, so ist das“, erwiderte Yalagunde schnippisch. „Es sei denn natürlich, du möchtest gern, dass das Ganze öffentlich verhandelt wird und die Verfehlungen deines Bruders im Kurse dessen noch mal hervorgekramt und in allen Details breitgekaut werden. Wenn dem so sein sollte, weiß ich allerdings wirklich nicht, was wir hier machen!“
„Wer sagt, dass wir da verhandeln müssten, hum?“
„Walpurga würde niemals oh...“
„Aber Arlan würde!“
„Darf ich dich daran erinnern, dass wir gerade das nicht wollten? Diesen Ärger auf den Schultern der nachfolgenden Generation abladen, die nichts damit zu schaffen hat?“ Yalagunde hob die Brauen. „Glaubst du etwa, Arlan würde unbeschadet aus einem solchen Scharmützel hervorgehen? Dass es gut für seinen Ruf wäre, wenn er versuchte, mit der Brechstange ans Ziel zu kommen, wo wir mit der Pinzette doch gerade schon einen erträglichen Weg zurechtgezupft haben?“
„Erträglich? Für wen?“
„Was für ein Bild würde dein Haus abgeben, wenn dieser Konflikt offen zu Tage träte, Emmeran? Wenn sich die Mitglieder der Weidener Herzogenfamilie eine Schlammschlacht mit der ungeliebten Verwandtschaft aus Perricum liefern müssten? Wo den Weidenern doch kaum etwas so wichtig ist wie familiäre Eintracht und der Zusammenhalt.“ Yalagunde machte eine kurze Pause, in der sie das nachdenkliche Gesicht ihres Gatten aufmerksam beobachtete. „Es würde nicht nur Arlan schwächen, sondern hätte auch Auswirkungen auf Walpurgas Andenken. Und auf uns. Unsere Kinder. Willst du das?“
„Walpurga ... pfffft!“, Emmeran bleckte die Zähne. „Ewig zaudernd. Ach so schwach ... . Mir fehlt die starke Hand ihres Vaters und mir ist gleich, wie man sich ihrer dereinst erinnert!“
„Deine Base will nicht immer mit dem Kopf durch die Wand. Das ist bei Weitem keine schlechte Eigenschaft für eine Herrscherin“, meinte Yalagunde leise. „Und selbst wenn du das anders sehen solltest, kannst du eines von ihr lernen und solltest es schleunigst tun: Das Wohl des Landes und seiner Leute ist wichtiger als der Stolz des Herrschers. Wenn dir das nicht eingängig genug sein sollte, wie wäre es dann hiermit: Es ist wichtiger, eine starke Familie zu haben, die sich mit aller Kraft auf ihre vornehmsten Aufgaben konzentrieren kann, als Recht in einem Streit zu behalten, der schon viele Jahre alt ist und über alle Beteiligten nichts als Unglück gebracht hat!“
Emmeran schnaubte unwillig, aber er erwiderte nichts. Das wertete Yalagunde als gutes Zeichen. Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren ...
***
Zum Abendessen hatten sich Weidener und Perricumer wieder in dem Salon eingefunden, in dem zuvor am Tage gleichermaßen gestritten wie verhandelt worden war. Der Umstand, dass Graf Drego sich aufgrund „anderweitiger Verpflichtungen“ hatte entschuldigen lassen, kam den Anwesenden dabei insgeheim sehr zupass, konnten sie so doch weiter unter sich bleiben und dafür sorgen, dass nicht noch mehr Personen in den Familienzwist hineingezogen wurden – der wohl einzige Punkt, in dem alle Beteiligten einer Meinung waren.
Dass trotz des erzielten Durchbruchs von einer Versöhnung keine Rede sein konnte, zeigte allein schon das Mienenspiel von Onkel und Neffe, die sich zur gegenseitigen Begrüßung lediglich mit einem knappen Nicken samt finsterem Blick bedachten. Versuche der beiden Frauen, etwas Tischkonversation zu betreiben und so die frostige Stimmung zumindest ein wenig zu heben, scheiterten jedoch an der Einsilbigkeit Emmerans und Ugdalfs, die offenkundig nichts weiter wollten, als diese Zusammenkunft schnellstmöglich hinter sich zu bringen. Daher verlief der größte Teil des gemeinsamen Mahls in fast schon gespenstischer Stille, bis sich nach dessen Beendigung Selinde mit Blick auf ihre Tante von ihrem Platz erhob.
„Ich halte mich kurz“, begann die Baroness leicht säuerlich, verärgert über die Stoffeligkeit der beiden Männer, „und wiederhole noch mal den von Frau Yalagunde und mir erarbeiteten Kompromissvorschlag, welcher dem Haus Löwenhaupt im Allgemeinen und den hier Anwesenden im besonderen endlich Frieden bringen soll.“ Im Anschluss verlas Selinde die einzelnen Punkte des Vorschlags. „Ich für meinen Teil stimme ihm zu und erkläre, auch im Namen meiner Kinder, feierlich, diese Übereinkunft in Zukunft getreulich einzuhalten, solange es die anderen Beteiligten ebenso tun und nachdem Herzogin Walpurga sie als gut und rechtens anerkannt hat.“
Yalagunde schenkte der jungen Perricumerin ein Lächeln und nickte anerkennend. Onkel und Neffe hingegen ließen sich hernach schier endlose Augenblicke Zeit, bevor sie, immer noch alles andere als zufrieden wirkend, mit knappen Worten ebenfalls ihre Zustimmung erklärten. Ersterer versicherte zudem, gleich nach seiner Rückkehr in die Weidenlande die Herzogin aufsuchen und ihr die Annahme des Kompromisses zu empfehlen.
Die Versammelten bekräftigten die getroffene Übereinkunft per Handschlag und gingen dann auseinander. Der Worte waren genug gewechselt.