Rittersaal der Feste Moosgrund, 1046 BF
„25 Jahre ist das nun schon her? Gute Götter, ein Vierteljahrhundert.“ Arnôd Pratos von Rhodenstein ließ das schmale Pergament sinken, das Avia Nordfalk von Moosgrund ihm gereicht hatte.
Die junge Baroness blickte zu ihrem Paten auf und klopfte dann auf den Platz neben sich. Sie hatte sich vor dem Kamin auf ein Fell gesetzt und starrte in die Flammen.
Arnôd öffnete den Schwertgurt und ließ sich neben Avia nieder. Langsam zog er das Schwert aus der schlichten Scheide. Eine viel benutzte, aber elegante Klinge, perfekt ausgewogen, ein handwerkliches Meisterstück, das keinen Vergleich scheuen musste. Die schwarzen Flammenmuster darauf, stachen aus dem hellen Silber der höllisch scharfen Klinge heraus. „Falmung hier, das Schwert deines Großvaters Avon, hat an der Trollpforte gekämpft – zweimal sogar.“ Die Spiegelung der Flammen im Kamin huschten beinahe fröhlich über die Klinge. „Ich war damals noch zu jung und seinerzeit noch Page, aber ich habe den Wall des Todes später mehrfach gesehen.“ Arnôds sturmgraue Augen richten sich auf Avia, dann blickte er ebenfalls in die Flammen und die beiden saßen eine Weile schweigend eng beieinander.
„Ich sage, dass wir diese Gelegenheit nutzen und sie uns zu eigen machen werden, meine Patentochter. Zum einen können wir so dem Rufen in deinem Herzen nachkommen, eine Reise anzutreten und zum anderen komme ich so dazu, dir Dinge zu zeigen, die deine Mutter sah und die sie formten.“
Die Stimme des Moosgrunder Vogts klang rauer noch als gewöhnlich und Avia wusste, dass er seine Tränen zurück und seinen Zorn in Bann halten musste. Auch ihr war sogleich ein dicker Kloß in den Hals gestiegen, als sie begriff, dass Sankta Boronia in dem Schreiben automatisch auch die Schlacht an der Trollpforte meinte. Jene Schlacht, die auch die Dritte Dämonenschlacht genannte wurde. Jene Schlacht, die ihre Mutter zur Vögtin Moosgrunds und zur Schildmaid des Ordens vom Heiligen Blute gemacht hatte. Jene Schlacht, die ihren Großvater, den Streiter des Raulschen Reiches auch zum Burggrafen von Baliho hatte werden lassen. Auch wenn sie es zu unterdrücken suchte, fühlte sie bei diesem Gedanken einen doppelten Stich in der Brust.
„Gut, Arnôd, sehr gut. Manchmal fürchte ich nämlich, dass sie mir entgleiten, weißt du? Gestern hatte ich das Gefühl Samas Atem in meinem Nacken zu spüren, kurz bevor sie mich eng umschlingen würde und mir liefen die Tränen nur so über die Wangen. Und heute habe ich schon den ganzen Tag das Gefühl Adas beruhigende Hand auf meiner Schulter zu fühlen. Das ist alles einfach nicht gerecht. Gar nicht.“ Die Augen der jungen Nordfalk füllten sich mit stummen Tränen und Arnôd zog sie an sich. „Nein, Avia. Ist es nicht. Und genau deswegen werden wir auch reisen, auf Pfaden, die deine Mütter bereits gegangen sind. Bleibt uns jetzt zu bestimmen, wer uns begleiten soll. Das lenkt unsere Gedanken in andere Bahnen und gibt uns eine angenehmere Beschäftigung.“
„Ja, eine gute Idee, Arnôd, lass uns planen und dabei träumen, wie es wohl sein wird.“
Sankta Boronia, später Ingerimm 1046 BF
Avia und Arnôd hatten sich still und leise von der Feier anlässlich der Schwertleite Reviennas verabschiedet, als ein Panthergardist an sie herantreten war und die beiden gebeten hatte, ihm zu folgen. Avias Augen funkelten vor Aufregung, als sie erkannte, dass der Gardist sie zum prächtigen Zelt der Kaiserin führte. Und sie weiteten sich ehrfurchtsvoll, als sie erkannte, dass niemand anderes als Rohaja selbst hier auf sie wartete. Als die Kaiserin des Raulschen Reiches sich umwandte und dem Gardisten bedeutete, dass er gehen konnte, beugte Arnôd das Knie und Avia tat es ihm gleich.
„Eure kaiserliche Majestät! Unseren untertänigsten Dank, dass Ihr uns zu dieser späten Stunde empfangt und Eure kostbare Zeit opfert. Ich will Euch auch gar nicht lange behelligen ...“
„Rede nicht so geschwollen und steh' auf, Arnôd. Das ist doch gar nicht deine Art.“ Rohaja reichte dem Grevensteiner die Hand und die beiden lächelten einander kurz vertraut an. Dann richtete die Kaiserin den Blick auf die immer noch kniende Avia, die die kleine Geste andächtig verfolgt hatte. „Und du erhebe dich ebenfalls, junge Nordfalk. Komm näher und lass dich mal anschauen, wir hatten bisher noch nicht das Vergnügen, uns persönlich kennenzulernen.“
Avia blickte Arnôd an und der nickte ihr aufmunternd zu. Das Mädchen erhob sich, strich ihr Kleid glatt und trat auf Rohaja zu. Sie verbeugte sich noch einmal, als sie beinahe direkt vor ihr stand. Dann straffte sie ihre Haltung und blickte Rohaja fest an: „Dann, Euer kaiserliche Majestät, will ich mich auch richtig vorstellen: Ich bin Avia, Tochter der Ardariel, aus dem Hause Nordfalk. Und ich bin die Baroness von Moosgrund. Und weil ich es bisher versäumte, will ich Euch versichern, dass ich ganz die Eure bin – auch wenn ich noch zu jung bin, um Euch das zu beschwören! Euer kaiserliche Majestät, meine ich.“
Eines der seltenen ehrlichen Lächeln huschte über Rohajas Gesicht. „Ich höre dich, junge Avia. Und ich will dir sagen, dass du deine Mutter, die ruhmreiche Ardariel Nordfalk, wahrlich nicht verleugnen kannst. Weder von der Gestalt noch vom Wesen. Doch sag' an, müsstest du nicht auch die designierte Gräfin Balihos sein? Ich sehe nur die Falken deines Hauses auf deinem Kleid und das Wappen Moosgrunds an deinem Gürtel, wo ist das silberne Rad?“
Avia begann auf ihrer Unterlippe zu kauen und blickte sich zu ihrem Paten um, der ihr wieder zunickte. „Es hat Eurer treuen Herzogin der Weidenlande und liebenden Schwertmutter, der Frauwe Walpurga, gefallen, die Herrschaft über die Balihoer Lande dem Hause Pandlaril anzuvertrauen. Arnwulf von Pandlaril ist heuer Graf auf Räuharsch, aber das wisst Ihr ja schon. Eurer Kaiserliche Majestät, meine ich.“
„Gewiß.“ Die Kaiserin hatte kurz die Brauen zusammengezogen. „Dennoch bist du die Tochter einer Gräfin, meine liebe Avia. Das darfst du niemals vergessen! Alleine schon um das Andenken deiner Mutter nicht, die mir, meiner Schwester und unserer Familie stets eine gute und treue Freundin war. Das Haus Gareth wird niemals vergessen, was die Nordfalks ihnen für Opfer gebracht haben, niemals.“ Rohajas Blick fiel auf den Zweihänder, den der Panthergardist achtsam abgestellt hatte. „Ist das Sturmrufer? Darf ich?“
„Ja, das ist das Schwert meiner Mutter, in der Tat. Und natürlich dürft Ihr, kaiserliche Majestät. Auch wenn ich für Eure Frage danke.“ Das Mädchen trat zur Seite, sodass Rohaja den Zweihänder greifen konnte. „Eine fantastische Waffe, vortrefflich geschmiedet und elegant ausgewogen.“ Sinnierend führte Rohaja einige bedächtige Streiche mit dem Zweihänder. Dann besann sie sich und streckte sich. Ihr Gesicht bekam einen gänzlich anderen Zug, es schien Avia, dass sie nun das Gesicht der Kaiserin des Raulschen Reiches trug. Mitfühlend, aber abwägend und irgendwie weniger nahbar. Sie stellte Sturmrufer auf die Spitze und lehnte den Zweihänder gut sichtbar neben den Feldherrenstuhl, der ihr hier als Thron diente. „In diesem Falle können wir ja sprechen, als wäre deine Mutter anwesend. Also, Moosgrund: Was ist Euer Anliegen?“
Arnôd Pratos von Grevenstein räusperte sich: „Wenn ich, als Pate der Baroness vielleicht das Anliegen vortragen dürfte?“ Rohaja blickte Arnôd an und erteilte ihm mit einer knappen Geste das Wort. „Die Zeit nähert sich, an dem die Baroness Moosgrunds in Pagenschaft gehen sollte, so wie die Traditionen Weidens es verlangen.“ Die Kaiserin nickte und Arnôd fuhr fort: „Aber wir wissen noch nicht wie sich sich entwickeln wird und es steckt eine große Unruhe in ihr, gerade so, als habe Aves sie berührt. Und bevor sie mitentscheiden wird, wohin es sie als Knappin zieht, sollte sie so viel vom Reich gesehen haben, wie irgend denkbar. Wo könnte sie das wohl besser, als am reisenden Kaiserhof, und wer könnte eine bessere Pagenschaft bieten als die Kaiserin selbst? Wir ersuchen Euch daher, kaiserliche Majestät, in Erwägung zu ziehen, Avia Nordfalk als Pagin an Euren Hof zu nehmen.“ Rohja nickte Arnôd kaum merklich zu und wandte ihre Aufmerksamkeit dann Avia zu, die vor Aufregung gar nicht wusste wohin mit ihren Händen und sie schließlich hinter dem Rücken verschränkte, um den Blick der Kaiserin fest zu erwidern. „Hört, hört. Und das, was Euer Pate uns zuträgt, Hochwohlgeboren, das ist auch Euer Wille? Ah, wartet ...“ Rohaja hatte die Hand gehoben, als sie bemerkte, dass das Mädchen vor ihr beinahe herausgeplatzt wäre. „Wir haben bereits eine Pagin, Madalieb von Wertlingen. Und an diesem Hofe wäre Euer Rang bei weitem nicht so hoch wie in der Mittnacht. Das hieße, dass Ihr wahrscheinlich Eure Dienste immer dort verrichtet müsstet, wo Ihr gebraucht werdet. Macht Euch das alles bewusst, Moosgrund, bevor Ihr uns antwortet.“
Arnôd konnte sehen, wie Avia die Worte der Kaiserin zu verarbeiten suchte und welche Anstrengung es sie kostete, nicht sofort zu erwidern. „Meine Kaiserin – oh Elend – Euer Kaiserliche Majestät, es ist mein Wille. Ich kann nur sagen, dass ich mir für nur wenig zu schade bin, mich reizt die Herausforderung. Solltet Ihr Euch entscheiden, meine Dienste anzunehmen, dann werde ich sie so ausführen, wie es mir gesagt wird. Hoffe ich zumindest. Hesindehilf, das hab' ich so jetzt nicht gesagt. Verzeiht, kaiserliche Majestät.“
Kaum merklich hatte die Kaiserin die Braue gehoben. „Nun denn, wir werden uns mit dem Hofmarschall beraten. Im Laufe des morgigen Tages werdet Ihr eine Entscheidung von uns bekommen, Moosgrund. Seid versichert, dass eine Prüfung Eures Anliegens mit äußerstem Wohlwollen erfolgen wird, das sind wir Euch und Eurer Familie schuldig.“ Die Kaiserin nickte Avia zu. „Und nun verlasst uns, der Tag war anstrengender als gedacht. Wir freuen uns eure Bekanntschaft gemacht zu haben, junge Nordfalk.“ Avia nickte und verneigte sich. „Ich danke Euch, kaiserliche Majestät, selbstverständlich. Die guten Götter mögen Euch allzeit beschirmen, Rondra ihnen allen voran! Darf ich vortreten? Ich darf Sturmrufer nicht vergessen.“
Der unnahbare Ausdruck verließ das Gesicht Rohajas: „Natürlich, tue das. Und dir ein freudiges Lebewohl, Arnôd. Möge Rondra dich beschirmen.“ „Und Euch, meine Kaiserin. Mögen die Unsterblichen zu Alveran Euch segnen und behüten. Und solltet Ihr uns brauchen, zögert nicht zu rufen – wir werden Eurem Ruf Folge leisten!“
Avia nahm Sturmrufer an sich und gemeinsam mit Arnôd verließ sie das Zelt der Kaiserin, das den absoluten Mittelpunkt des reisenden Kaiserhofs bildete.