Wirklich nur ein Baum?
Zwischen Natternhag und Farnbrunn, Baronie Urkentrutz, Efferd 1046 BF
Seit bereits fünf Götternamen vertrat Minerva ihre Mutter, die Baronin von Urkentrutz, auf einer ausgedehnten Reise ins Liebliche Feld befand. Die jüngste Schwester Minervas, die kleine Eylin sollte im Horasreich eine besondere Schule besuchen. Minerva hatte sich nicht großartig dafür interessiert, warum ihre Mutter beschlossen hatte, das arme Ding so früh so weit fort zu schicken. Schließlich war Eylin noch nicht einmal zwölf Götterläufe alt. Für die Zeit ihrer Abwesenheit hatte Lyssandra ihrer Ältesten und deren Schwertvater Oberon von Uhlredder die Aufsicht über die Baronie übergeben. Und Minerva versah diese Aufgabe gewissenhaft, kümmerte sich um die administrativen Angelegenheiten genauso wie um die Kontrolle der Belehnten. Sie bereiste die gesamte Baronie, die Ritter und Junkergüter, ließ sich überall Bericht erstatten und fertigte Protokolle davon an.
Gerade war Minerva, in Begleitung von Danje von Schwarzmoos und ihrer Knappin Ailgrid von Eisegrain, zu Gast bei Ritterin Gormla vom Blautann auf Gut Natternhag. Die Ritterin und ihre aranische Lebensgefährten zählten zu den engeren Freundinnen ihrer Mutter. Minerva war schon einige Male auf dem eigentümlichen Gut der beiden Frauen gewesen. Gormla vom Blautann und Nihal saba Mozon hatten sich auf den Erhalt seltener und vom Aussterben bedrohter Haustierrassen verlegt. So gab es auf dem Gut und einigen Eigenhörigenhöfen rund um Natternhag verschiedene, ungewöhnliche Schaf-, Ziegen-, Schweine-, Rinder-, Pferde- und Eselrassen.
Das fantastische Wetter in diesen Efferdtagen brachte Minerva auf die Idee, auch gleich noch nach Farnbrunn weiterzureiten. Der kleine Weiler am Fialgralwa lag so abseits der üblichen Reiserouten, dass sie ihn tatsächlich noch nie besucht hatte. Im strahlenden Sonnenschein machten sich also Minerva, Danje und Ailgrid auf den Ritt zum etwa einen halben Tagesritt entfernten Farnbrunn. Die Landschaft war zunächst geprägt von Wiesen und Weiden. Man konnte in der Nähe der verstreut liegenden Eigenhörigen Höfe immer wieder die kleinen Gruppen von seltenen Tierrassen bewundern, die im Auftrag der Ritterin gehegt und gepflegt wurden. Je näher sie dem Finsterbach kamen, desto feuchter wurde die Landschaft. Birken und niedrigere Gehölze prägten das Bild, Auwälder an den Seitenarmen des Fialgralwas und dort die namensgebenden Farne. Der Blautann war nicht mehr weit. Man konnte seine Ausläufer schon sehen.
Minerva lenkte ihr Ross, die Nordmähne Bazi, auf immer schmaler und holpriger werdendem Pfad in einen besonders dunklen Auwald. Der Boden war nachgiebig, der Hufschlag der Pferde war kaum mehr zu vernehmen. Minerva sah sich zu Danje um.
“Sind wir hier noch richtig? Das kommt mir schon sehr eigenartig vor. Bist du sicher, dass es hier entlang nach Farnbrunn geht?”
Danje hielt ihr Reitpferd an und richtete sich im Sattel auf, um sich die Umgebung anzuschauen. Auch sie war bisher selten bis nie in Farnbrunn gewesen. Es war ja etwas anderes, sich einen Weg von einer Karte aus anzusehen und ihn dann in der realen Welt zu beschreiten. Bemüht einen sicheren Eindruck zu machen, suchte sie in der Umgebung nach Landmarken, an denen sie sich orientieren konnte. Um etwas Zeit zu schinden richtete sie ihre ersten Worte nach Minervas Frage an ihre Knappin.
“Ailgrid, Minerva hat gerade eine sehr berechtigte Frage genannt. Weiden mag nicht Teil der Waldwildnis im Hohen Norden sein, aber auch in der Mittnacht gibt es viele menschenleere Gegenden. Da ist es stets wichtig, dass man weiß wo man ist, sein Ziel kennt und sich orientieren kann. Ich hab dir ja gestern von unserer Route erzählt. Schau dich doch einmal um! Was meinst du wo wir sind und anhand welcher Orientierungspunkten kommst du dazu?”
Die Knappin nickte als Zeichen, dass sie verstanden hatte und begann dann laut ihre Überlegungen anzustellen:
„Hmmm…. Von Natternhag liegt Farnbrunn praios-efferdwärts am Orkwasser. Der Wald zu unserer Rechten muss der Blautann sein, wenn wir an ihm entlang weiterreiten, müssen wir zwangsläufig auf den Fialgralwa stoßen. Von da an mit dem Fialgrala im Rücken, dem Fialgralwa gegen dessen Fließrichtung folgend kommen wir nach Farnbrunn und später sogar nach Urkenfurt.“ Sie nickte zuversichtlich. „Ja, so zumindest habe ich es mir auf der Karte angesehen und gemerkt.“
Danje nickte zufrieden.
“Das hört sich erstmal gut an und ich hätte es genauso gesagt!”
Trotz der Zustimmung war Danje auch ein wenig nervös geworden. Auch sie bekam das Gefühl, dass irgendwas anders war.
Minervas Blick ging immer wieder hinauf in die Wipfel der Bäume. Ein seltsamer Wind war aufgekommen. Er schien mal in die eine, mal in die genau entgegengesetzte Richtung durch die Baumwipfel zu wehen. Die Kronen der Laub- und Nadelbäume wogten erst in die eine, dann wieder in die andere Richtung. So etwas hatte die Baroness noch nicht erlebt.
“Hm, es ist eigenartig hier. Meine Mutter hat mich immer gewarnt, nicht in den Blautann zu reiten. Aber eigentlich sind wir noch ein gutes Stück davon entfernt. Seltsam, seltsam!”
Ganz plötzlich wurde der Weg nahezu undurchdringlich. Äste und Efeuranken waren so in den Weg gewuchert, dass sie ein Weiterreiten nahezu unmöglich machten. Minerva sprang vom Pferd und zog ihr Schwert, um sich einen Weg durch das Dickicht zu bahnen.
Auf den Hinweis von Minverva hatte Danje ebenfalls die Baumkronen ins Auge genommen. Es war nichts Greifbares zu sehen gewesen, aber das ungute Gefühl verstärkte sich. Als dann plötzlich der Weg auch noch versperrt war, stellten sich Danje die Nackenhaare auf. Eigentlich kämpfte sie schon länger lieber aus dem Sattel, um ihre nicht mehr ganz so jugendlichen Beine zu entlasten. Aber hier war das sinnlos. So schnell es ging, glitt sie ebenfalls aus dem Sattel. Zog ihre Waffe, setzte ihren Helm auf und zog sich ihren Schild auf den Arm. Minerva ging vorne zum Angriff auf das Dickicht über, während Danje den Rücken ihrer kleinen Reisegruppe sicherte. Immer wieder ging ihr Blick prüfend durch das Unterholz und Gebüsch. Falls Ailgrid es nicht von allein tat, bat Danje sie mit einem Nicken an die Seite und in die Nähe von Minerva zu gehen.
Die Knappin Danje’s hatte sich im Sattel sitzend nachdenklich umgesehen und war erst durch die Geräusche von Minerva’s Versuchen dem Gestrüpp mit dem Schwert zu Leibe zu rücken aus ihren Überlegungen hochgeschreckt.
Der stummen Weisung ihrer Schwertmutter folgend schwang sie sich vom Pferd und machte sich auf den Weg an die Seite der Tochter der Baronin.
Zunächst ließen sich die Ranken und Äste scheinbar mühelos zerteilen, gabe den Weg frei, doch als sie der nächsten zugewucherten Barriere gegenüberstanden, blieb Minervas Schwert beim nach unten fahren in der Rinde eines Baumes hängen. Urplötzlich ging alles sehr schnell. Beblätterte Zweige und Äste schnellten vor, schlangen sich um Minervas Leib und rissen die überraschte Baroness von Urkentrutz von ihren Füßen. Aus den biegsamen Zweigen wurden stattliche Äste. Diese umarmten die Knappin und drohten sie zu erdrücken.
Als Danje mit gezücktem Schwert und Schild Minerva zur Hilfe eilen wollte, bemerkte sie zu spät, dass sich um ihre Füße die Wurzeln einer Silberweide gewickelt und sie gefesselt hatten. Da sie schon in der Vorwärtsbewegung begriffen war, schlug sie der Länge nach hin.
Orkendreck war noch der harmloseste Fluch, den Danje von sich gab, nachdem sie hingeschlagen war und ihr kurz die Luft weggeblieben war. Hektisch fing sie an, sich von den Wurzeln zu befreien. Aber das würde dauern…selbst wenn es normale Wurzeln wären und dem schien ganz und gar nicht so.
Noch auf dem Weg zur Baroness überschlugen sich die Ereignisse.
Zuerst wurde Minerva von den Beinen gerissen und nur wenige Augenblicke später lag auch die Bornländerin auf dem Boden.
Schnell erfasste die Knappin, dass ihre Schwertmutter nicht in Lebensgefahr schwebte, ganz im Gegensatz zur Minerva.
Sie riss den Zweihänder vom Rücken, befreite ihn von der Scheide.
Während sie einen beherzten Satz nach vorn machte, holte sie zu einem wuchtigen Schlag aus und durchtrennte damit die fünf oder sechs inzwischen zum Teil armdicken Ranken, welche sich um die Baroness geschlungen hatten.
Mit einem Tritt gegen die Parierstange von Minerva’s im Stamm festsitzenden Schwertes gelang es ihr, die Waffe aus dem Baum zu lösen.
„Hör auf, du verrückter Baum! Leben und leben lassen! Du hast deinen Standpunkt klar gemacht!“ Auch wenn die Knappin nicht ernsthaft damit rechnete, dass der Baum sie verstehen könnte, half es ihr, ihre Gefühle zu kontrollieren. Wohl derselbe Grund, der ihre Schwertmutter zu heftigsten Schimpftiraden verleitete, die manchen betrunkenen Seemann erröten lassen würden.
Ein seltsamer, hoher Schrei pfiff durch den Wald und schmerzte in den Ohren der drei Frauen. Nicht menschlich, aber dennoch sehr real. Schwer einzuschätzen, ob es ein Schmerzens- oder ein Wutschrei war. Die Silberweide schien nun erst richtig wütend zu werden. Der Verlust ihrer Triebe machte sie rasend. Wild peitschten die beblätterten Äste durch die Gegend, trafen abwechselnd Ailgrid und Danje. Minerva, die bewegungslos mit ansehen musste , wie die erfahrene Ritterin und ihre Knappin Peitschenhieb um Peitschenhieb einstecken mussten.
Spätestens jetzt war der Baroness klar, dass sie es wohl mit einer Dryade zu tun hatten. Schließlich waren sie nicht weit vom Blautann entfernt. Eine Region, die man mit Vorsicht genießen musste. Magische Wesen aller möglichen Gattungen trieben dort ihr Unwesen, Feen bewohnten Globule oder eben auch Bäume. Mit der wenigen ihr durch den Klammergriff der Weide verbliebenen Luft rief Minerva: “Halt! Halt ein, Dryade! Gib uns die Gelegenheit zu reden! Bitte!”
Minerva hatte das Gefühl, dass vor allem das flehende “Bitte” zum Schluß ihres Rufs die Dryade erreicht hatte.
Jedenfalls hörten die peitschenden Äste der Silberweide auf Ailgrid und Danje zu traktieren. Mit einem ächzenden Geräusch löste sich ein Wesen aus der Rinde des Baumes. Eine gertenschlanke, große Frau mit silbrig glänzendem, langem Haar und grünen Augen stand vor ihnen. Sie war mit einem Kleid aus langen, lanzettartigen Weidenblättern bekleidet, die sichtbare Haut an den Armen und Beinen hatte einen grauen Schimmer und wirkte zerfurcht. Ihr Gesichtsausdruck spiegelte eine Mischung aus Wut, Trotz und Traurigkeit.
Danje hatte sich in den verzweifelten Bemühungen ihrer Aufgabe zu folgen und Minerva zu schützen völlig verausgabt. Dazu kam, dass die Wurzeln und Ranken sie immer enger umschlungen hatten. Sie konnte sich kein Stück mehr bewegen und am Ende hatte ihr ein großer Ast immer wieder und wieder auf den Kopf geschlagen. Zwar meistens mehr mit den Blättern getroffen, aber halt auch immer wieder mit dem Stamm. Als sie gerade dachte, dass ihr wohl nur noch übrig blieb zu beobachten, ob sie erwürgt oder erschlagen wurde, hörte sie Minervas flehendes “Bitte”. Es zunächst falsch interpretierend, die Erbin von Urkentrutz war nicht in ihrem Blickfeld, bäumte sie sich ein letztes Mal auf. Die Befürchtung, dass Minerva gerade um ihr Leben flehte, gab ihr noch einmal Luft. Doch viel gelang ihr nicht…sie hing am Ende nun kopfüber, das Gesicht weniger Finger über dem Boden, vollkommen von Wurzeln und Ranken eingesponnen in der Luft. In der Hüftregion schmerzhaft verdreht und ihre Beine weit nach hinten gebogen. Sie merkte, wie ihr langsam mehr und mehr Blut in den Kopf schoss und das Atmen immer schwerer wurde. War das ihr Ende?
Ailgrid war ebenfalls arg außer Atem und froh über die Verschnaufpause. Ein kurzer Rundumblick zeigte ihr, dass sie die einzige der drei Frauen war, die noch handlungsfähig war. Sie blickte das Wesen erst ungläubig an, senkte dann den Zweihänder und verfolgte das Tun der Baumnymphe. Sie gab sich betont gelassen, war aber bereit jederzeit loszuschlagen, wenn es die Situation erfordern würde. Kurz überlegte die Knappin, was sie über diese Wesen wusste. Mit sanfter, freundlicher Stimme wandte sie sich an die Dryade: “Ich bin Ailgrid! Die junge Dame dort am Boden ist die Baroness Minerva und die etwas ältere Dame ist meine Schwertmutter Ritterin Danje.” Sie suchte in dem gräulich schimmernden Gesicht und den grünen Augen nach einer Reaktion auf ihre Worte. Tatsächlich schien die Wut ein wenig der Verunsicherung zu weichen und ihr Blick heftete sich auf Minerva.
Dieses Wesen war so unglaublich schön und zugleich unendlich traurig. Ailgrid hatte den Wunsch, die Dryade in die Arme zu nehmen und zu trösten. “Wie ist dein Name schöne Baumnymphe?” Fragte Ailgrid mit einer ungewohnten Zartheit in der Stimme und blickte die Dryade liebevoll an.
Die Dryade wirkte verwirrt, vielleicht auch ein wenig geschmeichelt. Sie schien Vertrauen zu Ailgrid zu schöpfen und beantwortete schließlich die Frage. “Mein Name ist Ra’Simyazai”
„Ein wirklich schöner Name. Ra’Simyazai!“ Versuchte Ailgrid das Gespräch fortzuführen, doch die Dryade hatte sich abgewandt und schien von der Knappin keine Notiz mehr zu nehmen.
Die schlanke Gestalt bewegte sich in eigenartig schwingenden Bewegungen auf die in den Wurzeln der Silberweide feststeckenden Minerva zu. Ihre biegsamen Arme, die in unnatürlich langen Fingern mit spitzen, silbriggrünen und blattförmigen Nägeln endeten, näherten sich dem Gesicht der Baroness.
“Sie ist es! Sie hat mir ihre Liebe versprochen, hat sich in mein Herz geschlichen und mich dann betrogen! Ich habe sie an eine Menschenfrau verloren. Sie ist mit ihr fort gegangen, hat mich hier zurückgelassen, alleine… einsam… ”
Ra’Simyazai schien von ihren Emotionen überwältigt zu werden. Sie bog und wand sich wie eine Weide im Wind, näherte sich mit ihrem Gesicht dem der Urkentrutzer Baroness. Minerva hielt dem seltsam wirren Blick der Nymphe stand. “Du siehst aus wie sie!”
Die Dryade fuhr herum. Ihre langen Arme peitschten durch die Luft. Sie schienen Ailgrid treffen zu wollen, die reflexartig zurückzuckte. “Sie sieht aus wie meine Laijindra… was sage ich, SIE IST Laijindra! Natürlich ist sie es und sie ist schon lange nicht mehr die Meine! Oh nein! Sie hat nach mir geschlagen und mich und meine Weide verletzt! Aber dieses Mal entkommt sie mir nicht! Ich werde sie dieses Mal nicht gehen lassen! Du wirst sie mir nicht wieder wegnehmen! Und du wirst mir nicht mehr weh tun, du nicht und sie nicht! Oh nein! Dieses Mal nicht!”
Ein fanatisches Grinsen zeigte sich auf Ra’Simyazais Gesicht, dann gab sie der Silberweide einen unausgesprochenen Befehl. Die Wurzeln, die Minerva festgehalten hatten, lösten ihren Fesselgriff. Nun schlang die Dryade ihre biegsamen Arme um die dunkelhaarige, junge Frau, beraubte sie jeder Bewegungsfreiheit und zog sie rückwärts, mit einem irren Lachen, in Richtung des Baumes. Schon verschmolz der rechte, knorrige Fuß Ra’Simyazais mit der Rinde der Weide. Wenn jetzt nichts geschah, würde sie Minerva mit sich in den Baum ziehen, sie ganz zu der Ihren machen.
Ailgrid hatte nicht viel Zeit zu überlegen, sie musste handeln, sonst wäre es um Minerva geschehen und auch Danje’s und ihre Tage wären sicher gezählt.
Aber töten wollte sie die Dryade auch nicht. Sie empfand großes Mitglied mit diesem fremden Wesen, dem man ganz offensichtlich übel mitgespielt hatte.
Die Knappin hatte keine Ahnung ob die Baroness dieser Laijindra wirklich zum Verwechseln ähnlich sah oder ob der Geist der Baumnymphe bereits vor Kummer und Schmerz so verwirrt war, dass schon eine annähernde Ähnlichkeit ausgereicht hatte.
Egal, schoss es der Schwarzhaarigen durch den Kopf, jetzt oder nie.
Mit beiden Händen fasste sie ihren Zweihänder bei der Klinge und während sie einen Satz nach vorn machte, holte sie aus und schlug dann zu.
Das Griffstück traf die Dryade hart am Kopf, an jener Stelle, wo bei einem Menschen die Schläfe gewesen wäre. Ailgrid hatte keinen Schimmer, ob es sich bei diesen Wesen auch so verhielt, aber der Schlag zeigte Wirkung. Ein hölzernes Knarzen und erneut dieser fremdartige, hohe Schrei, der furchtbar in den Ohren schmerzte, erklang. Diesmal um einiges länger und lauter. Die Frônacherin musste alle Willenskraft aufbringen, um nicht ihre Waffe fallenzulassen, sich die Ohren zuzuhalten und auf die Knie zu fallen. Die Baumnymphe sank nieder und gab dabei Minerva frei. Es erklang ein dumpfes Poltern und ein übler Fluch. Ailgrid musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass die Silberweide ihre Schwertmutter freigegeben hatte und die Bornländerin zu Boden gestürzt war.
Die Knappin hob das Schwert Minerva’s auf, drückte es seiner Besitzerin in die Hand und half der Tochter der Baronin auf die Beine.
„Lasst uns schnell verschwinden, keine Ahnung, wie lange es dauert, bis dieses arme Geschöpf wieder zu Bewusstsein kommt.“
Minerva und Algrid beeilten sich nach Danje zu sehen. Die Baroness erkundigte sich, ob die Gemahlin ihres Schwertvaters Verletzungen davon getragen hatte.
„So ein verrückt gewordenes Bäumchen kann doch einer echten Bronnjarin nichts anhaben!“ kam’s von der Knappin und sie streckte ihrer Schwertmutter die Rechte entgegen, um ihr aufzuhelfen.
Ächzend erhob sich diese und ergriff dankbar die ausgestreckte Hand. Noch leicht schwankend, stand Danje halbwegs sicher auf den Beinen und musste erst einmal damit kämpfen, dass nun ihr gesamtes Blut vom Kopf in die Beine floss. Massive Kopfschmerzen kamen dazu.
Eilig, aber nicht übereilt verließen die drei Frauen den Ort des Geschehens, mussten sich erneut einen Weg durch dichtes Gestrüpp bahnen, um endlich wieder auf ihre Pferde steigen zu können. Noch immer bleich vor Schreck und zeitweiser Atemnot saß Minerva schweigend im Sattel ihrer Nordmähne Bazi. Immer mehr wurde ihr bewusst, dass sie nur knapp mit dem Leben davongekommen war. Ailgrid hatte ihr Leben gerettet. Doch bevor sie ihrer Lebensretterin danken konnte, musste sie zunächst dafür sorgen, dass sie in Sicherheit waren.
Plötzlich kamen sie an eine Weggabelung. Irritiert blickte sich Danje, die voraus geritten war, um.
Ailgrid blickte sich ebenfalls um, sie war sich nicht sicher, deswegen fragte sie ihre Schwertmutter: „Bilde ich es mir nur ein, oder sind wir vorhin gar nicht so weit in den Wald eingedrungen wie wir jetzt herausreiten?“
Erneut blickte sie sich um.
Danje, immer noch leicht benebelt, brauchte einen Moment, um sich zu orientieren.
“Du hast vollkommen Recht Ailgrid… diese Gabelung ist vorhin vor unseren Sinnen verborgen gewesen. Das war wirklich eine perfide Falle. Wir müssen unbedingt zu gegebener Zeit der Baronin davon berichten. Diese Dryade muss besänftigt oder schlimmstenfalls beseitigt werden!”
In Gedanken fügte Danje noch an, dass Bärwalde mal wieder bewiesen hatte, dass sie die Grafschaft in der Mittnacht war, in der es am häufigsten zu solchen Begegnungen kam.
Danje hatte recht, dass wusste Ailgrid instinktiv, aber dennoch dauerte sie die arme Baumnymphe. Ra’Simyazai war betrogen und verlassen worden und vor Kummer und Schmerz nun verbittert, traurig und wütend. Die schwarzhaarige Knappin fühlte aber, dass die Dryade in ihrem Wesen gutmütig und hilfsbereit war. Hoffentlich würde sich jemand dieser Aufgabe stellen, der die Sache richtig anging und die von Menschen verletzte Baumnymphe tatsächlich beruhigen konnte. Vielleicht wäre es klug einen Elfen damit zu beauftragen.
Minerva nickte. “Hm, ich werde meine Mutter davon berichten, wenn sie aus dem Horasreich zurück ist. Sie wird sicher jemanden kennen, dem sie eine solche Aufgabe zutraut.”
Auch Minerva zügelte ihr Pferd. Eindeutig war diese Gabelung vorher nicht dagewesen. Sie waren auf dem Hinweg nicht an einer Weggabelung überlegen müssen, welchen Weg sie einschlagen sollten. Dieser Teil des Waldes war eindeutig verzaubert.
Nun zeigte sich nicht nur eine Gabelung, sondern auch ein Wegweiser, auf dem in eingebrannten Lettern “Farnbrunn” stand.
Ailgrid sah das Minerva etwas sehr intensiv betrachtete und folgte dem Blick. Ein Wegweiser? Farnbrunn?
Das war alles mehr als merkwürdig.
Magie, Zauberei, Hexenkunst, egal welchen Namen man der Sache gab, Ailgrid möchte es einfach nicht.
Man folgte dem Wegweiser, offenbar hatte diese Ra’Simyazai doch mehr Macht als Ailgrid ihr zugetraut hatte.
Als der Weg sich wieder verbreiterte und es ermöglichte, dass zwei Reiter nebeneinander reiten konnten, ließ Minerva sich zurückfallen und steuerte Bazi neben die Knappin ihrer Schwertmutter.
“Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll, Ailgrid! Du hast mir und Danje das Leben gerettet! Du hast Mut und Tatkraft bewiesen in einer wirklich höchst gefährlichen Situation. Vor allem hast du dich nicht einschüchtern lassen, sondern überlegt und beherzt gehandelt. Ich stehe tief in deiner Schuld!”
Ailgrid nickte Minerva zu, als diese ihr Pferd neben sie lenkte. Sie hörte die Worte der Baroness, aber es dauerte einen Augenblick bis sie sie auch verstand! Augenblicklich errötete die Knappin. “Zuviel der Ehre, Baroness. Ich habe nur getan, was jede Andere auch getan hätte. Die Dryade hatte euch als ihr erstes Ziel ausgewählt, so dass euch keine Möglichkeit der Reaktion blieb. Wenn es anders gekommen wäre, hättet ihr dasselbe für mich getan.” Die mandelförmigen, graublauen Augen blickten peinlich berührt zu Boden.
“Du hast wirklich hervorragend gehandelt! Sei dir gewiss, Ailgrid, dass ich für deine Tat eine angemessene Belohnung finden werde, wenn wir erst wieder zurück in Urkenfurt sind. Bis dahin nimm mit meinem aufrichtigen Dank vorlieb!”
Minerva trieb ihre Nordmähne wieder an, wollten sie doch noch vor Einbruch der Dunkelheit Farnbrunn erreichen.