Dramatis Personae

 

Neulich in der Sichelwacht: Staub und Grünzeug

Wüstenei, Baronie Ingerimms Steg, Mitte Rahja 1038 BF

Osbirg konnte die Wüstenei nicht ertragen und mied die Nähe zu ihr deshalb gemeinhin mit kompromissloser Entschiedenheit. Da war sie selbstverständlich nicht die Einzige: Niemand bei klarem Verstand kam freiwillig in diese von allen guten Geistern verlassene Gegend oder blieb länger, als es unbedingt nötig war. Bis auf diese eine Tsa-Dienerin natürlich, die vor Jahren ausgerechnet die Einsamkeit von Alt-Dragenfeld zu ihrem neuen Heim erkoren hatte und seither mit ebenso sinnloser wie beeindruckender Sturheit versuchte, Staub und Sand wieder Leben einzuhauchen, indem sie den Boden begrünte. Fingerbreit um Fingerbreit. Löblich, aber leider vollkommen zwecklos! Außerdem war Osbirg mit der Zeit gleich mehrfach zu Ohren gekommen, dass die Priesterin in ihrem Oberstübchen nicht ganz so gut beieinander sei – weshalb die Aussage, dass sich hier kein vernünftiger Mensch freiwillig aufhielt, am Ende doch wieder stimmte.

Bei ihr selbst, also Osbirg, war die Abneigung gegen das Ödland noch größer als bei den meisten Sichlern – aus Gründen, die tief in ihrem Wesen verwurzelt waren. Als Tochter Satuarias hatte sie eine besondere Beziehung zum Leib Sumus und der Kraft, die ihm innewohnte. Sie fühlte sich auch den Leibern der gefallenen Gigantinnen Mithrida und Sokramor stark verbunden, zwischen denen die Drachenpforte lag, ihre Heimat. Sie waren Lebensspenderinnen, allesamt. Und Bewahrerinnen des Lebens. Sumu noch dazu der Quell jener unergründlichen Kraft, die Osbirg und ihresgleichen dazu befähigte, Magie zu wirken. Die Wüstenei hingegen ... ein Ort von Tod und Verderben, sonst nichts. Keine Wunde im Leib der Erdmutter, wie es viele gab, sondern mehr so etwas wie ein abgestorbenes Glied – tot, nicht sterbend. Keine Kraft mehr vorhanden. Nur Leere. Eine Leere, die Frauen wie ihr schwer zu schaffen machte.

Und eine Leere, die von jemandem wie ihm verursacht worden war!

Osbirg löste den Blick von der eintönigen Wüstenlandschaft, um ihn auf eine schlanke, schwarz gewandete Gestalt zu richten, die mit dem Rücken zu ihr stand. In vielleicht fünf bis sieben Schritt Entfernung von ihr und etwa 50 Schritt von der Ruine des Turms Drachentodt entfernt – jenem Ort also, an dem ein Mann namens Liscom vor rund zwei Jahrzehnten Pflanze, Tier und Mensch ihrer Lebenskraft beraubt hatte, um einen alten Schrecken zurück ins Diesseits zu holen. Ein Magier, dieser Liscom. Von denen war ja selten etwas Gutes zu erwarten. Schwarzmagier noch dazu. Also im Grunde einer, der nur Schlechtes bringen konnte. Aus Fasar, hatte sie jüngst gelernt. Was etwas völlig anderes als Brabak war, wie ihr junger Begleiter zu betonen nicht müde wurde. Osbirg wusste nicht, was sie von dieser Behauptung halten sollte. Aber im Anbetracht der Umstände hoffte sie inbrünstig, dass sie der Wahrheit entsprach.

Xabrasil stand schon eine geraume Weile reglos da – hatte erst nur geschaut, dann einen Stoß Pergamente zu Tage gefördert, um abwechselnd zu schauen und zu lesen, und bewegte sich nun einfach nicht mehr. Oder, etwas präziser ausgedrückt: kaum noch. Hin und wieder nahm sie wahr, wie er den Kopf minimal in die eine oder andere Richtung neigte. Osbirg wusste, dass er irgendeinen Zauber wirkte. Nicht dass sie sich mit der Magie der Gildenknilche gut auskannte, aber im Allgemeinen konnten die ja ohne viel Gefuchtel und irgendwelche fremdländischen Formeln nicht mal Federn zum Schweben bringen – was ihr Wirken allzu leicht erkennbar machte. In diesem speziellen Fall hatte es zuerst auch Gefuchtel gegeben und ein bisschen Gemurmel – und jetzt halt seit einer gefühlten Ewigkeit nichts mehr. Was immer es war, das der junge Magus da gerade tat: Sie konnte keine Auswirkungen erkennen. Gern hätte sie deshalb unterstellt, dass er einfach nur heiße Luft fabrizierte, wie es Männer seines Standes gern mal taten. Aber sie wusste mittlerweile, dass um die Fähigkeiten von Bunsenholds Hofmagus besser bestellt war, als sie es ihm anfänglich hatte zugestehen wollen. Also tat er vermutlich irgendetwas Sinnvolles, während sie sich einfach nur unwohl und überflüssig fühlte.

Osbirg wünschte, der Junge hätte diese Reise ohne sie angetreten. Aber dazu war er nicht bereit gewesen. Hatte immer wieder betont, dass er nicht nur ihre Ortskunde, sondern auch ihr Wissen über die hiesige Geschichte sowie Sagen und Legenden aus der Gegend benötigte, um sich ein umfassendes Bild zu machen. In den vergangenen Monden hatte er sie oft auch nach Weisheiten ihrer Schwestern gefragt, die sie im Grunde niemals hätte preisgeben dürfen. Aber da sie eh eine Verstoßene war ... eine Gefallene Hexe, scherte sich Osbirg darum nicht mehr: Großzügig teilte sie vieles, was definitiv nicht für einen solchen Austausch gedacht war. Schlecht fühlte sie sich deshalb nicht. Nicht schlechter, als es ohnehin seit Jahren der Fall war. Letztlich hatte es ihnen schon manche interessante Erkenntnis gebracht, dass sie sich in dieser Hinsicht beide nicht bedeckt hielten. Und genau das war es ja, was sie bei der Aufgabe benötigten, die der Graf ihnen übertragen hatte: frisches Wissen, neue Ideen und Thesen und damit Grundlagen für allerlei Experimente, die sie bestenfalls irgendwie voranbrachten.

Das Ziel, das Bunsenhold gesteckt hatte, war nicht leicht zu erreichen. Da brachte es wenig, sich auf ausgetretenen Pfaden zu bewegen. Sie mussten sich entweder in die tiefsten Niederungen dessen begeben, was Osbirg selbst als gefallener Tochter Satuarias noch widerstrebte, oder Neuland betreten. Und auf Letzterem war es wenig förderlich, sich beim Denken von allzu engen Grenzen einschränken zu lassen. Deshalb taten sie das nicht, sondern nahmen sich jede nur erdenkliche Freiheit. Wie es allerdings helfen sollte, dass Xabrasil jetzt hier stand und gefühlte Ewigkeiten auf die traurigen Überreste eines zerfallenen Turms starrte, erschloss sich Osbirg nicht. Sie seufzte tief – und beschwor damit eine unerwartete Reaktion herauf: Ihr junger Begleiter schüttelte plötzlich energisch den Kopf, drehte sich dann langsam zu ihr um und maß sie mit einem belustigten Blick.

„Über Geduld verfügst du wahrlich nicht“, meinte er dann mit klarem Tadel in der Stimme. „Ist es wirklich zu viel verlangt, dass du mal einen Moment stillsitzt?“

„Einen Moment? Das war eine Ewigkeit, Junge! Eine Ewigkeit, in der sich rein gar nichts getan hat, wohlgemerkt. Da kann einem schon mal langweilig werden. Allzumal in dieser götterverlassenen Gegend, in der es auch sonst nichts gibt, auf das ich mein Augenmerk hätte richten können“, schoss sie zurück.

„Willst du damit sagen, dass meine Kehrseite dir nicht gut genug ist?“

Gedanklich geriet Osbirg für einen Moment ins Straucheln, nachdem Xabrasil das gesagt hatte. Bei weitem nicht zum ersten Mal, seit sie ihn kannte. Er besaß ein seltenes Talent dafür, sie aus der Bahn zu werfen, denn an ihm war einfach zu viel dran, das nicht nach Weiden passte. Durch seine Fremdartigkeit band er immer wieder Aufmerksamkeit, die an anderer Stelle weitaus besser aufgehoben gewesen wäre. Ob nun das ungewöhnliche ... ungewöhnlich gute Aussehen, der schwere, südländische Zungenschlag, die überkandidelte Kleidung, in die er sich hüllte, oder das merkwürdig distanzlose und anbiedernde Verhalten: Nichts davon entsprach dem, womit sie für gewöhnlich zu tun hatte. Deshalb kostete es sie mitunter schon einiges an Konzentration, in Gesprächen mit ihm bei der Sache zu bleiben. So auch jetzt wieder.

„Ich hab kein Interesse an deiner Kehrseite und ich glaube, das brauchst du auch nicht. Es gibt schließlich genug andere, die das tun“, gab Osbirg zurück, als sie sich gefangen hatte. „Mich interessiert mehr, dass wir diesen Ausflug nicht umsonst gemacht haben. Ich hasse es hier. Bitte sag mir, dass du mich nicht nur her geschleift hast, damit ich dir dabei zusehe, wie du Löcher in die Luft starrst! Das hättest du in Salthel auch einfacher haben können.“

„Nur weil sich für dich nichts getan hat, muss für mich ja nicht das Gleiche gelten.“

„Was soll das heißen, hum? Was hat sich für dich getan?“

„Ich habe ein tieferes Verständnis für diesen Ort gewonnen.“

„Und wie?“

„Mit einem Blick auf das arkane Gefüge der näheren Umgebung.“

„Auf ... aha ... . Hier?! Und wie hilft uns das? Dir ist schon klar, dass dieser Ort tot ist? Tot wie ... kaum etwas sonst. Hier lebt nun wirklich gar nichts mehr ...“

„Anders als du habe ich es nicht mit Erdkraft, sondern mit der der Sterne. Und die ist hier ...“

„Der Graf ist aber ein Geschöpf aus Fleisch und Blut und nicht aus Sternenstaub“, unterbrach Osbirg den Magus. „Ihn dürstet nach Lebenskraft, der Kraft der Erde, nicht nach irgendwelchem Gedöns aus den höheren Sphären, die dir so am Herzen liegen. Hier wirst du kaum etwas finden, das uns dabei hilft, seinem Ziel näherzukommen.“

„Zu kurz gedacht, wie so oft. Letztlich hilft doch jedes bisschen Erkenntnis dabei, den Geist zu schulen und essenzielle Zusammenhänge besser begreifen zu können. Ich verstehe nicht, wie jemand von deinem Format so wenig Interesse am großen Ganzen haben kann. Wie erwerbt ihr Hexen denn euer Wissen? Durch glückliche Zufälle? Gelegentliche ... richtungsweisende Unfälle? Oder durch Einflüsterungen von irgendwelchen Waldgeistern? In dem Fall sollte ich deinen Worten künftig wohl besser weniger Bedeutung beimessen ...“

„Pfffffschhht“, machte Osbirg geringschätzig. „Und was bringen uns deine ach so hehren Erkenntnisse jetzt? Hast du erfahren, was es braucht, um dem Grafen das Leben aus den Adern zu saugen? Bravo, es wird ihn sicher freuen, das zu hören!“ 

„Natürlich nicht“, gab Xabrasil geduldig lächelnd zurück. „Dazu bräuchte ich nicht nur mehr Zeit an diesem Ort, sondern auch deutlich mehr hiervon.“ Er wedelte demonstrativ mit dem Pergamentstapel herum, in dem er vorhin so eifrig geschmökert hatte. „Und noch ein paar andere Dinge, an die ich hierzulande sicher niemals herankommen werde. Aber darum ging es ja auch gar nicht. Es ging erst mal nur um einen besseren Eindruck.“

„Wovon genau?“

„Um es in einfache und damit auch für Satuarienstöchter verständliche Worte zu kleiden: Just an diesem Ort wurde Land und Leuten mittels eines Rituals genug Lebenskraft entzogen, um einen Temporalzauber von solcher Magnitude zu wirken, dass es die Vorstellungskraft der meisten Sterblichen übersteig...“

„Hört, hört! Erdkraft, hum? Dann hat dein Bruder im Geiste seinerzeit damit gezaubert? Sagst du nicht immer, es wäre ein Irrglaube, dass der Quell unsere Gabe im Leib Sumus ruht?“ 

„Komm schon, Osbirg, du bist schlauer als das!“

„Bin ich?“

„Blutmagie?“

„Ich verstehe immer noch nicht, wie uns das weiterbringen soll.“

„Es gibt offensichtlich einen arkanen Weg, Land und Leuten die Lebenskraft auf ebenso elegante wie effiziente Art zu entziehen. Komplex, natürlich, aber vielleicht lässt sich das ja simplifizieren, wenn es nicht gerade darum geht, ganze Landstriche zu verheeren, um einen Zeitfrevel von einzigartigem Ausmaß in die Tat umsetzen zu können. Beim Land ist so etwas mit Zaubern gemeinhin unmöglich, das dürfte selbst dir klar sein, ja?! Und der Leute respektive Kreaturen muss man sich für gewöhnlich bemächtigen, um ihre Lebenskraft für sich nutzbar zu machen. Sie ausbluten lassen, was offen gesprochen ziemlich unappetitlich ist und ... nun ja, alles andere als legal. So aus der Ferne aber, ganz ohne dass es zu einem direkten und damit nachverfolgbaren Kontakt komm...“

„Würdest du bitte bei der Sache bleiben? Wie hilft uns das?“

„Wenn man sie erst einmal hat, diese Kraft, hängt es allein vom Willen und Vermögen des Ritualführer ab, was damit bewirkt wird. Vielleicht kann man sie ja einfangen und konservieren ... in einem geeigneten Gefäß – tot oder belebt. Vielleicht kann man sie transformieren ... auf andere Art nutzbar machen?“ Während er sprach, hatte Xabrasil einen Stift gezückt und begann damit, selbst Notizen auf sein Pergament zu kritzeln – mit einem Mal hoch konzentriert und ganz so, als hätte er Osbirgs Anwesenheit völlig vergessen.

Sie ließ sich das einen Augenblick bieten und stieß dann ein klar vernehmbares Räuspern aus, um seine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen: „Verstehe ich das richtig, dass du darüber nachdenkst, Sumu Kraft zu entziehen, um Bunsenhold dabei zu helfen, dem Herrn Boron ein Schnippchen zu schlagen?“

„Hum? Nein ... erst einmal denke ich nur über die Implikationen nach.“

„Die ... was?“

„Die größeren Zusammenhänge, Osbirg“, erwiderte er, ohne mit dem Gekritzel aufzuhören.

„Ich erklär dir einen, damit du dir das Denken in die Richtung gleich sparen kannst, ja?“, zischte sie. „Wenn du Hand an den Leib Sumus legst, bekommen wir ein großes Problem miteinander. Mach mit Menschen und anderen Kreaturen, was du willst. Saug sie aus, so viel es dir gefällt; der Schaden hält sich mit Blick auf das /große Ganze/ ja doch in engen Grenzen. Aber die Lebenskraft der Erdriesin rührst du nicht an! Du siehst doch hier, wohin das führt, das kann nicht in deinem Sinne sein. Und in dem des Grafen schon gleich gar nicht.“

„Jetzt dramatisier doch nicht über. Wir würden ja nur einen Bruchteil von dem benötigen, was hier entzogen wurde, um ...“

„Nein!“, fuhr Osbirg zornig auf. „Und das ist nicht verhandelbar!“

Jetzt endlich hielt der Magus in seinem Geschreibe inne. Er ließ den Stift sinken und hob den Blick, um sie aus seinen merkwürdig hellgrauen Augen neugierig zu mustern.

„Du stehst den Deinen noch immer viel näher, als du es dir selbst eingestehen willst, kann das sein?“, fragt er schließlich bedächtig.

„Das hat mit denen nichts zu tun. Das ist eine Sache zwischen Sumu, Satuaria und mir. Einer wie du kann das nicht verstehen, aber glaub mir: Ich meine es sehr, sehr ernst!“

„Glaube ich sofort“, gab er trocken zurück. Und dann: „Ich bin nicht auf Konflikte aus, das solltest du mittlerweile wissen. Lass mich einfach nur frei denken, ja? Alles einbeziehen, was mir auch nur im Entferntesten in den Sinn kommt. Handeln kann ich eh nicht, ohne mit dem Grafen Rücksprache zu halten – und so ja letztlich auch mit dir.“

„Hrum“, brummte Osbirg unwirsch. „Fein. Können wir dann jetzt gehen? Ich habe hier nun eh schon deutlich mehr Zeit verbracht, als ich es je wollte.“