Dramatis Personae

 

Neulich in der Sichelwacht: Ortbänder und Hundesabber

Feste Aarkopf, Grafenstadt Salthel, Ende Praios 1036 BF

„Ihr solltet mit so etwas Wichtigem wirklich pfleglicher umgehen, Hoher Herr. Das sieht ja aus, als wäre es durch einen Fleischwolf gedreht worden“, sagte Tsarahbella vorwurfsvoll. Um zu demonstrieren, was sie meinte, hob sie das zerfledderte Pergament und wedelte energisch damit in der Luft herum. So entwickelten einige lange, schmale Streifen an dessen Rand ein widerwilliges Eigenleben, flatterten traurig auf und ab. Eine Handvoll gezackter Fetzen löste sich sogar ganz und segelte langsam auf den Tisch hinab.

„Hört bitte auf, Meisterin!“, flehte Gringolf mit einem gequälten Blick auf das, was einmal die Wappentafel seiner Familie gewesen war. Der Erste Ritter der Sichelwacht saß in sich zusammengesunken vor der gräflichen Heroldin. Dabei wirkte er wie ein unartiger Rotzlöffel, der damit rechnete, dass seine gestrenge Mutter ihm jeden Moment einen Satz heiße Ohren verpassen würde, und nicht wie das große Vorbild der Sichler Ritterschaft, das er eigentlich sein sollte. „Ich weiß doch, wie das aussieht, Ihr müsst es nicht noch schlimmer machen. Und das mit dem Fleischwolf ist gar nicht so weit her ... es war einer der Jagdhunde meines Vaters.“

„Wie konnte das passieren?“, hakte Tsarahbella nach. „Lasst Ihr solche wertvollen Dokumente etwa offen bei Euch daheim herumliegen?“

„Normalerweise nicht. Ich hatte sie rausgeholt, weil ich im kommenden Rondramond an der Zwölfgöttertjoste in Perricum teilnehmen möchte und dafür Schilde nachweisen muss“, meinte Gringolf kleinlaut. „Ich habe draufgeguckt und wollte die Tafel eigentlich gleich wieder wegräumen. Aber dann wurde ich ... ähm ... ich wurde abgelenkt, Meisterin. Und als ich zurückkam, war das Unglück schon geschehen.“

„Abgelenkt, hum?“, brummelte Tsarahbella. Sie konnte sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen, als der Kopf des frisch vermählten Ritters schlagartig eine dunkelrote Färbung annahm. „Ich verstehe.“ Die Heroldin legte den Fetzen Pergament auf dem Tisch ab und musterte ihr Gegenüber aufmerksam. „Zur Zwölfgöttertjoste? Ein hehres Anliegen, das ich selbstverfreilich nur gutheißen kann. Ich vermute, das betont Ihr so, weil Ihr mich darauf aufmerksam machen wollt, dass es eilt? Und dass ich diese Sache bevorzugt behandeln soll?“

„Nun ja ... ich ... öhm ... das ist mir so rausgerutscht. Ich wollte Euch eigentlich erst das hier geben“, der Högelsteiner nestelte an seiner Gürteltasche herum und förderte einen kleinen, ledernen Beutel zutage, den er Tsarahbella mit einem gewinnenden Lächeln über den wuchtigen Tisch hinweg in die Hand drückte.

Die Heroldin öffnete den Beutel, musste aber gar nicht hineinsehen, um die Art des Inhalts zu erraten: Es handelte sich um Pfeifentabak. Der verführerische Duft stieg in ihre Nase auf und sorgte dafür, dass auch sie zu lächeln begann. So ein guter Junge! Tsarahbella nickte zufrieden, dann machte sie sich mit spitzen Fingern daran, die zerfledderte Wappentafel langsam auseinanderzufalten.

Zum Glück gehörte die Familie des Ersten Ritters der Sichel nicht zu jenen uralten Weidener Adelsgeschlechtern, deren Stammbäume und Wappenrollen gefühlt bis in die Zeit Isegreins des Wanderers zurückreichten. Es gab sie erst seit rund 300 Jahren, was für Tsarahbella und ihre Leute ein erträgliches Maß an Aufwand bedeutete. Auch das trug zur Zufriedenheit der Heroldin bei. Sie ließ den Blick flüchtig über die nunmehr teils von Hundesabber verschmierten Wappenbilder gleiten. Ein nach außen gebogener Sparren, blau, auf goldenem Grund. Herrlich schlicht. Und dazu ein Ortband – nicht schlicht, sondern verziert. Ungewöhnlich und soweit sie wusste einmalig in der Grafschaft Sichelwacht. Vielleicht sogar in ganz Weiden.

Ihr fiel just in diesem Moment auf, dass sie gar nicht wusste, was es damit auf sich hatte. Welche Bedeutung diese Figur für die Familie hatte. Die Högelsteins stellten aktuell zwar den Gräflichen Jagdmeister und den Ersten Ritter der Sichelwacht, im Grunde aber war ihr Geschlecht vollkommen unbedeutend. Es verfügte nur über ein Junkergut irgendwo im Schroffenfelser Nirgendwo und ein paar versprengt lebende Angehörige – von denen sie selbst bloß Gringolf und seinen Vater Oswald persönlich kannte. Aus diesem Grund hatte sie sich nie näher mit der Familie befasst. Sie wollte sich das aber beim besten Willen nicht anmerken lassen und stellte daher keine Fragen zum Wappen. Alles, was sie wissen musste, würde sie später ohnehin in den Unterlagen finden, da war sie sicher.

„Das ist machbar“, sagte sie stattdessen und nickte abermals. „Die neue Tafel wird rechtzeitig fertig sein, sodass Ihr sie mit auf Eure Reise nach Perricum nehmen könnt, Hoher Herr, seid versichert.

Gringolf seufzte erleichtert und griff noch einmal in seine Gürteltasche. Tsarahbella folgte der Bewegung ebenso aufmerksam wie erwartungsfroh. Hatte der junge Mann vielleicht noch ein Geschenk für sie dabei? Das wäre wirklich allerliebst gewesen! Statt eines weiteren Beutels förderte er jedoch ein kleines Büchlein zutage: vergilbt, aber immerhin nicht zerfleddert und vollgesabbert. Er schob es über den Tisch und wartete, bis sie es aufgeschlagen hatte. Der Blick der Heroldin fiel auf allerlei heraldische Zeichnungen und sie hob fragend die Brauen.

„Was halte ich hier in den Händen?“, wollte sie wissen.

„Das weiß ich auch nicht so genau“, gab Gringolf zurück. „Ich habe es vor ein paar Monden im Keller unseres Wehrturms gefunden – vergraben unter Tand in einer Ledermappe am Boden einer Truhe in der hintersten Ecke. Dachte mir, ich bringe es einfach mal mit, wenn ich eh schon bei Euch bin. Sieht mir aus, als ob es Ideen für ein Wappen wären ... und unserem teils sehr ähnlich ... ?“

Tsarahbella gab ein nachdenkliches „Hum“ von sich, derweil sie prüfend auf diverse Ortbänder sah – in verschiedenen Ausführungen. Danach auf ein paar Sparren-Varianten, gebogene Klingen sowie Figuren, die entfernt an Aale und Luchse erinnerten. Es handelte sich überwiegend um Skizzen. Eilige Entwürfe und nicht um ausgereifte Vorschläge. Vorarbeiten vermutlich. Nichts Besonderes. Schaden konnte es aber auch nicht, also legte sie das Buch auf den Kadaver der högelsteinschen Wappentafel und nahm sich vor, später noch einmal ein bisschen genauer darauf zu schauen.

„Seid bedankt, Hoher Herr“, meinte sie dann. „Habt Ihr noch ein Anliegen, oder wäre das alles?“

„Das war’s eigentlich“, sagte Gringolf und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. „Ich bin wirklich sehr erleichtert ... und erfreut über Eure Zusicherung, Meisterin. Es wäre mir arg gewesen, nicht an diesem göttergefälligen Kräftemessen teilnehmen zu können. Ein paar Weidener sollten dort schon vertreten sein, finde ich. Auch und vor allem aus der Sichelwacht.“

Tsarahbella nickte pflichtschuldig. Sie hätte den jungen Mann am liebsten sofort ihres Raumes verwiesen, damit sie sich dem guten Tabak zuwenden konnte, den er mitgebracht hatte. Seine offensichtliche Begeisterung für das Thema, das er nun angeschnitten hatte, hielt sie jedoch davon ab. Anscheinend wollte er sich unbedingt mit irgendjemandem darüber austauschen – und hatte sich aus unerfindlichen Gründen ausgerechnet für sie entschieden.

Tsarahbella war zwar nicht die freundlichste Person auf dem Aarkopf, aber auch nicht so herzlos, dass sie sich der Leidenschaft eines jungen Menschen völlig verschließen konnte. Also lehnte sie sich entspannt in ihrem Sessel zurück und ließ schicksalsergeben sich auf ein Gespräch mit dem Ersten Ritter ein.