Eine angenehme Reise zu einer (un)angenehmen Begegnung
Burg Luring in Gräflich Luring, Königreich Garetien
Mitte Rondra 1041 BF
Selinde und Ugdalfs Reise war bei fast durchgängig schönem Wetter ereignislos gewesen. Beide hatten die Zeit unterwegs letztlich sogar ein wenig genossen: Keinerlei Verpflichtungen, eine schöne Landschaft, gutes Essen – wäre der Hintergrund ihres Ritts nicht so ernster Natur gewesen, ein unbeteiligter Beobachter hätte glauben können, die beiden Geschwister befänden sich auf dem Weg in die Sommerfrische.
Dies sah zu Beginn der Reise noch ganz anders aus: Selinde verfiel zuweilen in Melancholie, da sie ihre Tochter sehr vermisste und Ugdalfs Stimmung war zunächst sehr düster, da er seinem Onkel immer noch grollte und nicht wirklich vom Sinn des Treffens überzeugt war. Und die Nachricht über den Tod ihrer Großmutter Tsaja der Älteren hatte auch nicht gerade zu einer Hebung der Laune beigetragen. Etwas Gutes hatte der Ritt jedoch schon jetzt bewirkt: Er hatte die beiden Geschwister, die sich zuvor nur selten für längere Zeit gesehen hatten, einander wieder etwas näher gebracht, obwohl oder gerade weil beide die größten Streitthemen, bewusst oder unbewusst, ausgeklammert hatten: ihre Halbschwester Elissa und das Verhältnis zu ihrer aller Vater Wallbrord. Am späten Nachmittag kam endlich die prächtige Silhouette von Burg Luring in Sicht und damit auch das Ende der Reise mitsamt der guten Stimmung.
„Nun werden wir bald sehen, was für einen warmherzigen Empfang unser lieber Onkel uns zugedacht hat“, brummte Ugdalf.
„Ich muss zugeben, auch ich sehe dem Zusammentreffen nun mit eher gemischten Gefühlen entgegen“, gab Selinde zu. „Andererseits ist Emmerans Gemahlin Yalagunde , wenn ich mich recht entsinne, eine kluge und umgängliche Frau. Ach ja, musstest Du heute unbedingt einen Wappenrock mit den Farben unserer Familie statt Deines persönlichen Wappens tragen? Meinst Du nicht, dass Du damit unseren Onkel schon gleich bei der Begrüßung in Rage bringst?“
„Mag sein, dass Yalagunde, die wir übrigens seit etlichen Götterläufen nicht mehr gesehen haben, immer noch recht verträglich ist, nur haben wir uns ja letztlich nicht mit ihr, sondern ihrem werten Gatten herumzuschlagen. Und die Wahl meiner Kleidung lasse ich mir ganz gewiss nicht von einem fernen Onkel vorschreiben, von dem ich bisher noch nie etwas Gutes erfahren habe.“
Selinde schüttelte leicht den Kopf und verzichtete auf eine Erwiderung. Die nächsten Tage konnten ja heiter werden, stellte sie sarkastisch fest.
Auf dem Burghof angekommen, winkte Selinde einen Bediensteten zu sich: „Melde Frau Yalagunde, dass Ihre Nichte und ihr Neffe angekommen sind und sich auf das Treffen mit ihr freuen.“
„Ich freue mich ganz und gar nicht“, raunte Ugdalf seiner Schwester zu, „und warum meldest Du ihr unsere Ankunft und nicht Emmeran?“
Die Angesprochene verdrehte die Augen und stöhnte kurz auf, bevor sie leise erwiderte: „Erstens hat Höflichkeit noch niemandem geschadet. Und zweitens befinden wir uns auf Burg Luring in der Grafschaft Reichsforst, die von einem Verwandten Tante Yalagundes regiert wird. Wem sollten wir da wohl unsere Ankunft melden? Und versuch’ wenigstens, nicht gleich bei der Begrüßung alles Porzellan zu zerschlagen, das Du finden kannst, kleiner Bruder.“ Die letzte Spitze konnte sich die leicht genervte Baroness nicht verkneifen, die wusste, wie sehr er diese Bezeichnung hasste.
„Hrmpf. Sei es wie es sei, große Schwester. Jetzt gilt es.“
„Ja, jetzt gilt es.“
Der Kastellan der Burg nahm die beiden Neuankömmlinge in Empfang und geleitete Sie persönlich zu ihren Gemächern.
„Es ist alles vorbereitet, Euer Hochgeboren, Euer Wohlgeboren. Ich hoffe, die Zimmer sind nach Eurem Geschmack."
Während Ugdalf seines nur mit einem kurzen, eher desinteressierten Blick bedachte, nahm sich seine Schwester Selinde etwas mehr Zeit und quittierte ihre Unterkunft mit einem anerkennenden Nicken. Solch’ großzügig und gediegen gestaltete Zimmer standen im Norden Perricums zumeist nicht einmal den Baronen zur Verfügung, wie sie aus eigener Erfahrung wusste.
„Ich werde den Herrschaften umgehend ein Bad bereiten und einen Imbiss bringen lassen. Ihre Hochwohlgeboren Yalagunde von Mersingen und seine Hochwohlgeboren Emmeran von Löwenhaupt erwarten Euch zur nächsten Hesindestunde im kleinen Salon. Bis dahin haben die Herrschaften Gelegenheit, sich von der Reise zu erholen. Ein...“
„Wie ungemein großzügig von meinem gräflichen Onkel, uns noch so viel Zeit zu gewähren“, fiel Ugdalf mit vor Sarkasmus triefender Stimme dem Kastellan ins Wort. „Wir werden uns die Zeit bis dahin schon irgendwie zu vertreiben wissen.“ Das entnervte Kopfschütteln seiner Schwester ignorierte er hierbei gekonnt.
„Äh, ja“, fuhr der Verwalter der Burg sichtlich irritiert fort, „Sei es wie es sei: Ein Bediensteter wird Euch zu gegebener Zeit aufsuchen und zu Euren Verwandten geleiten. Wenn ich mich nun empfehlen darf?“
Mit einem freundlichen Lächeln entließ Selinde den Mann, der sich zügigen Schrittes von ihnen entfernte. Kaum waren die Geschwister alleine auf dem Gang, packte Selinde ihren überraschten Bruder am Arm, zog ihn in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter ihnen.
„Es reicht, Ugdalf!“, herrschte sie ihn an. „Du benimmst Dich unmöglich! Versuch’ wenigstens gegenüber den Bediensteten und unseren Gastgebern so zu tun, als freutest Du Dich auf das anstehende Gespräch. Oder willst Du Dich schon jetzt hier unbeliebter machen als unser Onkel, was wahrlich eine Leistung wäre?“
„Hmpf.“
„Ich werte das mal als Zustimmung zu meinen Worten“, konstatierte Selinde mit einem leicht spöttischen Lächeln.