Gantje ter Essilov schien mir nicht der Mann, etwas wegzuwerfen. Sein Ruf als Geizhals eilte ihm voraus, und an Bord seiner Potten und Karacken segelte er über die Weltmeere bis ins ferne Festum. Doch es war nicht nur seine phexische Begabung, die ihn zu einem der fanatischsten Sammler und Raffer der zwölfgötterlichen Lande machte, sondern eine Eigenart, die ich bei keinem anderen Menschen je so stark ausgeprägt gefunden habe. Und ich darf mich wohl rühmen, einigen außergewöhnlichen Zeitgenossen begegnet zu sein. Was ter Essilov auszeichnete, war seine Manie, der Vergangenheit ein Gesicht zu geben, und damit eine Stimme. Er lies nichts verkommen, so als wollte er die Zeit anhalten, wollte Satinav keinen Tag und keine Stunde kampflos abtreten.
Seine Villa in der Umgegend von Kuslik hatte im Laufe der Jahre darum eine Wandlung durchgemacht, vom Prunksitz zu einem Raum des Zurschaustellens, und nun, da ter Essilovs Geschäfte immer besser gingen und das Alter ihn an den heimischen Landsitz fesselte, bekam es Züge eines Lagerhauses. Ich könnte nicht einen Bruchteil der erstaunlichen und exotischen Fundstücke beschreiben, die ich bei meiner kurzen Visite im Hause des reichen Händlers sah. Es genüge, wenn ich den Mann mit den echsischen Königen vergleiche, die sich in Pyramiden titanischer Ausmaße beisetzen lassen. Ter Essilovs Mausoleum, wenn man es denn schon heute so nennen will, übertraf sie alle.
Wie jeder wahrhaft Besessene versuchte er glatzköpfige Patrizier, mich für seine Leidenschaft u begeistern. Dazu wählte er ein Stück aus seiner Sammlung, von dem er wusste, dass es mich Weitgereisten nicht kalt lassen konnte: ein Stück Heimat, wenn auch ein verderbtes.
„Das waren spannende Zeiten, 1020. Aufregend, gefährlich, eine großartige Zeit für Geschäfte. Ich sage das hier aus dem fernen, sicheren Horasiat“, er blickte mich fragend über den Rand seiner Augengläser an. „Ihr kennt den Begriff? Horasreich sagt man wohl, korrekterweise. Nun, damals war ich natürlich noch in der Alten Heimat, in Festum, sozusagen direkt an der Front. Aus diesem Jahr stammt auch dieses bemerkenswerte Stück Geschichte. Borbarad, ein faszinierendes Thema.“ Er öffnete eine steife Mappe, deren lederne Flügel knartzen und knisterten, und zeigte mir ein Stück Pergament, mit einer leicht verwaschenen Tintenzeichnung darauf. Ich las die Beschriftung, versuchte das Erkannte geistig zu verorten, doch ter Essilov kam mir zu vor.
„Ganz Recht, euer Urkentrutz. Eine bessere Karte haben selbst die Götter nicht gesehen, möchte ich meinen. Es wird noch heute spekuliert, wie diese Karte, und zahlreiche andere aus der Hand des gleichen Künstlers, manche vermuten Abu Mechtmal, aber das ist reine Mutmaßung, wenn ihr mich fragt...“ Er schweifte ab, begann die Lebensgeschichte eines mir völlig unbekannten Tulamiden zu referieren, und hielt mir während der ganzen Zeit das Stück Pergament vor die Augen. Langsam konnte ich die Namen und Zeichen deuten, erkannte die Alte Straße, das Dreieck Urkenfurt – Rhodenstein – Schwarze Au, Wälder und Höhenzüge. Nicht alles erkannte ich wieder, mein Turm und die benachbarte Ortschaft fehlten, dafür las ich einige Namen, die ich noch nie gehört hatte. Doch ter Essilov hatte Recht, ein besseres Stück Kartenwerk kannte ich nicht.
„Mein guter Freund G'Hliatan meint, die Borbaradianer haben ihr Wissen aus Erkundungsflügen auf dem Rücken ihrer Dämonen, ich vermute eher ganz alltägliche Spionage und eventuell Hellsichtszauberei. Doch das mögen andere, besser belesenere entscheiden.“ Er kicherte. „Was dieses Stück Papier so besonders macht, ist die Tatsache, dass es nie als Karte gedacht war. In der Tat; kein Reisender sollte sie je zur Hilfe erhalten, das war nicht der Sinn und Zweck ihrer Erschaffung. Sie hatte nur eine Aufgabe.“ Dramatisch schloss er die Mappe mit einem Knall, warf mir einen stechenden Blick zu. „Angst, Angst und Schrecken. Diese Karte ist eine Waffe gewesen.“
„Ich verstehe nicht“, gab ich zu, wissbegierig und ahnungsvoll zugleich.
„Könnt ihr auch nicht. Vor eurer Zeit. Spannende Jahre. Stellt euch vor: Adelskonvent, die Gekrönten und Gesalbten der halben Welt beraten über ihre nächsten Schlacht gegen den finsteren Nandussohn, getrieben von einer nicht enden wollenden Kette schlechter Nachrichten. Doch was finden sie, hier im Herzen des Reiches, sicher, wie sie denken, unter sich, wie sie meinen? Was entdecken sie auf ihren Kopfkissen, fördern es unter ihren Sätteln zu Tage, was fällt ihnen aus heiterem Himmel vor die Füße? Karten, Karten wie diese. Karten von ihrem Lehen, von ihrer Heimat. Und an jeder nur ein Satz als Erklärung: Auch Das Kriegen Wir Noch.“ Er gab die Mappe einem seiner Pagen, der hinfort eilte, das Stück in den Weiten des Lagerhauses zu verräumen. „Man mag über Borbarad denken was man will. Genial war er, und einfallsreich. So etwas kommt nicht wieder.“
„Götterseidank“, war das einzige, was mir als Erwiderung einfiel. Lass dir gesagt sein: nichts hat mir deutlicher vor Augen geführt, wozu Wissen missbraucht werden kann, und nichts hat mir die Tragik besser zu schätzen gelehrt, die im Glauben an meine Göttin verborgen ist, als dieser alte Mann und seine Schwarze Karte.
—Lexikos Dölbel, Reiseberichte an seinen Freund Pirejus von Gortdingen