Neue Hoffnung und alter Zorn
Burg Trollwacht und Reichsstadt Perricum, Markgrafschaft Perricum
Mitte Praios 1041 BF
Selinde fütterte ihre kleine Tochter Leonore, etwas, das sie ebenso selten wie ungern der Amme oder den übrigen Bediensteten der Burg überließ. Die Schwiegertochter des Barons von Zackenberg erinnerte sich oft an ihre eigene, eher bedrückende Kindheit. Materiell fehlte es ihr damals an nichts, doch bekam sie ihre Eltern nur selten zu Gesicht und wenn, dann gehörten Herzlichkeit und Einfühlungsvermögen nicht unbedingt zu deren hervorstechendsten Charaktereigenschaften. Ihr Vater Wallbrord war als Offizier kaum daheim, während ihre Mutter Fredegard die Kinder eher als eine Art lebende Puppen behandelte, die es entsprechend auszustaffieren und zu präsentieren galt. Nein, Selinde wollte es bei ihrer Tochter besser machen. Viel besser.
Ein recht lautes Klopfen an der Tür ließ die Baroness zusammenzucken und den Löffel mit dem für Leonore bestimmten Brei zu Boden fallen.
„Herein!“, knurrte Selinde unwirsch.
„Verzeiht die Störung, Herrin“, begann ein junger Diener sichtlich verlegen, „aber vorhin ist eine Nachricht für Euch persönlich abgegeben worden. Sie sei sehr dringend und solle Euch umgehend vorgelegt werden.“ Mit diesen Worten übergab der Bedienstete das gesiegelte Schreiben und zog sich auf einen Wink Selindes hin zurück.
Diese betrachtete unschlüssig den Brief. Zunächst hatte sie gedacht, er stamme von ihrem Bruder Ugdalf oder ihrer beider Mutter Fredegard, doch die Handschrift auf dem Umschlag gehörte keinem der beiden, wohingegen das Siegel das des Trutzer Grafenhauses war. Selindes Neugier war geweckt. Diese sollte sich noch steigern, als sie den Brief geöffnet und das darin befindliche Schreiben gelesen hatte. Der Verfasser war niemand Geringeres als ihr Onkel Emmeran von Löwenhaupt, Graf der Heldentrutz und Bruder ihres verstorbenen Vaters Wallbrord. In seiner Depesche lud er seine Nichte auf Burg Luring nach Garetien ein, wobei der Ton des Schreibens eher einer Vor- denn einer Einladung entsprach, um „wichtige Familienangelegenheiten, die keinen Aufschub dulden“ zu besprechen.
Die Baroness runzelte nachdenklich die Stirn. Was für Angelegenheiten mochten das sein, die noch dazu keinen Aufschub zu dulden schienen? Selinde wolle kein Grund einfallen, zumal sie ihren Onkel seit gut 15 Götterläufen nicht mehr gesehen hatte. Über letzteren Umstand war sie auch nicht wirklich unglücklich, hatte die Adlige mit dem aufbrausenden und polternden Wesen Emmerans doch nie etwas anfangen können. Und seitdem er und Wallbrord sich im Zuge des letzten Orkensturms vollends überworfen hatten, war der Kontakt gänzlich abgerissen.
Einerlei, die Baroness entschloss sich nach kurzem Überlegen dazu, der Einladung Folge zu leisten. Immerhin bestand die leise Hoffnung einer Versöhnung zwischen den Verwandten, eine Hoffnung, die Selinde nicht durch eine leichtfertige Ablehnung zerschlagen wollte. Außerdem war es eine sehr gute Gelegenheit, mal wieder aus Zackenberg herauszukommen; sie hatte sich schon viel zu lange in ihr mehr oder weniger freiwilliges Exil gefügt. Es war an der Zeit, mal wieder über die Trollzacken hinaus zu schauen und zu schreiten. Und unterwegs könnte sie noch bei ihrem Bruder in der Reichsstadt Perricum Halt machen. Vermutlich hatte Ugdalf auch eine Einladung erhalten; dann könnte man gemeinsam reisen und versuchen, sich einen Reim auf alledem zu machen.
Am frühen Abend kehrte Ugdalf mit verdrießlicher Miene von einer ebenso langen wie enervierenden Besprechung aus der Residenz des Markgrafen in die Quartiere seines Regiments zurück. Wie so oft war der Grund für seinen Unmut in der markgräflichen Administration zu suchen, die ihm die – seiner Meinung nach – unabdingbaren Mittel zur Wiederauffüllung des Bombardenregiments nur in zu geringem Maße und über einen zu großen Zeitraum hinweg gewähren wollten. Inkompetente Bürokraten allesamt!
Der Oberst hatte in seinem Arbeitszimmer Platz genommen, einmal tief durchgeatmet und sich ein Glas Wein eingeschenkt, um den ganzen Ärger zumindest für heute mit einem guten Tropfen herunterzuspülen. Doch noch bevor er den ersten Schluck trinken konnte, wurde er jäh durch ein Klopfen an der Tür gestört. Konnte man nicht einmal für einen Moment seine Ruhe haben?
„Eintreten!“, blaffte Ugdalf, dessen Laune nun einen neuen Tiefpunkt erreicht hatte.
„Bitte mein Eindringen zu entschuldigen, Herr Oberst“, meldete ein junger Korporal, „aber dieser Brief ist heute Mittag mit der Maßgabe abgegeben worden, ihn Euch umgehend nach Eurer Rückkehr auszuhändigen.“
„Ja und? Ich kriege jeden Tag ach so dringende und wichtige Depeschen, die allesamt bis gestern erledigt oder beantwortet werden müssen! Diese hier wird wie alle anderen auch bis zum nächsten Mittag warten, wenn ich meine tägliche Korrespondenz erledige. Und von welchem Witzbold ist dieser Schrieb überhaupt?“
„Der Kurier nannte als Absender einen Emerald von Löwenhaupt oder so. Ein Verwandter von Euch?“
Ein Ruck ging durch Ugdalf, als er den Namen hörte. „Erstens: Das geht Dich nichts an, Bursche. Zweitens: Weggetreten!“
Nachdem der Soldat sich abgemeldet und das Zimmer verlassen hatte, nahm der Oberst den Brief und warf einen Blick auf das Siegel. Tatsächlich, das Zeichen der Familie Löwenhaupt. Rasch öffnete er die Depesche, überflog ihren Inhalt – und warf das Pergament mit fast schon abfälliger Geste in den Papierkorb. Zorn überkam Ugdalf. Wie konnte dieser Mensch, Graf hin oder her, es wagen, ihm gegenüber einen solchen Ton anzuschlagen und ihn, nur wenig verklausuliert, quasi zu sich zitieren wollen! All die Jahre hatte die Weidener Verwandtschaft seinen Vater, ihn selbst und seine Schwester Selinde nach Kräften ignoriert oder gar geschmäht. Und nun ein Treffen in Garetien, um „wichtige Familienangelegenheiten, die keinen Aufschub dulden“ zu erörtern? Einer Einladung der Herzogin hätte Ugdalf Folge geleistet, aber der seines seit jeher als jähzornig und streitsüchtig bekannten Onkels? Niemals! Schließlich war es Emmeran, der mit seinen Tiraden gegenüber Wallbrord den Familienfrieden nicht nur ge- sondern zerstört hatte!
Nach dem bereits eingeschenkten Wein genehmigte sich Ugdalf noch zwei weitere Gläser ‚zur Beruhigung‘, bevor er sich wieder seiner Arbeit zuwandte.
Schon am nächsten Tag hatte er den Brief vergessen.
„Hier steckst Du also! Ich bin durch halb Perricum gelaufen, um Dich zu finden.“
Überrascht blickte Ugdalf von seinem Mittagessen auf, das er dieses Mal nicht in der Kaserne sondern in einem Gasthaus in der Reichsstadt einnahm.
„Selinde! Was hat Dich denn hierher verschlagen? Wir haben uns ja schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, seit – na, Du weißt schon. Ist irgendwas passiert?“
„In gewisser Weise schon, Bruder. Ich habe vor drei Tagen eine, nun ja, Einladung unseres Onkels auf Burg Luring erhalten. Er will wohl irgendwelche wichtigen familiären Angelegenheiten besprechen. Hast Du auch ...?“
„Ja, habe ich“, schnitt Ugdalf seiner Schwester mit zorniger Miene das Wort ab. „Und nein, ich werde die Ein- oder besser Vorladung nicht annehmen und habe den Wisch stattdessen dahin befördert, wo er hingehört: in den Müll.“
Die Baroness schüttelte mit sichtlichem Bedauern leicht den Kopf. Ugdalf schien wieder mal im Begriff zu sein, unnötig Porzellan zu zerschlagen und sich selbst im Wege zu stehen.
„Ich halte das nicht für besonders klug.“ Der Oberst wollte gerade zu einer Entgegnung ansetzen, doch ließ ihn seine Schwester gar nicht erst zu Wort kommen und fuhr ungerührt fort: „Meine Begeisterung, diesen Choleriker wiederzusehen und seinem Geschrei – vernünftig reden kann er ja offensichtlich nicht – zuzuhören, hält sich gelinde gesagt auch in Grenzen. Aber andererseits: Was haben wir zu verlieren? Wenn er nur wieder Vater schmähen und sonst nichts Neues von sich geben wird, dann reisen wir wieder ab. Ganz einfach. Aber dann kann man weder Dir noch mir hinterher vorwerfen, wir hätten uns einer möglichen Aussprache verweigert.“
„Du bist viel zu gutgläubig. Sofern sich unser lieber Onkel nicht plötzlich der Kirche der Tsa zugewandt hat, wird mit ihm genauso wenig zivilisiert zu reden sein, wie damals, als Vater Weiden verließ. Sein Hass auf ihn war ja schier grenzenlos und irgendwie bezweifle ich doch sehr, dass er zwischenzeitlich zur Vernunft gekommen ist.“
Selinde seufzte innerlich, bevor sie zu einer Erwiderung ansetzte. Dass ausgerechnet Ugdalf von maßlosem Hass sprach ... „Und Du bist viel zu starrköpfig. Ich erwarte ja nicht, dass Du die Vergangenheit ruhen lässt oder gar vergisst, ich werde es auch nicht tun, aber noch mal: Was kann es uns schaden, Emmeran zumindest anzuhören? Wenn er wieder beginnt, gegen Vater zu hetzen oder sich anderweitig wie die Axt im Walde aufzuführen, dann packen wir unsere Sachen und reisen ab. Und wenn er sich wider Erwarten vernünftig und versöhnungsbereit zeigt, kann das doch nur in unserem Sinne sein. Oder kurz gesagt: Wir haben nichts zu verlieren sondern können nur gewinnen. Ich für meinen Teil werde die Einladung jedenfalls annehmen. Kommst Du mit oder schmollst Du lieber weiter?“
Ugdalf war für einen Moment sprachlos. So hatte er Selinde schon lange nicht mehr erlebt. Nach kurzem Überlegen antwortete er: „Also gut, ich begleite Dich. Aber wenn der alte Sack wieder verrücktspielt, sieht er von mir nur noch den Arsch meines Pferdes.“ Und mit einem feinen Lächeln setzte er hinzu: „Außerdem muss ja jemand auf Dich aufpassen, bevor Du unserem Onkel ganz auf den Leim gehst.“