Dramatis Personae
- Gringolf von Högelstein
Erster Ritter der Grafschaft Sichewalcht - Tsarahbella von Tompa
Heroldin der Grafschaft Sichelwacht
Neulich in der Sichelwacht: Ortbänder und Hundesabber
Feste Aarkopf, Grafenstadt Salthel, Ende Praios 1036 BF
„Den Göttern zum Gruße, die Herrschaften. Schön, dass Ihr den Weg doch noch gefunden habt. Ich hatte die Hoffnung fast aufgegeben. Also: Kommt herein, setzt Euch.“
Matajew verhielt auf der Türschwelle und wechselte einen raschen Blick mit seiner Schwester Saschura, bevor er der Aufforderung des gräflichen Sekretärs nachkam. Es passierte nicht alle Tage, dass eine der höher gestellten Persönlichkeiten am Saltheler Grafenhof jemanden aus seiner Familie zu sich rief. Nein, eigentlich passierte das sogar nie! Die Rittwachter waren Leute fürs Grobe. Er. Seine Schwester. Sein Vetter. Wenn überhaupt mal jemand was von ihnen wollte, war das für gewöhnlich der Erste Ritter. Oder die Burghauptfrau. Vielleicht auch mal die Heermeisterin der Sichel. Aber ganz sicher keiner von Bunsenholds Speichelleckern. Die hatten gemeinhin Besseres zu tun. Nichts, womit er oder die Seinen hätten helfen konnten.
Umso mehr galt es, sich Mühe zu geben, damit kein schlechter Eindruck entstand. So was geschah bekanntlich schneller, als einem lieb sein konnte. Folglich rückte Matajew galant einen Stuhl für seine Schwester zurecht, ehe er sich dem eigenen zuwandte. Just bevor er sich niederließ, fiel ihm ein, dass die Etikette noch etwas anderes verlangte. Er hielt also erneut inne, suchte den Blick seines Gegenübers und lächelte ihm so höflich wie möglich zu:
„Rondra zum Gruße, Meister!“
„Erneut zum Gruße“, wiederholte der so Benannte, nickte gewichtig und setzte sich selbst wieder hin. „Etwas zu trinken vielleicht?“
„Den Zwölfen zum Gruße“, flötete Saschura und fügte sogleich ein verbindliches „Danke für das Angebot, aber ich denke, das ist nicht nötig“ an. „Wir werden so wenig wie möglich von Eurer Zeit in Anspruch nehmen. Sicher habt Ihr wichtige Aufgaben zu erledigen – und davon wollen wir Euch nicht abhalten.“
Tatsächlich hatten sie es einfach nur eilig, nach Hause zu kommen. Da waren sie eh viel zu selten und je länger die Zeit hier am Grafenhof wurde, desto mehr ging ihnen der ganze Circus gemeinhin auf die Nerven. Nachdem der alte Markgraf das Zeitliche segnete, hatten sie mal gehofft, dass das Leben in Salthel besser werden würde – vor allem einfacher. Das bewahrheitete sich jedoch nicht. Und je älter sie wurden, desto weniger Geduld hatten sie für die Ränke auf dem Aarkopf. Besser, sie gingen ab und zu heim, um ihr Mütchen zu kühlen. Glücklicherweise funkte ihnen selten jemand dazwischen. Der neue Graf legte nämlich keinen Wert darauf, die Ritter der Sichel um sich zu haben. Die Männer und Frauen, die seine Hausmacht hätten stellen sollen. Seltsam genug!
„Wie trefflich Ihr Eurem Ruf doch gerecht werdet“, gab der Schreiberling in Matajews Gedanken hinein zum Besten. Er lächelte, aber es wirkte irgendwie gezwungen. So, als würde er vor einem tollwütigen Bären sitzen und nicht vor zwei verdienten Rittern.
„Was meint Ihr?“, hakte Matajew nach. Bei dem Anblick konnte er einfach nicht anders.
„Oh, bitte, das war nicht despektierlich gemeint“, eilte sich der junge Kerl zu erklären.
Er war ein dürrer Haken. Typischer Schreibtischtäter. So, wie Bunsenhold sie mochte: weidlich ungefährlich und peinlichst darauf bedacht, ihrem Herrn jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Anders ließ sich der sagenhafte Aufstieg dieses Männleins auch wirklich nicht erklären. Immerhin war es von gemeiner Geburt und mittlerweile dennoch der Sekretär für die privaten Angelegenheiten des Grafen der Sichelwacht.
„Ich wollte damit nur sagen, dass Ihr der Beschreibung der Heroldin gerecht werdet“, haspelte der Emporkömmling just. „Sie meinte, dass die von Rittwacht gerade heraus seien und nicht viel auf ‚Geplapper‘ gäben. Dass ich bei Euch lieber gleich zum Punkt kommen soll, weil ich Eure Aufmerksamkeit sonst rasch verlieren würde.“
Matajew hatte das Gefühl, dass diese Beschreibung am Ende doch eine Beleidigung enthielt. Von hinten durchs Knie ins Auge. Ganz nach dem Geschmack des alten Schlachtschiffs Tsarahbella von Tompa. Aber das kommentierte er lieber nicht. Die Heroldin war ein bisschen zu viel des Feindes. Aus einem Kampf mit ihr kam niemand unbeschadet heraus. Allein schon wegen des Gewichts. Also quittierte er die Worte des Schreiberlings – wie hieß er noch gleich? Ilmbold? – bloß mit einem leisen Brummen und nickte dann.
„Sie hat Recht“, Saschura war schon immer ein bisschen redegewandter gewesen als er. Gut, dass sie die Sache in die Hand nahm. „Also wenn nichts dagegenspricht, haltet mit Eurem Anliegen nicht hinterm Berg, Meister. Uns kommt das entgegen.“
„Nun, wenn Ihr es wirklich wünscht: Es geht um diesen Rauheneck. Widderich von Rauheneck. Die Heroldin hat mir berichtet, dass Ihr einst recht eng mit ihm befreundet wart. Vor rund 20 Jahren, als er noch hier am Grafenhof weilte. Als Knappe, wenn mich nicht alles täuscht. Auf dem Weg zum Sichelritter ... ?“
„Ritter der Mark damals noch“, korrigierte Matajew.
„Und nicht auf dem Weg dahin, sondern bereits angekommen“, fiel Saschura ein. „Er ist danach nur nicht geblieben. Seine älteren Geschwister haben den ganzen borbaradianischen Bockmist seinerzeit nicht überlebt. Da war er plötzlich Erbe eines Junkertums drüben in Rotenforst und wurde von der Familie heimgeholt.“
„Ah ja“, das Bürschchen neigte sich vor und kritzelte etwas auf ein Pergament, das vor ihm lag. Wie es Schreiberlinge nun mal so taten. Vermutlich aus dem einfachen Grund, dass ihre Gehirne zu klein waren, um sich irgendetwas ohne Notizen merken zu können.
„Was ist denn mit ihm?“, wollte Matajew wissen.
„Wie bitte?“
„Na, warum befasst Ihr Euch mit Widderich? Ist ja nicht so, als wäre seine Familie plötzlich von Bedeutung, oder? Haben sie was angestellt?“
„Ist sicher wegen der Fehde, hum?“, murmelte Saschura. „Ich hörte läuten, dass er seinem Baron kürzlich die Fehde erklärt hat.“
„Ja, das ist tatsächlich so. Und ja, es ist einer der Gründe, aus denen ich Euch hierher gerufen habe“, sagte der Sekretär. „Die Heroldin meinte, wenn ich nach Wissen suche, würde ich bei Euch am ehesten fündig. Ihr wärt unzertrennlich gewesen. Wie kommt das eigentlich? Stehen sich Eure Familien schon länger nahe?“
„Nicht dass ich wüsste“, sagte Matajew.
Auch Saschura schüttelte verneinend den Kopf: „Da gab es vorher keine Bande. Aber bei uns ist das eine ganz einfache Kiste gewesen: Sein Vater war ein Bornischer, unserer ist es noch. Wenn man Kind ist, reichen solche Kleinigkeiten für ein Gefühl der Verbundenheit. Das wisst Ihr sicher. So war das auch bei uns.“
„Ein Bornischer, das ja. Aber nicht dieser Festumer ... Thorwaler, über den uns vor Kurzem so schlechte Kunde aus Rotenforst erreichte, richtig?“
„Ihr meint, weil ihn die guten Geister ausgerechnet am Hof seines Barons verlassen haben?“, fragte Matajew und konnte sich ein belustigtes Schnauben gerade noch verkneifen.
„Nein, das war nicht sein leiblicher Vater, Meister“, fügte Saschura rasch an.
Während sie sprach, warf sie Matajew einen tadelnden Blick zu. Als wüsste er nicht selbst, dass er sich in diesem Gespräch keinesfalls anmerken lassen durfte, auf wessen Seite er in dieser Sache stand. Denn es war selbstverfreilich nicht die des rechtmäßigen Herrschers von Rotenforst – und damit leider etwas, das man sich tunlichst nicht anmerken lassen sollte.
„Widderichs leiblicher Vater war von altem festenländischem Adel“, erklärte seine Schwester unterdessen. „Radvis... Rivis... Rivilaukis? So was in der Art?“
„Hmja, meine auch“, brummelte Matajew.
„Rivilauken? Interessant“, meinte der Schreiberling knapp. „Wie ist er denn so?“
„Tot“, erwiderte Matajew. „Wenn ich das recht verstanden habe, ist er gleich nach Widderichs Geburt stockbesoffen von einem der Türme dieser rauheneckschen Burg gefallen und hat sich dabei alles gebrochen, was man sich brechen kann.“
„Wie bitte?“, der Schreiber starrte ihn fassungslos an.
Matajew hob gleichmütig die Schultern und grinste schief: „Nun ja, wie soll ich’s sagen? Ihr habt bestimmt schon mal gehört, dass der durchschnittliche Bornische mehr trinkt als der durchschnittliche Weidener? Und wenn es Grund zum Feiern gibt ...“
Der Sekretarius schien es immer noch nicht recht glauben zu können. Schließlich aber räusperte er sich und hakte nach: „Ich meinte eigentlich den Sohn und nicht den Vater.“
„Was?“
„Na, wie ist dieser Widderich von Rauheneck so?“
„Wieso wollt Ihr das wissen?“, Matajew blinzelte irritiert.
„Weil wir ihn nicht einschätzen können, Hoher Herr. Es ist schwer, sich von jemandem ein Bild zu machen, der seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr am Hof war.“
„Wir haben ihn ebenso lange nicht gesehen“, wandte Saschura ein. „Es war damals, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Von einem Tag auf den anderen war er weg. Wir wussten erst gar nicht wo. Hat eine Weile gedauert, bis er uns darüber informierte, dass er zurück in die Heimat ist.“
„Aber Ihr kanntet ihn gut. Damit habt Ihr den meisten hier etwas voraus. Ich kenne nichts als die Gerüchte. Und die ... nun ... sagen wir mal: Besser, nichts davon wäre wahr.“
„Ist es auch nicht“, behauptete Matajew im Brustton der Überzeugung.
„Hum“, murmelte Saschura etwas zurückhaltender. „So genau wissen wir das auch nicht. Wir wissen nur, dass sie nicht zu dem Widderich passen, den wir kennen. Wäre er wirklich so ein blutrünstiger, notzüchtigender Unhold, hätten wir uns kaum mit ihm abgegeben.“
„Nun denn, erzählt! Wie ist der Mann, den Ihr kennt?“, hakte der Schreiber nach.
„Der ist ein Pfundskerl“, sagte Matajew. „Einer, mit dem man Pferde stehlen kann. Und er ist sich für keinen Spaß zu schade ...“
„So viel entnehme ich den Unterlagen“, erwiderte das Bürschchen mit einem scheelen Blick auf seine Pergamente. „Tadel, Tadel, Verwarnung, Tadel, Tadel, Tadel, Verweis ...“
„Das liegt daran, dass die hohen Herrschaften ihn auf dem Kieker hatten“, meinte Matajew unwillig. Ihm gefiel nicht, dass ein Junge, dem kaum der erste Flaum am Kinn spross, so über seinen alten Kumpel sprach.
„Na ja, und daran, dass er ein Wahnsinniger ist“, ergänzte Saschura grinsend.
„Na hör mal!“, musste sie ihm jetzt wirklich in den Rücken fallen? Matajew schüttelte den Kopf. „Wie kannst du so was sagen?“
„Wahnsinnig ist ein gutes Stichwort“, der Schreiberling ließ sein Pergament Pergament sein und blickte sie aus wässrigen Augen forschend an. „Ist er das denn? Irr? So wie sein Ziehvater? Oder kann man mit ihm reden?“
„Man kann sogar sehr gut mit ihm reden“, sagte Matajew und bemühte sich, dabei nicht allzu unwirsch zu klingen. „Wenn sich die feinen Herren von den oberen Rängen damals die Mühe gemacht hätten, es mal zu versuchen, statt den ,Heckenreiter‘ ständig nur zu triezen, hätten sie ihr blaues Wunder erlebt.“
„Ach?“, der Sekretär schien das für eine haltlose Übertreibung zu halten. Er wandte sein blasses Gesicht von Matajew ab und Saschura zu. Offenbar gab er auf ihr Wort bereits nach wenigen Augenblicken mehr als auf seins. War ja klar gewesen!
Glücklicherweise ließ seine Schwester ihn diesmal nicht hängen, sondern nickte bestätigend: „Das ist richtig. Mit ,wahnsinnig‘ meinte ich nicht, dass Widderich irre ist, sondern, dass er ... nun, er ist eben ... ein bisschen ... speziell. Aber vielleicht geht das gar nicht anders, wenn man aus so einer seltsamen Gegend stammt?!“
Das fragende Gesicht des Schreiberlings verriet, dass er nicht viel schlauer war als zuvor, also gab sich Saschura im zweiten Anlauf ein bisschen mehr Mühe. „Er ist ein sturer Bock“, sagte sie schlicht. „Widerborstig. Bisweilen aufrührerisch. Er hat ein Problem damit, Autorität anzuerkennen. Befehle zu befolgen. Es sei denn, derjenige, der seinen Gehorsam will, bläut ihm den erst mal mit der Faust oder dem Schwert ein. Ein Titel allein reicht dafür nicht aus. Das ist so ein Rauheneck-Ding. Sicher nichts Neues für Euch? War das nicht von Anfang an das Problem dieses Geschlechts?“
„Humtja“, der Schreiber verzog seine Lippen zu einem geringschätzigen Lächeln.
Dafür wäre Matajew ihm am liebsten an die Kehle gegangen. Stellvertretend für den Waffenbruder, der ja nicht da war, um das selbst zu erledigen: dem lächerlichen Wicht deutlich zeigen, dass man sich Geringschätzung besser nur dann leistete, wenn die eigenen Arme stark genug dafür waren. Das wäre allerdings ganz bestimmt eine schlechte Idee gewesen. Also übte sich Matajew fürs Erste in Schweigen und wartete ab, was noch kam.
„Gibt es über den Kerl auch etwas Positives zu sagen?“, lautete die nächste Frage.
„Er ist ein formidabler Kämpfer“, erwiderte Matajew.
„Was sich in besagtem Ringen um Gehorsam öfter mal als problematisch erwies“, schmunzelte Saschura. Offenbar machte sie sich auf einmal keine Gedanken darüber, was solche Einwände für das schöne Bild bedeuteten, das Matajew von seinem Jugendfreund zeichnen wollte.
„Er ist schlauer als er aussieht“, fuhr er daher fast ein bisschen trotzig fort.
„Keine Kunst!“, grinste Saschura ohne Zögern.
Matajew hielt endgültig inne, um sich ihr zuzuwenden und leise zu seufzen. Diese spitzzüngigen Einwände waren Teil eines Spiels, das seine Schwester und Widderich früher mit großer Freude gespielt hatten. Saschura nahm es auf, als hätten es nie eine Unterbrechung gegeben. Er jedoch fürchtete, dass das in der jetzigen Situation einiges an Gefahr barg.
„Jetzt übertreibs aber nicht“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Du tust ja gerade so, als könntest du den Mann nicht leiden. Dabei warst du doch dieje...“
„Entschuldige“, fiel sie ihm rasch ins Wort. „Alte Gewohnheit. Fahr nur fort.“
„Staats- und Rechtskunde haben ihm weniger Probleme bereitet als den meisten von uns“, schob Matajew nach. „Er ist recht belesen. Er liest, ja. Freiwillig!“
„Wahr“, pflichtete Saschura bei.
„Interessant“, das Bübchen notierte. Dann sah es wieder auf. „Was sonst? Wesenszüge, die wir kennen sollten? Was treibt ihn an? Was hält ihn zusammen? Was sind seine Ziele?“
„Wieso ist das wichtig?“, hakte Matajew nach. Er wurde von dem unguten Gefühl beschlichen, Widderich ans Messer zu liefern. Und das gefiel ihm gar nicht.
„Das alles kann helfen, die Situation in Rotenforst besser einzuschätzen.“
„Ja, aber ... wo wollt Ihr denn damit hin?“, Matajew sträubte sich weiter. „Wieso glaubt Ihr, dass seine Ziele für den Grafen auch nur ansatzweise bedeutsam sein könnten?“
„Wie gesagt: Wir kennen nur Gerüchte“, erwiderte der gräfliche Speichellecker geduldig. „Denen zufolge ist er ein Mörder und jemand, der sich Frauen aufzwingt. Wäre dem so, bräuchten wir in der aktuellen Krise nicht mit ihm zu reden. Wenn das aber falsch sein sollte, wäre es den Versuch womöglich wert.“
„Ist er nicht“, beharrte Matajew ohne zu zögern. „Er ist kein Mörder. Für einen Adeligen hat er vielleicht ein paar seltsame Ansichten. Aber nicht in Sachen Moral, da ist er sattelfest. Er weiß genau, was richtig ist und was nicht. Ja, er schlägt vielleicht mal jemanden tot. Wie jeder Ritter. Aber er mordet nicht. Das glaube ich nicht. Und wenn es mir tausend Leute erzählten: Niemals würde er das tun! Dafür ist er zu gescheit.“
„Es gibt da eigentlich nicht viel zu sagen, Meister“, ergänzte seine Schwester. „Der Widderich, den wir kennen, ist ein ganz gewöhnlicher Kerl. Er redet nicht viel, hört lieber zu. Lacht gern. Hat Flausen im Kopf, ist aber kein Idiot. Er hält mit seiner Meinung nicht hinterm Berg, auch nicht, wenn er damit alleinsteht. Ihn treibt nichts anderes an als mich oder meinen Bruder. Er hat damals einfach gelebt, wie es ihm in den Kram passte. Er war nicht ehrgeizig, große Pläne verfolgte er nicht. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Wie auch? Er dachte ja, er würde sein Leben erst mal hier als Dienstritter verbringen. Und dann ... sonst wo.“
Der Schreiber kam mit dem Kritzeln kaum hinterher, schaffte es aber dennoch irgendwie, den Faden nicht zu verlieren. „Was ist mit den Frauen?“, fragte er schließlich an Matajew gewandt. Vermutlich nahm er an, dass seine Expertise in dem Bereich besser war als die seiner Schwester. Der Irrtum hätte größer kaum sein können.
„Was soll mit denen sein?“, fragte Matajew.
„Probleme?“
Er wechselte einen Blick mit seiner Schwester, hob die Schultern und lachte leise: „Kommt drauf an, was Ihr damit meint.“
„Wie bitte?“
Matajew zögerte und hob dann abermals die Schultern: „Wenn Ihr wissen wollt, wie er es mit den Frauen gehalten hat, fragt meine Schwester, nicht mich.“ Er grinste. Ein Stück weit war das hier billige Retourkutsche und er genoss Saschuras überraschten Blick. Wichtiger aber noch: Seine Schwester war klüger als er. Sie wusste sicher besser, was man diesem Kerl halbwegs gefahrlos sagen konnte. Matajew selbst wollte an diesem Punkt dringend aus dem Verhör raus. Es wurde ihm zu heiß. „Na was?“, meinte er, als Saschura den Kopf schüttelt. Wieder mal. „Sag nicht, du hättest es nicht kommen sehen. Tust hier die ganze Zeit, als wäre er nur mir teuer. Da muss ich dich wohl im Dienste Widderichs zu etwas mehr Ehrlichkeit zwingen?!“
Matajew wandte sich dem Schreiber zu und registrierte belustigt, dass der verständnislos starrte. Das Jüngelchen begriff offenbar nicht, worauf er hinauswollte. Eine Tatsache, die nun auch Saschura zu einem Lachen verleitete:
„Mir hat er sich nicht aufgezwungen, falls es das ist, was Ihr wissen wollt, Meister. Und auch sonst keiner, die ich kenne. Das musste er nicht. Wenn Ihr versteht, was ich meine.“
So schien es jedenfalls, denn die blassen Wangen des Burschen nahmen schlagartig eine sehr viel gesündere hellrosa Farbe an. Dann nickte er und räusperte sich: „Ihr meint damit, dass Ihr ein Paar gewesen seid, als der Rauheneck noch hier am Hof weilte?“
„Ein Paar? Ich weiß nicht, ob ich das so nennen würde. Wir haben keine Hochzeitspläne gehabt oder sonst einen Firlefanz veranstaltet“, Saschura lachte abermals. Ziemlich laut. Wohl weil die Geschehnisse von einst so gar nicht zu dem Bild passten, das der Schreiber vor Augen zu haben schien. „Wir waren jung“, schob sie nach. „Und wir haben getan, was junge Leute eben so tun. Heute bin ich selbst Mutter und kann das nur höchst verwerflich finden. Aber damals ...“, sie überlegte kurz und machte dann eine wegwerfende Handbewegung.
„Ich verstehe“, erwiderte der Schreiber. Sein empörter Blick verriet deutlich, dass „verstehen“ in diesem Fall sehr weit von „gutheißen“ entfernt war. Der Bursche sah aus, als hätte er Saschura am liebsten einen längeren Vortrag über die Tugenden und Gebote Mütterchen Travias gehalten. Dankenswerterweise ließ er das jedoch bleiben und räusperte sich stattdessen einfach nur. „Nun gut. Woran ist denn – wenn ich das fragen darf, Hohe Dame – diese ... ähm ... Liebesbeziehung gescheitert? Irgendetwas muss Euch an ihm gestört haben, sonst hätte ja trotzdem auch mehr daraus werden können, oder nicht?“
„Unter anderem daran, dass in Widderich zu viel Liebe für eine Frau steckte.“
„Ach herrje!“, brach es aus dem Schreiber heraus. Er sah Saschura an, als hätte sie laut „Skandal!“ geschrien. Dabei war sie ganz gelassen. „Soll das heißen, er hat Euch betrogen? In dem Fall: Verzeiht bitte meine Fragerei, Hohe Dame. Keinesfalls wollte ich schmerzhafte Erinnerungen wecken. Ich dachte nur, dass die...“
„Wer redet denn davon? Schmerzhafte Erinnerungen habe ich nicht. Im Gegenteil! Es war mir ganz recht so. Das wäre sonst auf Dauer zu anstrengend geworden. Der Kerl war einfach ... na, ich würde sagen unersä...“
„Erspart es mir bitte!“, es sah ganz so aus, als stünde der Kopf des Sekretärs kurz vorm Platzen. Aus rechtschaffener Empörung über Saschuras Jugendsünden. Fraglos wollte er zunächst noch etwas ergänzen, schien dann aber zu bemerken, dass ihm dafür nicht mehr genug Luft blieb. Er brauchte das bisschen, das er noch hatte, um nicht vom Stuhl zu kippen.
Matajew seufzte leise, denn er gelangte just zu der Erkenntnis, dass sein Anliegen – bei diesem Gespräch keinen schlechten Eindruck zu erwecken – kläglich gescheitert war. Aber was sollte es? In seiner Brust wohnte genauso wenig Ehrgeiz wie einstens in der Widderichs von Rauheneck. Er war ganz zufrieden mit seinem Leben, wollte nicht weiter nach oben und war daher auf das Wohlwollen von Speichelleckern wie diesem Günstling des Grafen nicht angewiesen. Abgesehen davon brachte der Tiefschlag seiner Schwester ihnen einen Vorteil: Der junge Mann schien es mit einem Mal eilig zu haben. Er wollte das Gespräch jetzt offenbar ebenfalls so rasch wie möglich zu Ende bringen. Hatte wohl genug gehört. Matajew grinste.
„Dann seid Ihr nicht im Streit auseinandergegangen?“, wollte der Bursche wissen.
„Im Streit? Ach wo“, Saschura schüttelte den Kopf. „Bei uns ist alles gut.“
„Trefflich“, murmelte der gräfliche Lakai, dessen Gesicht nun langsam wieder heller wurde. „Dann seid Ihr tatsächlich genau diejenigen, die wir für den Auftrag brauchen, den wir zu vergeben haben.“
„Auftrag?“, murmelte Matajew und wechselte einen verwunderten Blick mit seiner Schwester. „Was für ein Auftrag?“ Sie hatten Besseres zu tun! Sie waren gerade auf dem Weg nach Hause. Zu ihren Gatten. Ihren Kindern. Da blieb keine Zeit für irgendwelche Aufträge.
„Ihr geht nach Rotenforst“, meinte der Bursche schlicht.
„Wie bitte?“, entfuhr es Saschura.
„Natürlich nicht allein“, Ilmhold – ja, so hieß er, da war sich Matajew mit einem Mal sicher – lächelte selbstgefällig. Er hatte sich erstaunlich schnell wieder im Griff. „Ihr begleitet die kleine Abordnung, die der Graf dieser Tage ins Bornland schickt, um das Stapelrecht in Salthel neu zu verhandeln. Die Gruppe braucht eine ordentliche Bedeckung. Und dafür seid Ihr beiden bestens geeignet, würde ich meinen. Ein paar Gardisten werden nicht reichen. Allzumal es durch dieses vermaledeite Rotenforst geht, den ewigen Unruheherd. Und dort ... Ihr wisst doch sicher, wo die Burg der Rauhenecks liegt?“
Matajew und Saschura wogen die Köpfe. „Vom Hörensagen“, murmelte Matajew dann leise.
„Besser als die meisten“, resümierte Ilmhold. „Ihr werdet einen Abstecher dorthin machen, Euch ein Überblick über die Lage verschaffen, schauen, wie es den Rauhenecks geht, wie sie sich halten und betragen und sie darauf hinweisen, dass der Graf ein baldiges Ende des Konflikts in der Baronie wünscht. Wir erwarten einen umfassenden Bericht, wenn Ihr zurück seid.“ Der Schreiber wirkte nun gar nicht mehr lächerlich, sondern im Gegenteil sogar ziemlich entschieden. Und sein Tonfall duldete keinen Widerspruch. „Ach ja: Und das hier“, er griff nach etwas, das bislang unbeachtet vor ihm auf dem Tisch gelegen hatte und reichte es zu ihnen rüber, „das werdet Ihr Widderich von Rauheneck aushändigen.“
„Was ist das?“, die Situation überforderte Matajew so sehr, dass er hölzern wie ein Golem zugriff und den Blick verwirrt niederschlug. Die offensichtliche Antwort auf seine Frage lautete: ein Brief. Und zwar einer, der mit dem Zeichen des Grafen gesiegelt war. Er konnte kaum glauben, was er da sah.
„Das geht Euch nichts an“, erwiderte Ilmhold schlicht. „Ihr übergebt es einfach nur.“
„Wir sollen den Rauhenecks also unsere Aufwartung machen?“, Saschura hatte ihre Stimme nun ebenfalls wiedergefunden und aus der klang der gleiche Unglauben wie aus Matajews heraus.
„Ich weiß nicht, ob ich es so sagen würde“, meinte der Schreiber und überlegte kurz. „Aber Ihr sollt die Regeln der Etikette wahren und Euch der Familie gegenüber höflich verhalten. Also anders als hier gerade.“
„Und wir sollen die ganze Abordnung mit zu denen nehmen?“
„So ist es.“
„Das könnte der Baron aber leicht missverstehen“, wandte Saschura ein. Matajew bewunderte die Leichtigkeit, mit der sie über die Spitze des Schreibers hinwegging und entschied, ihr das Feld wieder ganz zu überlassen.
„Ich glaube nicht, dass es da etwas misszuverstehen gibt, Hohe Dame“, meinte Ilmhold und ein böses kleines Lächeln eroberte seine Züge. „Das ist doch eine sehr eindeutige Botschaft, oder nicht? Wenn es Euch beruhigt: Natürlich sollt Ihr dem Baron auch einen Besuch abstatten. Auf dem Hinweg. Also zuerst. Damit ist die Etikette gewahrt.“
„Von dort wollt Ihr auch einen Bericht?“
„So ist es.“
„Und für Hochgeboren habt Ihr keinen Brief?“
„Nein. Aber ein paar warme Worte. Es tut uns leid, was sich in Rotenforst abspielt. Und wenn er zu dem Schluss gelangen sollte, dass er unsere Unterstützung doch noch wünscht, darf er sich jederzeit an den Grafen wenden. Der hat ein offenes Ohr für die Sorgen seiner Vasallen – auch derjenigen, die diese Freundlichkeit mit Füßen zu treten belieben.“
„Holla!“, entfuhr es Matajew.
„Wann soll es denn losgehen?“, wollte Saschura wissen. „Wie Ihr sicher wisst, sind wir gerade auf dem Weg nach Hause. Zwei Monde wurden uns zugestanden.“
„Streicht das. Ihr holt es wann anders nach. Kommende Woche geht es los!“
„Aber ...“
„Ja sicher, es ist eine große Ehre, dass Seine Hochwohlgeboren Euch für diese Aufgabe auserkoren hat und Eurer Familie so Gelegenheit gibt, ihre Treue nach einer langen Pause wieder einmal unter Beweis zu stellen. Ich werde dem Grafen gern übermitteln, dass Ihr Euch mit Freuden auf diese Reise begebt.“
„Natürlich. Tut das!“, erwiderte Saschura. Matajew konnte regelrecht hören, wie ihre Zähne bei diesen Worten knirschten.
„Muss ich noch gesondert erwähnen, dass diese Sache der strengsten Geheimhaltung unterliegt? Fürs Erste zumindest?!“, hakte Ilmhold nach.
Schaschura schüttelte den Kopf und Matajew fiel artig mit ein, als der gestrenge Blick des kleinen, fast noch bartlosen Bürschchens ihn traf: „Nein!“
Das Ganze war ein riesen Schlamassel. Und keiner von ihnen war dankbar dafür. Sie hatten noch nie den Drang verspürt, dem neuen Grafen etwas zu beweisen. Schon gar nicht ihre Treue. Der Mann war eine falsche Schlange. Sein Größenwahn und eine ganze Phalanx von fragwürdigen Entscheidungen rund um den letzten Goblinfeldzug hatten etliche gute Freunde das Leben gekostet. Sie konnten nur hoffen, dass sie in Rotenforst nicht das gleiche Schicksal ereilte. Wenn sie dort zwischen die Fronten gerieten, würde dieser kleine Ausflug womöglich zu einer Reise ohne Wiederkehr werden ...