In medias res

Burg Luring in Gräflich Luring, Königreich Garetien
Ende Rondra 1041 BF

Kurz vor der vom Kastellan genannten Zeit wurden die Geschwister von einem Lakaien aufgesucht, der sie zu Emmeran und Yalagunde führen sollte. Schweigend folgten sie dem Bediensteten bis vor die Tür des kleinen Salons. Dort angekommen, entließ ihn die Baroness.

Selinde, die Kleider nicht sonderlich mochte, hatte sich für eine einfache aber gediegene beige Junkertracht entschieden. Über dem Herzen ihres Wamses war das Wappen der Baronie ihres Schwiegervaters, Zackenberg, aufgestickt; an ihrer Seite trug sie lediglich einen mit einem Friedensband versehenen Dolch. Ugdalf hatte, sehr zum Missfallen seiner Schwester, erneut einen Wappenrock mit den Farben und dem Wappen der Familie gewählt und trug an seiner Seite das Familienschwert „Retributio“. Ohne Friedensband.

„Versuch gar nicht erst, mir die Wahl meiner Kleidung auszureden, Schwesterherz“, raunte er Selinde mit einem energischen Unterton zu.

Selinde antwortete lediglich mit einem bedauernden Kopfschütteln und blickte dann hinab auf das Schwert. „Und wo ist Dein Friedensband?“

„Das werde ich nicht...“

„Doch, Du wirst! Oder Du kannst alleine da reingehen!“, herrschte sie ihn an. „Wir ziehen hier nicht in eine Schlacht noch möchte ich, dass unser Zusammentreffen ungewollt in eine solche ausartet.“

Ugdalf wollte zu einer Erwiderung ansetzen, ließ es dann aber sein. „Na meinetwegen, solange Du dann endlich Ruhe gibst. Kannst Du mir vielleicht auch noch verraten, wo ich hier und jetzt so ein dämliches Band herbekommen soll?“

Seine Schwester schaute sich kurz im Gang um, schritt auf das nächste Fenster zu und schnitt mit ihrem Dolch an einer unauffälligen Stelle einen schmalen Streifen Stoff vom Vorhang ab. Rasch wickelte sie ihn um den Schwertgriff ihres Bruders und nickte ihm mit einem schelmischen Lächeln zu:

„Alles eine Frage der Improvisation. So, und nun auf ins Gefecht!“

Die Baroness straffte sich und klopfte zweimal laut vernehmlich an die Tür.


***

Als Emmeran zum gefühlt tausendsten Mal an ihr vorbei tigerte, seufzte Yalagunde gerade so laut, dass er es hören musste. Doch er ignorierte die vorsichtige Unmutsbekundung und marschierte einfach weiter. Am Tisch vorbei. An den Stühlen. Bis hin zur Wand, um dort kehrtzumachen. An den Stühlen vorbei zu laufen, am Tisch, an noch mehr Stühlen und bis zur anderen Wand. Der kleine Salon war nicht groß genug für ihn. Nicht in seinem aktuellen Zustand. Und Yalagunde fürchtete, was passieren würde, wenn sich noch zwei weitere Personen mit ihnen hier hinein quetschten.

Sie warf einen gespannten Blick auf die Tür, durch die der Neffe und die Nichte ihres Gatten jeden Moment eintreten würden. Emmeran hatte den beiden ein paar Stunden Zeit gegeben, um anzukommen, sich frisch zu machen, etwas zu essen und den Statthaltern des Gastgebers aufzuwarten. Das war in diesem Falle nun mal nicht er – so wenig es ihm auch gefiel. Es wäre ihrem Gemahl deutlich lieber gewesen, Ugdalf und Selinde auf die Feste Reichsend zu zitieren. Aber das hätte die Sache unnötig in die Länge gezogen und sehr viel komplizierter gemacht. Das sah selbst er ein, und beugte sich dieser Erkenntnis zähneknirschend.

Burg Luringen war nichts für den Trutzer Grafen. Festung hin oder her: Nach dem Maßstab des unverbesserlichen alten Schlachtrosses gab es hier zu viel „Ferz“. Yalagunde war sich nicht sicher, ob er damit die adrett gekleideten Diener meinte oder die eine oder andere architektonische Finesse, zu der sich die Erbauer doch tatsächlich hatten hinreißen lassen. Dies war nun mal Garetien und nicht der wilde Westen Weidens. Gleich wie: Es bliebt festzustellen, dass Emmeran ebenso wenig etwas für die Feste und ihre Bewohner war. Jedenfalls nicht für die meisten davon. Er gab sich auch keine Mühe. Hatte sich nicht einmal heute dazu überreden lassen, etwas anderes als seine Rüstung und den Wappenrock in den Farben der Löwenhaupts anzulegen. An seiner Seite hing ein Schwert, wie stets. Und zwar ohne Friedensband. Wenn das mal nicht allerbeste Voraussetzungen für ein Gespräch waren, das mehr als nur ein bisschen Fingerspitzengefühl erfordern würde.

Yalagunde wollte gerade etwas sagen, als es klopfte und der Kopf ihres Gatten herum ruckte. Er fixierte die Tür, als wolle er sie mit seinem Blick erdolchen – und Yalagunde seufzte abermals.

„Gib dir wenigstens ein bisschen Mühe, deinen Unmut zu zügeln“, zischte sie leise, ehe sie sich erhob und ihre Röcke mit einer entschiedenen Geste ordnete.

Emmeran starrte sie einen Augenblick mit gerunzelter Stirn an und zwang dann ein ... nun ja ... geringschätziges ... Zähnefletschen auf seine Züge. Es war entsetzlich anzuschauen, und Yalagunde gab ihm das zu verstehen, indem sie resigniert den Kopf schüttelte.

„Guck einfach neutral“, forderte sie hernach. Das zumindest sollte er doch hinbekommen.

Da hallte seine Stimme auch schon durch den Raum: „Herein!“

Selinde öffnete nach dieser Aufforderung die Tür und betrat gemessenen Schrittes das Zimmer, Ugdalf direkt hinter ihr. Als ihr Blick auf Emmeran und seine Gemahlin fiel, musste die Baroness feststellen, dass in der Tat seit ihrem letzten Zusammentreffen sehr viel Wasser den Pandlaril hinabgeflossen war. Alt war das Grafenpaar geworden, wobei zumindest im Falle ihres Onkels jedoch nichts auf eine einsetzende Altersmilde hindeutete. In der Mitte des Raumes angekommen, verbeugte sich die Perricumer Adlige vor den beiden.

„Die Zwölfe zum Gruße, Eure Hochwohlgeboren. Onkel, Ihr wünschtet uns zu sehen, um, wie es in euren Depeschen hieß, wichtige Familienangelegenheiten zu besprechen? Was können wir für Euch tun?“, schloss Selinde mit leicht bemüht wirkender freundlicher Stimme und einem feinen Lächeln, auch wenn ihr beides nicht leichtfiel.
 
Ugdalf hingegen hielt es für klüger, fürs Erste seiner Schwester das Reden zu über- und es bei einer knappen Verbeugung als Respektsbezeugung zu belassen. In einem hatte sie recht: Er musste nicht unbedingt schon bei der Begrüßung das erste Porzellan zerschlagen. Dennoch ließ sein mürrisch wirkendes Antlitz leicht erkennen, dass er dazu jederzeit bereit war.

Yalagunde hatte die beiden Neuankömmlinge mit einem strahlenden Lächeln bedacht, nicht zuletzt in der Hoffnung, Emmerans unbewegter Miene damit ein bisschen was von ihrer Schärfe zu nehmen. Als sie das aufgeräumte Gesicht Selindes erblickte, war die Grafengemahlin erleichtert. Hätte die Baroness genauso geguckt wie ihr Bruder, hätte sie das Gespräch als zum Scheitern verurteilt betrachtet. So aber schien es noch ein bisschen Hoffnung zu geben.

Das glaubte sie jedenfalls, bis die junge Frau nach ihrer Verneigung und einem knappen Gruß sofort zur Sache kam. Da blinzelte Yalagunde irritiert und sah zu ihrem Gatten hinüber, dessen Blick fast triumphierend wirkte. Sie hatte im Vorfeld lange mit ihm darüber diskutiert, wie viele Höflichkeiten ausgetauscht werden mussten, ehe sie zum Kern der Sache vorstoßen konnten. Ob man den Kindern Wallbrords erst noch mal in Persona kondolieren sollte. Der Tochter zur Hochzeit und dem Kind gratulieren. Dem Sohn zur Beförderung. Hinfällig, das hatten die Perricumer hiermit entschieden – und Emmeran stieg natürlich sofort darauf ein.

„Den Zwölfen zum Gruße, die donnernde Himmelsleuin voran“, schmetterte er und nickte knapp. „Gut, dass Ihr nun da seid, denn ja: Es gibt in der Tat etwas Wichtiges zu klären. Nicht weniger als die Zukunft unserer Familie. Nach dem Tod meiner Mutter – Boron hab’ sie selig! – ist es höchste Zeit, dass wir darüber reden. Wir müssen unsere Verhältnisse ordnen. Wir müssen dafür sorgen, dass künftig Klarheit zwischen uns herrscht und es keinen Grund für Hader mehr gibt.“ Er hielt kurz inne, ließ seinen Blick erstmals von Selinde zu Ugdalf gleiten und fasste ihn aufmerksam ins Auge. „Ich gedenke ...“

„Wie wäre es, wenn wir uns erst einmal setzen?“, wandte Yalagunde ein. Ihr Mann hasste es, wenn sie ihn unterbrach, aber das hier gerade, das ging nicht. Es war ein Unding, auf diese Art zu verhandeln. Sie waren doch nicht in Reichsend?! Das war Garetien. Die Burg ihrer Vorväter, die wussten, was sich gehörte. Yalagunde machte eine einladende Geste zum Tisch. „Bitte, lasst uns in Ruhe sprechen!“

Ugdalf erwiderte den strengen Blick seines Onkels, dabei nur mühsam die Fassung bewahrend. Was redete Emmeran da von zu ordnenden Verhältnissen, Klarheit und dem Ende eines Haders? Es gab nichts zu ordnen und es herrschte völlige Klarheit darüber, was der Graf auf der einen und Selinde und er selbst auf der anderen Seite voneinander hielten. Und der erwähnte Hader wäre rasch beigelegt, wenn Emmeran nur den Mut besäße, sich für die ständigen Schmähungen und Beleidigungen seinem Bruder Wallbrord gegenüber zu entschuldigen und nicht weiter auf der Familienehre herumzutrampeln.

Der Oberst wollte gerade zu einer scharfen Erwiderung ansetzen, als Yalagunde ihm zuvorkam und ihn sowie Selinde bat, am Tisch Platz zu nehmen. Die freundliche, ja fast schon warmherzige Art Yalagundes dämpfte sogar Ugdalfs Zorn ein wenig – zumindest für den Augenblick.

„Eine gute Idee, liebe Tante“, erwiderte er in einem neutralen Tonfall und zeigte dabei sogar den Ansatz eines Lächelns, welches jedoch ausschließlich ihr galt.

Die Baroness von Zackenberg hatte Emmerans Gesprächseröffnung äußerlich unbewegt aufgenommen, auch wenn Sie seine Aussagen genau wie Ugdalf nicht teilte. Sie hatte schon damit gerechnet, dass ihr Onkel buchstäblich mit der Tür – oder gleich dem ganzen Burgtor – ins Haus fallen würde. Umso dankbarer war sie für das geistesgegenwärtige Eingreifen Yalagundes, ohne das die beiden Männer einander jetzt schon zumindest verbal an die Gurgel gegangen wären. Wenn die beiden nur merkten, wie ähnlich sie sich in mancherlei Hinsicht doch waren! Wie bei solchen Stur- und Hitzköpfen eine für alle annehmbare Übereinkunft zustande kommen sollte, war für Selinde derzeit nicht zu erkennen.

Ihre Gesichtszüge entspannten sich nach den Worten ihrer Tante sichtlich, wie auch ihr Lächeln nun ungezwungener wirkte. Vielleicht war es nun an Selinde, das Ihre zu einer zumindest erträglichen Gesprächsatmosphäre beizutragen.

„Ja, das ist fürwahr eine treffliche Idee!“, sagte sie und nickte Yalagunde dankbar zu. Dann fiel ihr Blick auf die Anrichte in der Ecke, auf der mehrere Karaffen und Gläser standen. „Wie wäre es mit einem gemeinsamen Glas Wein zu Ehren Eurer Mutter, lieber Onkel, welche auch Ugdalfs und meine Großmutter war? Ein auch für uns sehr schmerzlicher Verlust. Ich habe gehört, Ihr wart in ihren letzten Stunden bei ihr? Mögt Ihr meinem Bruder und mir zuvor kurz berichten?“ Dann ging die Baroness zügigen Schrittes zur Anrichte, um eine Karaffe mit Yaquirtaler Sandwein sowie vier Gläser zu holen.

„Selbstverständlich kann Seine Hochwohlgeboren davon künden“, erwiderte Yalagunde auf Selindes Worte, denn Emmeran war noch zu beschäftigt damit, sie vorwurfsvoll anzustieren. Dass sie das Gespräch in neue Bahnen gelenkt hatte, gefiel ihm nicht. Es widerstrebte ihm zutiefst, nicht gleich zum Punkt zu kommen. Aber damit würde er leben müssen. Sie machte das unmissverständlich klar, indem sie auf einen der Stühle deutete – allerdings so, dass es keiner der Perricumer mitbekam.

Einen Augenblick zögerte Emmeran noch, dann folgte er der stillen Aufforderung und ließ sich nieder. Mit Grabesmiene, wohlgemerkt, und nicht ohne seine Linke demonstrativ auf den Schwertknauf zu legen. Die Geste wirkte ziemlich offensiv, Yalagunde aber kannte ihren Gatten gut genug, um zu wissen, dass sie ein Stück weit Selbstversicherung war. Dem Herrn Grafen missfiel die Situation, in der er nicht einfach reden und handeln konnte, wie es ihm beliebte. Wie sonst immer. Da war ein haltgebendes Stück Stahl mehr als willkommen.

„Meine hohe Frau Mutter hat in den späten Mittagsstunden einen Anfall erlitten, von dem sie sich nicht mehr erholte“, meinte Emmeran, nachdem Selinde eingeschenkt hatte und sie alle saßen. „Uns war schnell klar, dass Golgari auf dem Weg zu ihr ist. Sie hatte aber noch genug Zeit, um mit Tsaja und mir zu reden. Sie ist in Frieden gegangen. Und das ist mehr, als vielen von uns dieser Tage gewährt wird.“

Yalagunde nickte zu diesen Worten und griff nach ihrem Weinglas, während sie aufmerksam in die Gesichter von Wallbrords Kindern sah. „Wenn wir also anstoßen, dann tun wir das doch am besten auf ein langes und erfülltes Leben und einen friedlichen Tod“, schlug sie vor. „Einen, der erst kam, nachdem alles geklärt war, was geklärt werden musste, nachdem alles ausgesprochen war, was ausgesprochen werden musste, und der es geliebten Menschen ermöglichte, Frau Tsaja auf dem letzten Stück des Weges zu begleiten.“

Selinde hatte den Ausführungen des Grafenpaares zunächst mit aufmerksamer, dann mit zunehmend nachdenklich wirkender Miene gelauscht, während ihr Bruder diese äußerlich unbewegt zur Kenntnis genommen hatte. Ugdalf fragte sich, was sein Onkel Emmeran überhaupt in die gleichermaßen fernen wie ungeliebten Nordmarken führte, zumal er sich bis dahin einen feuchten Kehricht um seine dortige Verwandtschaft gekümmert hatte. Wollte er sich etwa einen Teil des Erbes seiner siechen Mutter unter den Nagel reißen und quasi nebenbei noch bei Tante Tsaja wieder gegen Wallbrord und seine Kinder hetzen?  Die Familie hatte Emmeran ja nie etwas bedeutet, solange sie nicht nach seiner Pfeife tanzte. Unwillkürlich verdüsterte sich Ugdalfs Antlitz.

Bei seiner Schwester hingegen blieben viel mehr die Worte Yalagundes haften: „... nachdem alles geklärt war, was geklärt werden musste ...“ Ein, wenn man so wollte, guter Zeitpunkt, diese Welt zu verlassen. Und zudem eine elegante Überleitung zum eigentlichen Gesprächsanlass, wie Selinde zugeben musste.
Die Baroness erhob sich mit ihrem Glas und brachte mit getragener Stimme einen Trinkspruch auf ihre Großmutter aus: „Auf Frau Tsaja; geliebte Mutter, Großmutter und Schwiegermutter! Mögest Du in den zwölfgöttlichen Paradiesen Frieden finden und mit Wohlgefallen auf Deine Nachkommen blicken.“
Sprach’s und nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas.

Emmeran und Yalagunde schienen im ersten Moment ein wenig überrascht von der Initiative der Baroness, erhoben sich dann aber wie ein Mann, um ihre Gläser ebenfalls zu heben und auf die jüngst verstorbene Mutter und Schwiegermutter anzustoßen und ihr so die Ehre zu erweisen.

„Wohlgesprochen!“, meinte Yalagunde und lächelte Selinde verbindlich zu.

Emmeran beließ es zwar bei einem knappen Nicken, gleichwohl wirkte die Geste auch bei ihm nicht hohl, sondern als ob es ihm tatsächlich ein Anliegen sei, auf die Mutter anzustoßen, mit der er so viele Jahre über Kreuz gelegen hatte. Vielleicht stimmte es ja, was er sagte, und sie hatten auf ihre letzten Tage tatsächlich Frieden geschlossen?

Auch Ugdalf tat es Selinde gleich, den Blick fest auf den ungeliebten Onkel gerichtet. Den Oberst überkam eine zunehmende Ungeduld; er war der ganzen Floskeln und Höflichkeiten allmählich überdrüssig und wollte endlich wissen, was Emmeran von ihm und seiner Schwester wollte. Nach einem kurzen Augenblick allgemeinen Schweigens wandte er sich mit beherrschter doch kühler Stimme direkt an den Grafen:

„Ich denke, werter Onkel, es wäre nun, wo wir Frau Tsaja noch einmal gedacht und ihr die Ehre erwiesen haben, der rechte Zeitpunkt, mir und meiner Schwester Selinde den Grund unseres Hierseins zu eröffnen, damit auch wir, ganz im Sinne der Verstorbenen, unsere familiären Angelegenheiten ordnen können.“

Selindes Mundwinkel zuckten ob der Worte ihres Bruders kurz und sie blickte für einen Moment zu ihrer Tante herüber, wobei das Mienenspiel der Baroness eine Vielzahl von Gefühlen auszudrücken schien.
‚Jetzt geht es also los‘, ging es Selinde durch den Kopf, während sie innerlich aufstöhnte und sich für die Erwiderung Emmerans wappnete.

Für die Dauer eines Lidschlags glaubte die Baroness auf den Zügen Yalagundes die gleiche Mischung aus Resignation und Entsetzen zu erkennen, die auch sie empfand. Doch die Luringen hatte ihr Mienenspiel rasch wieder im Griff und richtete den Blick auf ihren Gemahl.

Dessen Gesicht wirkte noch recht neutral, in seinen Augen konnte sie jedoch bereits die Ahnung eines ungnädigen Funkelns erkennen. Er war zwar nicht gekommen, um Höflichkeiten auszutauschen, die forsche Art Ugdalfs stieß ihm aber dennoch übel auf. Und Yalagunde ahnte, dass ein Großteil von Emmerans Geduld bereits aufgebraucht war. Gleichwohl schaffte er es irgendwie, ein kühles Lächeln auf seine Lippen zu zwingen, statt direkt loszupoltern. Offenbar hatten die Stunden des pausenlosen Einredens auf seinen Dickschädel doch etwas bewirkt.

„Sicher, ordnen wir“, stellte er knapp fest und bedeutete den anderen, sich wieder zu setzen. Er tat selbiges als Letzter, trank noch einen Schluck Wein und stellte das Glas dann ein bisschen zu energisch auf dem Tisch ab. „Ich habe in den letzten Wochen gelernt, wie viel das wert ist und gedenke, es nicht bei der Ordnung zu belassen, die bereits errungen wurde“, fuhr er dann fort. „Die Verhältnisse zwischen Gratenfels und der Heldentrutz sind geklärt. Also ist es nun an der Zeit, die Verhältnisse zwischen Weiden und Perricum zu klären, damit es fürderhin nichts mehr zu diskutieren gibt.“

Kurz ruhte sein Blick auf Selinde und die Miene wirkte dabei fast aufgeräumt. Dann wanderte er zu Ugdalf weiter und Yalagunde sah, wie die Augen ihres Gatten sich verengten. Schwer zu sagen, ob weil er versuchte, seinen Neffen besser einzuschätzen oder weil ihm im Grunde jetzt schon der Kamm schwoll. Die Stimme immerhin klang beherrscht, als er sie wieder erhob.

„Wir werden uns auseinanderdividieren.“ Emmeran stellte das fest und schlug es nicht vor – und Yalagunde hätte im Anbetracht dessen am liebsten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Ihr Gemahl schien das zu wissen, denn er war so freundlich, näher zu erläutern, worum es ihm ging: „Ihr und wir, Weiden und Perricum, wir gehören schon lange nicht mehr zusammen. Seit 15 Götterläufen gehen wir getrennte Wege und das ist gut so, denn uns verbindet nichts mehr. Außer einer tiefen Feindschaft, einem Namen, auf den Euer Vater nicht verzichten wollte, obwohl es das einzig Richtige gewesen wäre, und einem Wappen, das die Herzogin Eurem Familienzweig seinerzeit gelassen hat, um sein Ansehen nicht zu ruinieren.“

Das hätte man sicher eleganter formulieren können, doch von ihrem Mann war derlei nicht zu erwarten gewesen. Yalagunde zollte ihm hohen Respekt dafür, dass er es schaffte, den Zorn und die Verachtung aus seiner Stimme heraus zu halten. All das, was ihn normalerweise sofort hinfort trug, wenn er über seinen jüngeren Bruder sprach. Gleichwohl, freundlich waren die Worte nicht gewesen und ein Blick in die Gesichter von Wallbrords Kindern verriet ihr, dass Selinde die Ansage ihres Onkels zwar mit Erstaunen aber doch gefasst aufzunehmen schien, während von Ugdalfs Antlitz zunehmender Zorn abzulesen war, der sich vermutlich eher früher als später Bahn brechen würde.

„Nach allem was man hört“, fuhr Emmeran derweil völlig unbeeindruckt fort, „seid Ihr beide heute weder auf den Namen noch auf das Wappen angewiesen.“ Er sah Selinde an: „Ihr habt einen angehenden Baron geehelicht, der selbst einen hehren Namen trägt und hohes Ansehen genießt. Es dürfte Euch kaum etwas kosten, den Namen Löwenhaupt im Sinne des Familienfriedens abzulegen und unseren Löwen aus Eurem Wappen zu bannen. Eure Wurzeln liegen hier, ist es nicht so? In Weiden können sie jedenfalls nicht liegen, dafür sieht man Euch dort zu selten. Eigentlich nie.“

Emmeran machte eine kurze Pause und wandte sich dann Ugdalf zu: „Ihr wiederum steht längst auf eigenen Beinen und werdet Euch als Mann, der etwas auf sich hält, sicher einen eigenen Namen machen wollen, statt den eines Vaters zu tragen, der zuletzt offenbar ohnehin nicht sehr freundlich mit Euch umgesprungen ist.“ Emmerans Augen wurden noch ein wenig schmaler, als er das sagte. „Es wäre auf jeden Fall ein Handeln im ritterlichen Sinne und mir wird allenthalben zugetragen, dass Ihr etwas auf Stolz und Ehre gebt. Wie viele Ehre liegt darin, den Namen und das Wappen einer Familie zu tragen, die lieber gestern als heute schon alle Bande gekappt hätte?“

Es hatte Ugdalf einiges an Selbstbeherrschung gekostet, seinem Onkel ob seiner unverschämten und dreisten Rede nicht ins Wort zu fallen. Was bildete dieser sich ein, so über seinen eigenen Bruder zu sprechen und ihn jetzt, wo er tot war, dergestalt zu schmähen? Dem Oberst wurde aus den Augenwinkeln gewahr, dass seine Schwester im Begriff war, zu alledem etwas zu sagen, doch diesmal war er nicht gewillt, ihr den Vortritt zu überlassen.

„Immerhin, Onkel“, begann Ugdalf rasch und mit recht leiser Stimme, deren verärgerter Unterton für die Anwesenden nicht zu überhören war, „Ihr habt nicht lange um den heißen Brei geredet, sondern seid direkt zum Punkt gekommen. Danke. Es erstaunt mich allerdings, dass Ihr erst jetzt, wo mein Vater – Euer Bruder – tot ist, unsere Familienzweige ‚auseinanderdividieren‘ wollt, wie Ihr es auszudrücken beliebt. Als es um die Regelung der Nachfolge in der Baronie Tante Tsajas in den Nordmarken ging, da wart auch Ihr eingeladen, zogt es aber, im Gegensatz zu meinem Vater und mir, vor, nicht daran teilzunehmen. Eine bessere Gelegenheit, um Euer Anliegen vorzutragen und Euch zugleich mit Eurem Bruder auszusprechen, hätte es meines Erachtens kaum geben können.

Und warum Herr Wallbrord seinen Ruf ruiniert haben soll und auf das weitere Führen des Familienwappens hätte verzichten sollen, habt Ihr bedauerlicherweise vergessen zu erläutern. Zur Erinnerung: Herzogin Walpurga, immerhin auch unser aller Familienoberhaupt, selbst war es, die meinen Vater nach der Vertreibung der Schwarzpelze aus dem Herzogtum zum ‚Edlen der Weidener Lande‘ erhob. Niemand hat dies von ihr verlangt und trotzdem tat sie es! Wie anders soll man diese Ehrung auffassen, denn als Rehabilitierung respektive Anerkennung seiner Leistungen und Verdienste? Und auch später bekleidete er mehrmals hohe militärische Ämter und zog für das Reich in den Kampf – sei es, als er die verbliebenen darpatischen Truppen in der Schlacht der drei Kaiser gegen den Verräter Answin ins Feld führte oder vor zwei Götterläufen das Perricumer Truppenkontingent auf dem Feldzug gen Mendena befehligte, wo er buchstäblich in meinen Armen sein Leben aushauchte. Mein Vater wurde – nachdem er Weiden verlassen hatte, wohlgemerkt, – mehrmals seitens des Reiches ausgezeichnet und schließlich gar von der Kaiserin zum Baron erhoben. Und das zählt alles gar nichts?“

Selindes Unmut darüber, dass Ugdalf sie nicht hatte zu Wort kommen lassen, war rasch zunehmender Verärgerung über die Wortwahl und Ausdrucksweise ihres Bruders gewichen, was sie letztlich zu einem unbewussten Kopfschütteln verleitet hatte. Die Baroness stimmte Ugdalfs feuriger Verteidigungsrede für ihrer beider Vater zwar inhaltlich im Kern durchaus zu – auch wenn sie sich deutlich kürzer gefasst hätte – sah die ihn betreffende Ablehnung in Weiden aber deutlich nüchterner und differenzierter. Ihr war sehr wohl bewusst, dass Wallbrord, ob gewollt oder ungewollt, mit seinen damaligen Taten und seinem Auftreten seinen Teil zu seinem unfreiwilligen Abgang aus dem mittnächtlichen Herzogtum samt dort ramponiertem Ruf beigetragen hatte. Und mit dem Hinweis, dass ihrer beider Vater am Ende seines Lebens – und mit seinem Testament auch darüber hinaus – alles andere als ‚freundlich‘ zu seinem Sohn gewesen war, traf Emmeran zwar ihrer Ansicht nach mitten ins Schwarze, aber zugleich auch einen wunden Punkt in der Gefühlslage seines Neffen, wodurch er dessen Zorn ungewollt nur noch mehr befeuert hatte.

Ugdalf realisierte unterdessen, dass er sich mehr und mehr in Rage geredet hatte, daher nutzte er eine kurze Pause, um einen Schluck Wein zu trinken und seine Stimme wieder etwas zu beruhigen beziehungsweise zu senken.

Just diese Pause nutzte Emmeran, um mit hörbar gereiztem Unterton in die beabsichtigte Fortsetzung der Rede seines Neffen hinein zu grätschen. „Nein!“, meinte er schlicht. „Nein, das alles zählt in der Tat nicht. In Weiden interessiert das niemanden einen Scheißdreck. Wenn Ihr auch nur den Hauch einer Ahnung davon hättet, wie die Dinge bei uns laufen, wüsstet Ihr das. Dann müsste ich Euch jetzt nicht erklären, dass Orden, Plaketten, lobende Erwähnungen und hübsche Titel von der Hand anderer Herrscher – möge es auch dreimal die Kaiserin gewesen sein – niemals ein Unrecht gutmachen können, das unserem Herzogtum und seinen Menschen wiederfuhr. Dazu hätte Euer Vater schon heimkommen und es bei uns versuchen müssen. Aber die Eier hatte er ja nicht!“

Der Trutzer Graf starrte den jungen Perricumer Offizier aus lodernden Augen an und Yalagunde nahm mit leichter Beunruhigung das Mahlen seiner Zähne in der kurzen Atempause wahr. Auch die Tatsache, dass der Griff seiner Linken um den Schwertknauf sich während Ugdalfs Ansprache deutlich verstärkt hatte, schürte nicht gerade Hoffnung in ihr.

„Im Übrigen habe ich nichts zu erläutern vergessen, junger Mann, Ihr scheint mir nur nicht richtig zugehört zu haben“, knurrte Emmeran, bevor einer der anderen Anwesenden auch nur einen Pieps von sich geben konnte. „Ich sagte: UNSERE HERZOGIN HAT EUREM VATER NAMEN UND WAPPEN GELASSEN, UM SEIN EH SCHON BESCHÄDIGTES ANSEHEN NICHT RESTLOS ZU ZERSTÖREN.“ Er betonte jedes einzelne Wort überdeutlich, damit diesmal auch ja nichts überhört werden konnte. „Wenn Ihr glaubt, sie wollte ihn rehabilitieren, irrt Ihr. Sie hat ihn aus falscher Loyalität zu einem Verwandten heraus geschont, der das nicht mehr verdiente – und ganz sicher im festen Vertrauen darauf, dass er selbst weiß, was gut und richtig ist. Dass es sich nicht geziemt, Namen und Zeichen eines Herrscherhauses zu führen, dessen Land und Volk man verraten hat. Leider scheint die Erkenntnis Euren hohen Herrn Vater nie eingeholt zu haben. Ihr dürft mir glauben, dass ich seinerzeit mannigfach versucht habe, ihn zur Einsicht zu bewegen. Er hatte aber nicht die Größe, von dem Ansehen zu lassen, das es ihm einbrachte. Ich hoffe, bei Euch auf mehr Verstand zu treffen!“

Ugdalf konnte während der harschen Gegenrede seines Onkels nur mühsam die Fassung bewahren. Für einen kurzen Moment war er gar versucht, ihn für seine unverschämten Worte zu fordern. Aber auch so war die Gefühlslage des Obersten für die übrigen Anwesenden nur allzu offensichtlich: Der fast schon hasserfüllte Blick, mit dem er den Grafen bedachte, die zu einem Strich zusammengepressten Lippen sowie die Hände, welche die Armlehnen des Stuhls wie Schraubstöcke umklammerten, sprachen Bände.

„Wenn Ihr mit der gleichen Ausdrucksweise wie mir gegenüber versucht haben solltet, meinen Herrn Vater ‚zur Einsicht zu bewegen‘“, begann Ugdalf schneidend, „dann wundert es mich nicht, dass er nicht geneigt war, Euch zuzuhören, geschweige denn zu einer Übereinkunft mit Euch zu kommen. Und Ihr verwendet ein so großes Wort wie ‚Verrat‘ äußerst leichtfertig; unter anderen Umständen hätte ich Euch dafür ... aber lassen wir das. Und überhaupt: Welche Eide soll mein Vater denn gebrochen haben, dass Ihr glaubt, ihn eines der schwersten Verbrechen überhaupt bezichtigen zu können?“

„Er hat seine Familie verraten und damit auch ihr Land“, zischte Emmeran in die Worte seinen Neffen hinein. „Alles, wofür das Haus Löwenhaupt steht, wofür wir seit jeher kämpfen und bluten. Das Wissen darum saugt ein jeder von uns mit der Muttermilch auf. Da brauchen keine Eide drauf geschworen zu werden. Das liegt in der Natur der Sache. Auch das wüsstet Ihr, wenn der Mann Euch im rechten Sinne erzogen hätte und unseren Namen mit der rechten Haltung getragen hätte!“

„Tatsächlich? Warum haben dann weder Euer beider Mutter noch Eure jüngste Schwester Frau Tsaja diese Einschätzung je geteilt, sondern, wie ich aus eigener Erfahrung und Beobachtung weiß, stets auf sehr gutem Fuß mit meinem Vater gestanden? Gibt Euch das nicht zu denken? Sollte man in einer Familie nicht füreinander ein- und einander beistehen? Wo ist Eure Einsicht? Und jetzt, wo er tot ist, versucht Ihr Euren Zwist mit seinen Kindern fortzuführen! Warum? Und wie schon vorhin erwähnt: Ihr hattet beim jüngsten Familientreffen in Meilingen aus Anlass der Neuregelung der dortigen Erbfolge eine sehr gute Gelegenheit, Euch mit eurem Bruder – sozusagen auf neutralem Grund – auszusprechen, doch zogt ihr es vor, daheim zu bleiben. Was sagtet Ihr vorhin noch mal über Eier ... ?“ Mit einer Mischung aus Zorn und Trotz blickte der Oberst seinen Onkel direkt in die Augen.

Selinde legte, in der vagen Hoffnung, dieser möge die Geste bemerken und sich zumindest ein wenig beruhigen oder mäßigen, ihre Hand auf die ihres Bruders, doch war Ugdalf während seiner Rede so sehr auf Emmeran fixiert, dass er seine Schwester gar nicht wahrzunehmen schien. Fieberhaft suchte die Baroness nach einer Möglichkeit, diesen verbalen Schlagabtausch zu unterbrechen, ohne einen der beiden Streithähne vor den Kopf zu stoßen und so die Lage noch weiter zu verschlimmern. Allein, ihr wollte partout nichts Rechtes dazu einfallen.

„Wallbrod war nicht mehr Familie und es gab auch nichts, worüber ich noch mit ihm hätte reden müssen! Der Mann war tot für mich, und zwar schon seit vielen Jahren“, erwiderte Emmeran unterdessen mit Grabesstimme. Für den Moment wirkte er erstaunlich ruhig, doch Yalagunde wusste, dass der Eindruck täuschte. Sie sah, wie die linke Hand ihres Gemahls sich um den Griff seines Schwertes erst öffnete und dann wieder schloss – so fest, dass die Haut weiß über den Knöcheln spannte. Sie sah auch, dass die Rechte zuckte. In Richtung der Handschuhe, die unter seinem Gürtel steckten. Die Grafengemahlin schloss die Augen und seufzte leise. Am liebsten hätte sie sich im Anbetracht des drohenden Ausbruchs auch die Ohren zugehalten, aber das wäre dann doch ein bisschen zu auffällig gewesen.

„Und was meine Eier betrifft“, knurrte der Graf der Heldentrutz mit einer Stimme, die Donnergrollen glich – dräuend und leise anlief, sich jedoch rasch zu einem markerschütternden Dröhnen steigerte. „Bist du des Wahnsinns, Balg? Mir damit zu kommen? Weißt du eigentlich, mit wem du hier redest? Ich bin der Herrscher der Heldentrutz, Graf, Vetter der Herzogin und ein Weidener Ritter, nicht einer dieser befehlsempfangenden Speichellecker, die jeden Tag ihren würdelosen Dienst unter dir verrichten und sich derartige Frechheiten bieten lassen müssen. Wenn du glaubst, derlei von dir geben zu können, ohne dass ich dich hernach übers Knie lege und dir den Benimm einprügle, den dein Vater zu vermitteln offenbar versäumte, bist du ein noch größerer Hornochse als gedacht!“

Yalagunde öffnete die Augen wieder, um einen prüfenden Blick in das Gesicht des so Gescholtenen zu werfen. Das wurde erst kreideblich vor Entsetzen und dann puterrot vor Zorn. Kurz starrte Ugdalf seinen Onkel fassungslos an und schnellte dann hoch, einfach weil er sich in diesem Moment der Entrüstung nicht auf seinem Stuhl halten konnte. Der Oberst stand noch nicht richtig, als Emmeran gleichzog: Nicht rasch, sondern geradezu grotesk langsam erhob er sich von seinem Stuhl und wuchs und wuchs dabei in die Höhe, bis er seinen Neffen fast um Haupteslänge überragte. An seiner Schläfe pulste eine dicke Ader und in die Augen funkelte ein beinahe wahnhafter Zorn.

Mit zunehmendem Entsetzen verfolgte Selinde dieses immer weiter eskalierende Kräftemessen von Onkel und Neffe. Der Punkt, an dem beide Seiten noch ohne Gesichtsverlust hätten zurückstecken können, war ihrer Meinung nach längst überschritten. Jetzt gab es, so sah es jedenfalls die Baroness, für die beiden Männer in ihrem verbohrten Stolz und verqueren Ehrgefühl nur noch die Möglichkeit, ihren Disput durch schiere Gewalt zu beenden. Dies wollte die Perricumerin jedoch unbedingt verhindern. Sie war gerade im Begriff, aufzustehen und sich zwischen die beiden Streithähne zu stellen, als sich die Situation schlagartig noch einmal änderte.

„Ich werd dir deine krummen Hammelbeine langziehen, du Mis...“, knurrte Emmeran just, doch dann ging die Tür plötzlich auf.

Ein Mann mit polierter Glatze, Dreitagebart und schüchternem Grinsen steckte seinen Kopf herein: „Tante Gundi?“ Er verharrte kurz, ehe er in den Raum stürzte, seine Arme ausbreitete und freudig auf Yalagunde zutrat.

Ugdalf und Selinde waren für einige Momente schlichtweg sprachlos. Zu surreal erschien ihnen die neue Situation, wie einem äußerst schlechten Hellerroman. Selinde gewann als Erste die Fassung wieder und trat an die Seite ihres Bruders, um ihn besser von etwaigen Torheiten abhalten zu können. Diese Sorge schien nicht ganz unbegründet, denn kaum hatte auch Ugdalf seine Überrumpelung abgeschüttelt, bedachte er seinen Onkel wieder mit finsteren Blicken. Er schaffte es aber, wenn auch sichtlich bemüht, in Gegenwart dieses merkwürdigen Neuankömmlings Haltung zu bewahren.

Yalagunde erhob sich unterdessen ebenfalls. Sie dachte keinen Augenblick darüber nach, wie bizarr die Situation war. Wie seltsam es war, dass ihr Neffe Drego verfrüht von der Feier in Rallerspfort zurückkehrte und ausgerechnet in diesem Moment in den Raum platzte. Die Luringen folgte ihrem Instinkt, öffnete die Arme und hieß den Grafen von Reichsforst willkommen.

„Wie lange ist das her?“, fragte der, als er sie aus seiner Umarmung entließ. „Bei Peraine, da hatte ich noch Haare! Oder hatte ich überhaupt schon einen Bart? Mensch, ist das schön, dass Ihr Eure Familienfeier hier bei uns macht. Mutter wird sich auch wahnsinnig freuen, wenn Ihr nachher zum Essen kommt. Wir haben übrigens den schönen Raum in Alderans Turm für Euch herrichten lassen. Vater hat immer gesagt: ‚Das ist der einzige Raum in der Burg, der immer Sonne hat, wenn sie scheint!‘ Ach, Vater ... du hast ihn wohl auf ‘nem Hoftag das letzte Mal getroffen, oder? Oh – wie unhöflich, Onkel Emmi...eran! Ich bin’s doch, dein Neffe Drego. Oh, ich kann gar nicht aufhören zu reden, so sehr freue ich mich!“
 
Drego holte das erste Mal richtig Luft und gab seinem Besuch Gelegenheit zur Antwort – nur dass die ausblieb. Es herrschte Totenstille im Raum und alle starrten ihn an, als sei er ein mehrfach gehörnter Dämon statt des gutgelaunten Neffen Yalagundes.

„Es freut mich auch sehr“, meinte die etwas lahm, als sie sich nach einem Moment des stummen Ringens wieder fasste. „Freut mich sehr, dich zu sehen, mein Lieber. Und wir müssen uns unbedingt unterhalten. Später. Wenn wir mit dieser Unterredung fertig sind.“

„Oh ... störe ich etwa?“, fragte Drego halb bestürzt, halb ungläubig. Ein bisschen so, als könne er sich das beim besten Willen nicht vorstellen.

„Nein, Drego, du störst nicht. So würde ich das nicht nennen“, wandte Yalagunde beschwichtigend ein. „Es ist nur so, dass wir gerade eine wichtige Familienangelegenheit zu klären haben. Eine löwenhauptsche, keine, die das Haus Luring betrifft. Ich gelobe aber, dass wir heute Abend genug Zeit haben werden, uns auszutauschen.“ Sie lächelte und nickte verbindlich, während Emmeran ein dumpfes Grollen ausstieß, das ihre freundlichen Worte ad absurdem führte. Der Graf der Heldentrutz sah aus, als hätte er seinem Neffen am liebsten den Hals umgedreht – und das sicher nicht zuletzt, weil der gerade drauf und dran gewesen war, ihn vor seiner unliebsamen Perricumer Verwandtschaft „Emmi“ zu heißen.

Bevor die Situation noch unmöglicher werden konnte, erschien ein schöner Mann von Mitte Vierzig in der Tür – elegant gewandet, höfisch geschult und sehr gerade –, um den Reichsforster Grafen an die Verpflichtungen zu erinnern, die es nach seiner Rückkehr an den Hof als Erstes zu erfüllen galt.

Selinde nutzte diese kurze Gesprächspause, um Ugdalf und sich selbst Graf Drego angemessen vorzustellen. Immerhin waren sie auf seiner Burg zu Gast und eine solche Vorstellung allein darob schon ein Gebot der Höflichkeit. Ugdalf beließ es bei einer Verbeugung, schwieg ansonsten aber weiterhin. Seine Schwester war darüber zwar nicht glücklich, sich aber in Anbetracht der noch vor wenigen Momenten herrschenden Umstände darüber im Klaren, dass ihr Bruder derzeit für eine freundliche Plauderei ganz und gar nicht zu haben war.

„Ach ja, ich muss ja ... wichtig, wichtig“, meinte Drego da. „Das ist übrigens Ritter Rudon von Zwillingsstein, unser Schwertmeister hier auf Luringen und Landvogt der Luringer Lande. Wenn sich dein bester Schwertkämpfer eine Lektion abholen möchte, Onkel Emmeran, dann ist Rudon dein Mann!“
 
„Ich denke, Hochwohlgeboren, dass Euer Onkel diesen Vorschlag gewiss bedenken wird, sobald seine dringenden Familienangelegenheit es erlauben“, hob Rudon an. „Kön... ?“
 
„Ich finde, jetzt ist ein guter Zeitpunkt“, fiel Yalagunde dem Schwertmeister einer plötzlichen Eingebung folgend ins Wort. Das Gespräch mit Ugdalf und Selinde hatte eine grundfalsche Wendung genommen, daran gab es nichts zu deuteln. Sinnlos, es in der jetzigen Besetzung fortführen zu wollen. Sobald Drego den Raum verließ und Emmeran sich daran erinnerte, was vor dem überraschenden Auftauchen ihres Neffen geschehen war, würde die Situation eskalieren – und das galt es unbedingt zu verhindern! Also schenkte sie Ritter Rudon ein strahlendes Lächeln und hoffte, dass er begriff, was sie von ihm wollte. „Da mein Gemahl sein eigener bester Schwertkämpfer ist, würde ich vorschlagen, Ihr nehmt ihn mit, um ihm Euer Können zu zeigen.“ Yalagunde räusperte sich leise und deutete auf das Schwert an Emmerans Seite: „Es lag ohnehin in seiner Absicht, sich heute noch im Kampf zu üben.“

Nachdem das gesagt war, richtete sie das Augenmerk auf ihren Mann, der sie erst ungläubig anstierte und dann ein ungehaltenes „Was soll das?“ zischte.

„Ich verspreche, dass Ihr späterhin noch Gelegenheit haben werdet, Euren Hader mit Herrn Ugdalf beizulegen, Hochwohlgeboren“, säuselte sie, während sie versuchte, Emmeran mit einem stählernen Blick klarzumachen, dass dies der Zeitpunkt war, an dem sie die Verhandlungen übernahm. Sie hatten diese Möglichkeit vorher schon theoretisch erörtert. Schließlich wusste sie, wie schwierig Streitgespräche mit ihrem Gemahl mithin wurden und war es gewöhnt, an besonders heiklen Stellen zu übernehmen oder hinterher die Scherben aufzukehren. In diesem Fall würde wohl beides nötig sein. Aber im Anbetracht der Bedeutung dieser Unterredung war sie bereit, die Mühe auf sich zu nehmen. „Die Standpunkte sind ausgetauscht, oder nicht?“, fügte sie an. „Lass mich nunmehr nach einem Kompromiss suchen, den ich dir dann übermittle und der natürlich nur mit deiner Zustimmung gültig werden kann.“

Emmeran verzog das Gesicht zu einer unzufriedenen Grimasse und schien geneigt, abzulehnen, als der Zwillingssteiner Yalagunde zur Seite sprang. „Es wäre mit eine Ehre, Hochwohlgeboren!“, sagte er, während sie den Göttern für seine rasche Auffassungsgabe dankte. Danach ging es noch ein paarmal hin und her und schließlich fügte sich Emmeran brummend in sein Schicksal. Allerdings nicht, ohne Ugdalf noch einen flammenden Blick zuzuwerfen: „Wir beide sind noch nicht fertig miteinander, klar?!“

Daraufhin umarmte Drego seine Tante noch einmal herzlich, ehe er zu seinen Verpflichtungen verschwand und Schwertmeister wie Onkel mit sich nahm. Im Flur hörte man ihn bereits ein Liedchen pfeifen, ein fröhliches Jagdlied – und Yalagunde konnte nicht anders, als nahezu unmerklich den Kopf zu schütteln. Es dauerte allerdings nur ein, zwei Herzschläge, bis sie Ugdalf und Selinde ins Auge fasste. „Reden wir“, meinte sie bestimmt, wartete aber erst noch ab, ob einer der beiden nach den Geschehnissen von eben irgendein bestimmtes Anliegen hatten, das es zu klären galt, bevor sie in das eigentliche Gespräch einstiegen.
 
Selinde war nicht entgangen, wie geistesgegenwärtig und zugleich elegant Yalagunde ihren Gemahl gewissermaßen hinauskomplimentiert und somit das Ihre dazu beigetragen hatte, diese kurz zuvor noch hoffnungslos verfahren erscheinende Zusammenkunft neu zu beleben. Zeit, es ihr gleichzutun. Ein Gespräch unter vier Augen erschien der Baroness allemal erfolgversprechender.

Sie begab sich erneut zur Anrichte, diesmal, um ihr Glas mit einem Almadaner Roten zu füllen. Auf dem Weg zurück schien sie jedoch zu stolpern, sodass sich der edle Tropfen über Ugdalfs Wappenrock ergoss. „Wie ungeschickt von mir“, rief sie. „Bitte entschuldige, Bruder. Und wenn wir schon eine unfreiwillige Unterbrechung einlegen müssen, können wir uns auch gleich bis zum Abendessen vertagen, oder nicht? Geh’ schon mal vor, ich möchte unsere Tante noch kurz etwas zu ihrem Kleid fragen, bevor ich mich ebenfalls zurückziehe.“

Der Angesprochene schüttelte missbilligend den Kopf: Offenbar hatte Selinde nicht begriffen, dass es hier nicht um modische Torheiten, sondern um Ehre und Zukunft der Familie ging! Wen interessierten da irgendwelche Kleider? Dem Oberst war jedoch zwischenzeitlich die Lust am Diskutieren vergangen, weshalb er sich lediglich mit einem knappen „Bis nachher“, gefolgt von einer kurzen Verbeugung in Richtung seiner Tante, verabschiedete.

Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, wandte sich Selinde mit einem Lächeln an Yalagunde. „Ich hoffe, Ihr verzeiht mir mein kleines Schauspiel, doch leider bot sich mir nicht die Möglichkeit, meinen Bruder so elegant hinauszubefördern, wie Ihr es bei Eurem Gemahl konntet. Ich denke, die Abwesenheit der beiden Herren kann uns nur zum Vorteil gereichen. Und nun möchte ich Euren Vorschlag aufgreifen: Reden wir! Bis zum Abendessen sollten wir hoffentlich ungestört sein. Möchtet Ihr noch etwas zu trinken?“

„Ich habe noch, vielen Dank“, meinte Yalagunde und deutete mit einer vagen Geste auf ihren Pokal, während der Blick auf der geschlossenen Tür ruhte. Einen Moment schien sie ganz in Gedanken, dann wandte sie sich Selinde zu und lächelte mild.

„Ich hatte gehofft, es reicht, einen der beiden aus dem Raum zu entfernen“, meinte sie. „Doch Ihr kennt Euren Bruder besser als ich. Wenn sein Gemüt stets so hitzig ist, wie ich es gerade erlebt habe, will er meine Worte vermutlich genauso wenig hören wie die meines Herrn Gemahls. Ich muss Euch warnen: Inhaltlich werden sie sehr wahrscheinlich nicht wesentlich anders sein. Aber in der Form.“ Sie griff nach dem Weinpokal und genehmigte sich einen Schluck. „Macht Ihr doch bitte den Anfang, Hochgeboren. Erzählt mir, was Euch und Euren Bruder mit dem Herzogtum Weiden und seinem Herrscherhaus verbindet, dass der Name Löwenhaupt Euch so viel gilt. Ich habe Euch nie in der Mittnacht gesehen und von Besuchen bei der Verwandtschaft ist mir auch nichts bekannt ...“

„Lasst es mich so sagen, geschätzte Tante“, sprach Selinde mit einem weiterhin leicht verschmitzt wirkenden Lächeln, „Ich denke, wir können ohne die beiden Herren weitaus eher und vor allem mit geringerer Lautstärke zu einer Übereinkunft kommen. Außerdem bietet ein Vier-Augen-Gespräch viel mehr, sagen wir, Möglichkeiten, Dinge offen auszusprechen und zu erörtern, als dies in der bisherigen Konstellation möglich wäre, ohne dass es wieder zu einem zumindest verbalen Schlagabtausch käme, der jede mögliche Einigung womöglich schon früh zunichtemachte.“ Die Baroness legte eine kurze Pause ein, um sich zu setzen und einen Schluck zu trinken, bevor sie wieder das Wort ergriff.

„Ich erwarte von Euch keine andere Sichtweise der Dinge, als sie Euer Gemahl hegt, so wie auch ich in den wesentlichen Punkten im Kern einer Meinung mit meinem Bruder bin, was Euch, denke ich, ebenfalls nicht überraschen dürfte. Es stimmt: Meinen Bruder und mich verbindet mit dem mittnächtlichen Herzogtum mittlerweile kaum noch etwas. Aber ist dies verwunderlich? So wie man unseren Vater dort – ob nun zu Recht oder Unrecht, sei einmal außen vor gelassen – nicht erst seit seiner Demission als Marschall geschmäht und zum Namenlosen gewünscht hat? Und mein Bruder erfuhr von diversen Weidener Adligen bei verschiedenen Anlässen, etwa Hoftagen und Turnieren, eine ähnliche Behandlung, ohne dass er selbst sich in Bezug auf das Herzogtum oder das Haus Löwenhaupt jemals etwas hätte zuschulden kommen lassen.“

Ein bitterer Zug umspielte Selindes Lippen. „Warum also hätten wir die Mittnacht besuchen sollen, wenn wir dort offensichtlich nicht willkommen sind? Man mag von meinem Vater und seinem damaligen Tun halten, was man will, aber warum sollen seine Kinder dessen tatsächliche oder vermeintliche Schuld teilen? Und damit komme ich dann zum zweiten Teil Eurer Frage: Warum sollten mein Bruder und ich den Namen Löwenhaupt ablegen? Wir haben ihn, korrigiert mich bitte, wenn ich da etwas übersehe, immer in Ehren gehalten und ihm niemals Schande bereitet. Warum muss man die Stammprovinz eines Adelshauses mehr oder minder regelmäßig besuchen, um so einen Namen weiterführen zu dürfen? Nehmt das ehrwürdige Haus Ehrenstein: Dessen Mitglied Graf Brandil ist seit vielen Götterläufen Herr der almadanischen Grafschaft Ragath weitab vom tobrischen Stammland der Familie. Oder nehmt die Familie meiner Mutter, das Haus vom Berg. Auch da ist mir kein Fall bekannt, wo jemand diesen Namen hätte ablegen müssen, weil er sich seit einem längeren Zeitraum nicht mehr in den nordmärkischen Stammlanden aufgehalten hätte. Derlei Beispiele mag es gewiss noch so einige geben. Warum erwartet man dergleichen nun von Ugdalf und mir?“

Erneut machte die Adlige eine Pause, um etwas zu trinken. „Und was wir ebenfalls nicht so recht verstanden haben: Warum hat unser Onkel, Euer Gemahl, um dieses Treffen, nun ja, gebeten und nicht Herzogin Walpurga als Familienoberhaupt? Wäre es nicht an ihr gewesen, in dieser Sache eine Klärung herbeizuführen? Das soll mitnichten eine Kritik an Euch und Herrn Emmeran sein, sondern eine reine Verständnisfrage.“

Deutlich verbindlicher und wieder mit einem leichten Lächeln auf den Lippen fuhr die Baroness schließlich fort: „Mir ist bewusst, dass ich jetzt sehr viel geredet habe, aber dies erschien mir angebracht, um Euch meine Sicht der Dinge zu meines Onkels Anliegen und Ausführungen adäquat darlegen zu können, damit Ihr sie besser einschätzen respektive nachvollziehen könnt. Es mag Euch vielleicht an dieser Stelle überraschen, aber ich bin dennoch bereit, Euch in der Frage der Familienzugehörigkeit im Allgemeinen und des Namens im Speziellen entgegenzukommen, unabhängig davon, ob ich die Gründe Eures diesbezüglichen Vorstoßes teile oder auch nur nachzuvollziehen vermag. Ich bin guter Dinge, dass es uns beiden gelingen wird, diese alte aber offenbar immer noch schwärende Wunde zu schließen, die in besonderem Maße unsere Männer zu plagen scheint. Wichtig ist nur, dass eine etwaige Übereinkunft für alle Beteiligten akzeptabel, endgültig und vor allem gesichtswahrend ist.“

„Frau Walpurga hätte niemals um ein Treffen gebeten, Liebes. Sie hätte Euch einbestellt, um ihre Entscheidung in dieser Sache zu verkünden. Ohne Verhandlungen. Und als Oberhaupt der Familie hätte sie sich damit in den Grenzen des Zulässigen bewegt, das wisst Ihr so gut wie ich“, meinte Yalagunde ruhig. Sie fing von hinten an, doch Selinde war klar, dass sie auch noch zum ersten Teil der Rede kommen würde. Die Miene der Grafengemahlin hatte nämlich am Anfang schon verraten, dass es ihr schwerfiel, die Baroness ausreden zu lassen. „Dass mein Gemahl und ich hier sind, um einen solchen Eklat zu verhindern, ist ein Zugeständnis des engeren Familienkreises. Selbst wenn es auf den ersten Blick nicht so wirken mag. Denn auch dies ist Fakt: Frau Walpurga wird nicht immer Herrscherin der Mittnacht bleiben. Ihr Erbe ist ein Mann, und wie Ihr gerade schon ganz richtig feststelltet, kämpfen vor allem die mit den Wunden, die in der Vergangenheit geschlagen wurden.“

Mehr sagte Yalagunde nicht, sondern überließ es Selinde, ihre Schlüsse aus den bisherigen Worten zu ziehen. Dafür machte sie eine kurze Pause und nippte an ihrem Wein, während sie die Nichte ihres Gatten nicht aus den Augen ließ.

„Natürlich muss man nicht in der Provinz bleiben, aus der ein Name stammt, um diesen tragen zu dürfen“, führte sie dann aus. „Aber es wäre wünschenswert, dass man in dieser Provinz – oder doch wenigstens bei den Namensvettern – wohlgelitten ist. Sonst hält man ein Band aufrecht, das für beide Seiten nichts als Qual bedeutet. Mir ist nicht entgangen, dass Euer Bruder angefeindet wird, Selinde. Das ließe sich jedoch leicht abstellen, indem er sich vom Namen Löwenhaupt trennt. Sobald dies der Fall ist, wird nämlich kein Weidener mehr einen Anlass haben, Unmut zu äußern. Denn allein darum geht es: Dass Euer Familienzweig den Eindruck erweckt, es würde eine enge Verbindung zum Herrschergeschlecht der Bärenlande bestehen. Was nicht mehr der Fall ist, seit Euer Vater der Familie schwere Schande bereitete und fürderhin in Weiden nicht mehr erwünscht war.“

Die Luring hob beschwichtigend die Hand, als sie sah, dass sich in ihrer Gesprächspartnerin Widerspruch regte. „Lasst mich ausführen.“ Sie suchte einen Moment nach Worten. „Ihr seid nie in Weiden gewesen und wisst offenbar nicht, wie das Leben dort läuft. Was wichtig ist und was nicht. Es unterscheidet sich bestimmt stark von dem, was Ihr kennt. Bei mir war es jedenfalls so.“ Sie lächelte die Baroness an. „Titel etwa interessieren in der Mittnacht kaum jemanden. Familie und Ehre hingegen stehen über allem. Ihr macht Euch vermutlich keine Vorstellung davon, wie eng beides verzahnt ist. Wenn einer fehlgeht, wird die Schmach auf alle Schultern verteilt. Die Weidener sind Großmeister in Sachen Sippenhaft – und nicht zuletzt deshalb stets so bemüht, sich ehrenvoll zu betragen. Sie wollen nicht nur ihren Ruhm, sondern den der ganzen Familie mehren, die im Zweifel voller Stolz auf ihre Ahnen blickt.“

Yalagunde machte eine kurze Pause und sah ihrem Gegenüber dann direkt in die Augen: „Euer Vater, Selinde, hat seinerzeit fast 300 Ritter in den Tod geführt und wollte das Herzogtum danach dem Feind preisgeben. Damit hat er nach herrschender Meinung in Weiden, nicht nur seine eigene Familie verraten, sondern auch Tausende andere Familien. Familien, die bis zum bitteren Ende gekämpft und schmerzvolle Verluste eingefahren haben. Die Überlebenden und ihre Nachfahren werden niemals vergessen, was passiert ist. Dabei ist irrelevant, ob Herr Wallbrord gehandelt hat, wie es sich für einen kaiserlichen Marschall geziemt oder nicht. Wie ich schon sagte: Titel interessieren nicht. Es zählt die Familie, es zählen Ehre und Treue und die Liebe zur Heimat. Ich muss Euch nicht erklären, wie die Geschehnisse von damals selbst heute noch wirken, wenn man sie von diesem Standpunkt aus betrachtet?!“

Yalagunde drehte ihren Pokal gedankenverloren in der Hand. „Es dauert mich sehr, dass Ihr nun die Leidtragenden seid, aber daran wird sich unter den gegebenen Umständen niemals etwas ändern. Herr Wallbrord ist nicht in die Heimat seines Vaters zurückgekehrt, um zu sühnen, und ihr könnt seine persönliche Schuld nicht aus der Welt schaffen. So gut wie niemand in der Mittnacht versteht, warum er im Anbetracht der orkischen Übermacht entschieden hat, wie er entschied. Ferner hat Herr Wallbrord die Bande nicht selbst gekappt, was nach Weidener Maßstäben der einzig ehrenhafte Weg gewesen wäre, den Konflikt beizulegen. Indem er an der Verbindung festhielt und indem ihr dieses Erbe nun fortführt, ist der Name der Herzogenfamilie dauerhaft bemakelt. Das ist nichts, was irgendjemand in den Bärenlanden auf die leichte Schulter nimmt – oder jemals nehmen wird.“

Die Grafengemahlin hob die Schultern und schenkte Selinde ein verbindliches Lächeln: „Ihr sprecht davon, dass es eine gesichtswahrende Lösung geben muss. Und ich gebe Euch Recht. Die kann aber niemals darin bestehen, dass ihr auf Namen und Wappen beharrt, denn beides schmälert das Ansehen Euer Weidener Verwandtschaft und ist mithin das Gegenteil von gesichtswahrend. Lasst uns nun darüber sprechen, was wir Euch geben müssen, damit ihr von beidem lasst.“