Traurige Pflicht
Phex 1026 Bosparans Fall – In der Ebene von Vana vor den Toren Balihos
»(…) Doch was können Ritter, selbst wenn sie einer tausendjährigen Tradition des berittenen Kampfes entstammen, gegen rollende Festungen ausrichten? Gar nichts. Aber gegen Khurkach, die sich nur mit einem Arbach und ihrem Mut bewaffnet der grün-weißen Woge entgegenstellen? Alles!«
–Aus dem Feldbuch Hauptmann Weldmars von Arpitz, Adjudant des Marschalls von Weiden
Leise kratzend versah die Feder ihren Dienst, unterbrochen nur, wenn Löschsand auf die nasse Tinte gestreut wurde. Name um Name füllte das Pergament und dem Schreiber wurde schwer und schwerer ums Herz. Viele Familien würden trauern. Erneut. Der Hass gegen die Schwarzpelze würde heißer brennen. Einmal mehr. Das Herzogtum innehalten. Aber nur kurz!
Ein Vorname wurde auf die Liste der ehrenvoll Gefallenen gebannt, denn verharrte die Feder.
„Ausgerechnet“, sagte der Schreiber mit leiser, trauriger Stimme und vollendete dann, was er begonnen hatte: Wolftrude von Nimerfro, Ritterin Weidens.
***
Todesboten
Phex 1026 Bosparans Fall – Kaiserlich Sichelgau, Junkergut Traunwart
Nur wenige Worte hatte er gemacht, der Todesbote. Wenige, aber wohlgesetzte Worte. Madelgard von Nimerfro rechnete es ihm hoch an. 'Vermutlich die Übung', hatte sie bitter gedacht, dem Gewährsmann des Weidener Marschalls dankbar zugenickt und das Gesinde angewiesen, es ihm vor seinem Weiterritt an nichts mangeln zu lassen.
Nun war sie die Todesbotin. Aber sie war auch die Schwester und genau dies gewann gerade die Überhand. Im dunklen Flur verhielt sie, drehte sich zur Wand und legte ihre Stirn gegen die massive Balkenkonstruktion. Etliche Herzschläge verharrte sie so, kämpfte gegen Erinnerungen an ihre kleine Schwester, die als Kind ein solcher Wildfang gewesen war und ihr ungestümes Wesen nie ganz abgelegt hatte. Wer konnte schon sagen, welchen Anteil dies an ihrem unzeitigen Tod gehabt hatte. 'Ehrenvoll gefallen' waren zwei Worte, die Madelgard, selbst mehr Ritterin als alle lebenden Nimerfros, immer sehr viel bedeutet hatten und die nun, da sie ihr eigen Fleisch und Blut betrafen, schrecklich hohl klangen. Wem nutzte das schon, ein ehrenvoller Tod?
Ihrer Mutter Immberta sicher nicht. Sie würde schwer an diesem Verlust tragen.
Klein-Elfwid noch weniger. Sie trug das Ungestüm ihrer Mutter in sich und ein festes Band, das die beiden verknüpfte. Nun war es zerschnitten. Für immer. Wie sollte eine Vierjährige das begreifen? Madelgards Herz wurde noch schwerer, ihr Hals verengte sich. Es würde nicht leicht sein, das Mädchen nun um sich zu haben, ohne bei ihrem Anblick an Wolftrude zu denken. Nein, das war nachgerade unmöglich, denn Elfwid glich ihrer Mutter, als diese im gleichen Alter gewesen war. Nicht nur im Aussehen, vor allem im Wesen.
Mit einem tiefen Seufzen löste sie sich aus ihrer unwürdigen Position, schöpfte tief Atem und wappnete sich. Ihre Mutter würde es nicht gut aufnehmen, dass ihre dunklen Gedanken wahr geworden waren, also war es an ihr, Haltung zu zeigen.
***
Ein sauberer Schnitt
Ingerimm 1026 Bosparans Fall – Kaiserlich Sichelgau, Junkergut Traunwart
Immberta von Nimerfro saß zusammengesunken in einem einfachen Scherenstuhl, in ihren Händen hielt sie ein eng geschnürtes Bündel aus Stoff. Blau war die bestimmende Farbe, hart bedrängt von Rot, getrocknetem, blutigem Rot, das inzwischen eher nach Braun aussah. Die Hände der Ritterin krallten sich in den schlichten Gürtel, der um den Wappenrock und ein Langschwert gleichermaßen gewunden waren, derweil ihr Blick sich in unbestimmten Fernen verlor. Zwei Tränen lösten sich aus ihren Augen und rollten über ihre eingefallenen Wangen.
Eine der sparsam im Raum verteilten Kerzen flackerte hell auf, aus dem Kamin klang ein Knacken herüber, als ein Scheit in der Hitze barst und Immberta zuckte zusammen wie unter einem Schlag. Als wäre ein Bann gebrochen, klang von draußen das helle Lachen eines Kindes herein und wieder zuckte die Junkerin zusammen.
Langsam wandte sie ihren Kopf der Tür zu, hinter der ihrer Enkelin spielte. Vergessen hatte, welch unsagbarer Verlust die Götter ihnen aufgebürdet hatte.
Wie nur war das nur möglich?
Immberta wusste, dass Elfwid es nicht leicht nahm. Der Tod ihrer geliebten Mutter hatte sie schwer getroffen, auch wenn es ein paar Tage dauerte, ehe sie wirklich verstanden hatte, was das bedeutete. In diesen Tagen waren Großmutter und Enkelin sich nahe gewesen. Hatten gemeinsam geweint und sich erinnert, an Wolftrudes Lachen, den Schalk, den sie bisweilen im Nacken trug und Immberta immer wieder an die entschiedenen Worte hinsichtlich ihrer wenig vorteilhaften Verbindung zu einem Soldaten. Ob nun Offizier oder Manschaftsgrad war der Junkerin von Traunwart gleich. Dieses Band brachte die Familie nicht voran und es war schwer genug, die Nimerfros im eitlen Reigen Balihoer Adelsfamilien zu behaupten. Diese Liebschaft Wolftrudes würde dabei kein bisschen helfen. Die stolzen Balihoer Häuser würden weiter die Nase rümpfen über ihr Geschlecht, dessen Geschichte nicht wenige für einen Witz hielten. Die wohlmeinenden für einen guten, die anderen für einen schlechten und eine Zumutung obendrein.
Wenigstens den Rondrabund sollte Wolftrude mit ihrem Albernier eingehen, aber sie konnte sooo stur sein, ihre Tochter und je mehr man sie bedrängte, desto weniger bewegte sie sich. Immberta hatte gehofft, das Thema noch einmal in aller Ruhe mit ihrer Tochter besprechen zu können. Doch die Götter hatten es gefügt, dass sie nie wieder etwas besprechen würden.
Wieder ertönte helles Lachen und es klang, wie Trudis Lachen vor so vielen Jahren.
Weitere Tränen kullerten und die Junkerin von Traunwart bemerkte es, schniefte unwillig und strich sie sich voller Ungeduld von den Wangen. Sie durfte sich nicht länger so gehen lassen und darum war es an der Zeit etwas zu tun, was ihr das Herz vermutlich vollends aus der Brust reißen würde. Die Hoffnung, das Leid, das dieses blutende und verwundete Organ ihr seit Monden bereitete, würde damit endlich enden, hegte sie nur in kurzen Moment und sie war sich bewusst, dass ein solcher Gedanke Unsinn war.
Sie würde unter Elfwids Weggang leiden. Vermutlich wäre der Verlust der Enkelin keinen Deut weniger schlimm, als der Tod ihrer Tochter. Aber Immberta hoffte, dass dieser saubere Schnitt heilen konnte. Sicher nicht schnell, aber irgendwann. Wenn sie nicht beständig vor sich sehen würde, was sie verloren hatte und sich zugleich bewusst wäre, wie schwach sie war, wie erbärmlich, weil sie nicht all ihre Kraft Elfwid schenken und sie im Sinne ihrer Mutter erziehen konnte.
Bei ihrem Vater würde sie es gut haben, zumindest hoffte Immberta das, legte ihr Bündel zur Seite, erhob sich und trat an ihr kleines Tischchen. Es galt endlich diesen Brief zu schreiben und den Schnitt zu setzen!
***
Unheilvolle Worte
Travia 1043 Bosparans Fall
Ein niedriges Gewölbe, von spärlichem Kerzenschein erhellt.
In einer Ecke ein einfacher Tisch, darauf Tiegel und Schälchen, ein aufgeschlagener Foliant in abgegriffenem Leder. Finger, die sacht über vergilbte Seiten fahren. Schriftzeichen und Sigillen, bei deren Anblick sich einem der Magen umdreht.
Eine flüsternde Stimme, sanft und kehlig zugleich. Unheil verheißende Worte, die flehen und drohen, schmeicheln und fordern.
Auf dem steinernen Boden ein mit Kreide gezeichnetes Pentagramm, in dessen Mitte ein irdenes mit Runen verziertes Gefäß.
Darin weißes Puder vermischt mit dunklem Rot. Fauliger Geruch. Schwarzer Schatten über allem.
***
Schlag ins Kontor
Boron 1043 Bosparans Fall - Ingerimms Steg, Rittergut Kressing
„Ich verstehe das einfach nicht. Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen“, stieß Thorolf Pfannenstieg zum vielleicht hundertsten Mal aus, wobei er unwillig seinen fast kahlen Kopf schüttelte und fahrig mit beiden Armen das Zeichen Praios‘ vor seiner Brust schlug.
Er saß am großen Tisch im Rittersaal des Kressinger Gutshauses und beugte sich über ein Stück Papier auf dem eine lange Auflistung von Nahrungsmitteln verzeichnet war. Die meisten der notierten Posten waren durchgestrichen.
Neben ihm hatte Elfwid ni Branghain, die Tochter des Gutsherrn, Platz genommen und blickte, ebenso ratlos wie der alte Haushofmeister, auf das Schriftstück vor ihm.
Ihren Vater Coran hingegen hatte es nicht auf dem Stuhl gehalten. Seit einer Weile tigerte er nun schon schweigend und mit vor der Brust verschränkten Armen durch den Raum. Nur hin und wieder blieb er stehen, um kurz in das prasselnde Kaminfeuer zu starren oder nachdenklich das kleine Gemälde „Perle des Abagund“ zu betrachten, das als einsame Dekoration die Wand zierte.
„Und du bist ganz sicher, dass die Fäulnis vom Mehl aus ging?“, fragte er schließlich.
„Auf jeden Fall“, antwortete Thorolf. „Hab alles auseinander fleddern lassen und mir genauestens angeguckt. Einer der Säcke ist in Gänze schwarz von Schimmel. Und von da aus muss er dann auf die anderen übergesprungen sein. Und nicht nur aufs Mehl. Das hätte ich ja irgendwie noch kapiert, aber so gut wie alles Übrige ist ebenfalls von dem Pelz betroffen. Selbst das getrocknete und gedörrte Zeug, was ja zum Lagern in der Höhe hing, und sogar das, was in den verschlossenen Krügen und Fässern war, ist vergammelt.“ Abermals schüttelte er seinen Kopf. „Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen.“
„Was ist mit Feuchtigkeit oder Ungeziefer?“, hakte Coran nach.
„Das Gelass ist furztrocken. Und Ratten oder Mäuse hat’s da dank meiner Lieblinge auch nicht.“ Wie aufs Stichwort sprang Mira, eine der vier Katzen, die sich der Haushofmeister hielt, auf dessen Schoß und rieb ihren Schädel an seiner Gürtelschnalle. „Nein, der Turm war die richtige Wahl, um die Vorräte einzulagern. Dunkel, kühl und trocken, wie gesagt. Hab’s ja auch regelmäßig überprüft. Bis letzte Woche gabs von dem Schimmel keine Spur. Und als es von Drôlenhorst geliefert worden ist und wir’s runtergebracht haben, war das Mehl auch noch in Ordnung. Bin mir da ganz sicher.“
Coran nickte. Thorolf war zwar mittlerweile hin und wieder etwas zerstreut, aber letztlich kannte er keinen besseren und verlässlicheren Fourier als ihn. Also vertraute er der Einschätzung seines alten Weibels ohne Wenn und Aber. Auch wenn das hieß, dass er zunächst keine Erklärung für den plötzlich aufgetreten Schimmel hatte. Nun hieß es ohnehin erstmal die Ausmaße der Katastrophe einzuordnen.
„Also gut“, fragte er, „was haben wir noch?“
Thorolf kratzte sich an der Stirn während er kurz überlegte und die Liste vor sich zu Rate zog. „Eigentlich ist nur noch das da, was in der Küche und in der Kammer im Gutshaus lagert. Dazu haben die anderen in ihren Häusern sicherlich noch eigene kleine Vorräte für den kurzfristigen Bedarf angelegt. Wird aber insgesamt nicht viel sein. Und die Gärten sind so gut wie abgeerntet. Alles, was wir da noch an Kohl und Rüben reinholen können, ist kaum der Rede wert.“
„Und was meinst du wie lange das reichen wird?“
Wieder Kratzen und Überlegen. „Ohne Nachschub einen Mond, schätze ich. Vielleicht fünf Wochen.“
„Das heißt, wir kommen so nicht einmal über den Winter“, stellte Coran düster fest. Nachdenklich drehte er eine weitere Runde um den Tisch. „Was ist, wenn wir die Tiere schlachten?“
Thorolf sah ihn mit hochgezogen Augenbrauen an. „Die Ziegen? Die mageren Viecher würden uns höchsten zwei bis drei Wochen zusätzlich bringen. Und dann würde uns die Milch fehlen.“
„Ich meine alles. Die Ziegen, die Hühner, die Gäule, alles.“ Coran ignorierte den entsetzten Blick seiner Tochter. „Würde das reichen, Thorolf?“
Der Angesprochene zögerte kurz bevor er antwortete und schielte besorgt nach unten, wo Mira sich auf seinem Oberschenkel zusammengerollt hatte und behaglich döste. „Ja, ich denke, das würde bis zum Frühling reichen. Aber… “ Hilfesuchend blickte er zu Elfwid hinüber.
„Das hieße, dass wir nach dem Winter gar nichts mehr hätten“, richtete die junge Kriegerin das Wort an ihren Vater. „Die Tiere zu ersetzen wäre kaum bezahlbar. Und wir benötigen vor allem die Pferde für die Arbeit im Wald und für die Ausfuhren.“
Die Miene des Ritters hatte einen entschiedenen Ausdruck angenommen. „Harte Zeiten erfordern harte Maßnahmen.“
„Das würde uns jeder Lebensgrundlage berauben, das weißt du“, gab Elfwid zu bedenken. „Und es gibt doch sicher andere Lösungen. Auch wenn’s weh tut, könnten wir uns nochmal an die Fluck wenden und um eine weitere Lieferung bitten.“
Coran schnaubte. „Das würde der Unke gefallen. Auf genau so etwa wartet die doch nur. Damit ich dastehe, wie ein inkompetenter Aufschneider, der es ohne zusätzliche Hilfe nicht mal durchs erste Jahr schafft. Nein, auf gar keinen Fall.“
„Was ist mit Runhag oder Ostheim?“, ließ Elfwid nicht locker. „Ich bin mir sicher, dort würde man uns ohne viel Aufhebens Unterstützung gewähren.“
„Ich sagte nein!“ Coran war an den Tisch herangetreten und hieb nun mit der Faust auf die Platte. „Wir werden uns aus diesem Schlamassel aus eigener Kraft wieder herausziehen. Ohne irgendwo als Bittsteller aufzutreten.“
Bevor Elfwid zu einer Erwiderung ansetzen konnte, legte Thorolf ihr behutsam seine Hand auf den Unterarm und schüttelte fast unmerklich mit dem Kopf.
Derweil hatte ihr Vater sich wieder abgewandt und von Neuem begonnen, grübelnd im Raum auf und ab zu marschieren. Schließlich blieb er stehen und sah seine Tochter und den Haushofmeister erschöpft an.
„Wir werden uns nochmal an Boswitz wenden. Elfwid, du reist nach Baliho und wirst bei ihm vorstellig. Ich stelle einen weiteren Schuldschein aus und lasse den Betrag offen, so dass du das eintragen kannst, was er für die benötigten Lebensmittel verlangt. Thorolf, du listest auf, was wir brauchen.“ Er seufzte. „Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.“
Stirnrunzelnd holte Elfwid Luft, um zu widersprechen, doch Coran gebot ihr mit einem energischen Wink Einhalt.
„Das ist mein letztes Wort. Du reitest morgen!“
***
Raffgier
Boron 1043 Bosparans Fall - Baliho, Südstadt
Als Elfwid zurückkehrte, machte ihr verkniffener Gesichtsausdruck mehr als deutlich, wie die Verhandlungen mit Boswitz wohl verlaufen waren. Die junge Frau hatte nach Verlassen des großen Hauses die Kapuze ihres Umhangs nicht wieder übergezogen, so dass der Regen nun ungehindert auf ihr Haupt niederprasselte, was sie in ihrer aufgebrachten Stimmung aber gar nicht zu bemerken schien.
Bartha und Julenka hatten das Gespann auf der Straße gegenüber dem Anwesen abgestellt und warteten seit etwa einer halben Stunde darauf, dass die Anführerin ihres kleinen Trupps zurückkehrte. Zum Schutz vor Wind und Wetter hatten sie die Kragen ihrer speckigen Mäntel hochgeschlagen und ihre breitkrempigen Hüte tief hinunter in die Gesichter gezogen. Während Julenka sich um die beiden Zugpferde sowie das Ersatzpferd und Elfwids Streitross kümmerte, die hinten am Fuhrwerk festgebunden waren, hatte Bartha achtsam den Eingang zum Sitz des Rinderbarons im Auge behalten, die Linke auf den Knauf ihres gegürteten Säbels gelegt und sich immer wieder vergewissernd, dass ihre gespannte Armbrust hinter dem Kutschbock in Griffweite lag. Es gab eigentlich nicht wirklich einen Grund für besondere Vorsicht, doch als hartgesottene Veteranin konnte sie auch nicht so einfach aus ihrer Haut.
„Oh oh“, gab sie jetzt von sich, „das war wohl nix.“
Sichtlich wütend stapfte Elfwid durch die schlammigen Pfützen auf sie zu ohne auf den hochspritzenden Matsch zu achten, der ihre Stiefel und den Saum ihres Umhangs einsaute. „Raffgieriger Hundsfott!“ zischte sie durch zusammengepresste Zähne als sie bei ihren Begleiterinnen ankam, die sie überrascht und ein wenig amüsiert ansahen. So außer sich hatten die beiden Fuhrfrauen die sonst so beherrschte Tochter ihres Dienstherrn bisher noch nicht erlebt.
„Bei den Bedingungen, die dieses Schwein stellt, hätten wir ihm auch gleich ganz Kressing überlassen können und mein Erstgeborenes noch obendrein“, fuhr Elfwid fort.
„Also keen Zaster“, stellte Julenka trocken fest.
„Nein. Das Angebot war unannehmbar.“
„Und was machen wir jetzt?“, wollte Bartha wissen. „Versuchen wir’s bei einem der anderen Großkopferten?“
Elfwid schüttelte ihren Kopf. „Ich schätze, das macht genauso wenig Sinn. Zumindest nicht, wenn wir irgendwann mal wieder ohne Schulden dastehen wollen.“
Sie atmete tief ein und versuchte ihre Gedanken zu sortieren, während Regenwasser in Strömen über ihr ungeschütztes Gesicht lief.
Sie blickte nach Südwesten. In der Richtung lagen vor der Stadt die Weiden, auf der ihre Mutter vor gut sechzehn Götterläufen in der Wagenschlacht von Baliho ihr Leben gelassen hatte. Die Familie ihrer Mutter hatte sie - die Bastardin - daraufhin verstoßen und kurzerhand in die Obhut ihres Vaters gegeben. Da war sie vier Jahre alt gewesen.
Sie drehte sich nach Norden. Dort befand sich einige Meilen außerhalb der Stadt die Kriegerakademie „Schwert und Schild“, in der sie ihre Ausbildung erhalten und vor nunmehr zwei Jahren ihren Abschluss gemacht hatte. Lächelnd dachte sie daran, wie stolz ihr Vater und Onkel Thorolf gewesen waren. Und jäh kam ihr auch eine weitere Erinnerung in den Sinn: Der Brief, der sie ein paar Tage nach der Abschlusszeremonie überraschend erreicht hatte. Das Siegel hatte das bärtige Gesicht eines niedergeschlagenen Mannes gezeigt, das Wappen der Familie ihrer Mutter. Nimerfro. Ihre Großmutter Immberta, die Frau, die sie weggeben und sich dann nie wieder gekümmert hatte, hatte ihr zum Erhalt des Kriegerbriefs gratuliert und ihre Enkelin, wenn auch auf etwas umständliche Art, nach Traunwart eingeladen, dem Junkergut, das in den frühen Jahren ihrer Kindheit ihr Zuhause gewesen war. Nach dem ersten Lesen hatte Elfwid das Schreiben verbittert dem Kaminfeuer überantwortet und seither nie wieder daran gedacht. Bis heute.
Bedächtig wandte sie sich nach Südosten. Traunwart. Ihre Gedanken überschlugen sich jetzt hinter ihrer Stirn und vermischten sich mit schwer zu fassenden, teils widersprüchlichen Gefühlen – Blutsbande, Vermächtnis, Schuld. Aus diesem Durcheinander begann sich langsam eine Idee zu formen, erst vage, dann jedoch immer konkreter. Schließlich traf sie eine Entscheidung.
„Wir werden wohl noch ein wenig unterwegs sein“, richtete die Branghainerin das Wort an ihre wartenden Gefährtinnen. „Es geht nach Sichelgau.“
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Ein schwerer Gang
Boron 1043 Bosparans Fall - Kaiserlich Sichelgau, Junkertum Traunwart
Seit drei Tagen waren sie jetzt von Baliho aus unterwegs, zunächst auf der Reichsstraße nach Süden über Altnorden und Menzheim und dann weiter nach Osten auf dem Menzelsbogen. Mittlerweile hatten sie die Grenze zur Baronie Sichelgau überquert und kamen, da sich das Wetter, den Zwölfen sei Dank, spürbar gebessert hatte, einigermaßen gut durch das bewaldete Gebiet voran. Ihr Ziel war nahe.
Elfwid, die dem Fuhrwerk etwas vorausritt, ließ ihren Blick mit gemischten Gefühlen über die herbstliche Landschaft schweifen. Hin und wieder verharrte sie und betrachtete einen eigentümlich verdrehten Baum hier oder eine auffällige Anhöhe dort, nicht sicher, ob ihr diese Wegmarken etwas sagen sollten. Es war einfach zu lange her, ihre Erinnerungen verschwommen, und doch fühlte sich das alles auf eine diffuse Weise vertraut an.
Nicht zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch in Baliho kamen ihr Zweifel, ob ihre Entscheidung, auf gut Glück nach Traunwart zu reisen, klug gewesen war. Sie hatte keine Vorstellung davon, wie die Nimerfros wohl auf ihren Besuch reagieren, geschweige denn wie sie mit ihrem Anliegen umgehen würden. Und was ihr Vater von ihrem Alleingang halten mochte, wollte sie sich gar nicht ausmalen. Doch nun war es für eine Umkehr zu spät. Das Gut musste bald vor ihnen auftauchen.
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Überraschungsgäste
Boron 1043 Bosparans Fall – Kaiserlich Sichelgau, Auf dem Traunlug
Yanrad von Nimerfro stand auf einem Felsen, der, zwischen dem Waldflüsschen Traue und dem danach benannten Karrenweg Traunlug, aus dem Kaiserforst ragte. Er liebte diese Stelle: Der uralte Wald, den nur die Sichelgauer Kaiserforst nannten, der aber eigentlich Aonlar oder Larwald hieß, breitete sich um und neben ihm aus wie ein Ozean aus Blättern und Ästen. Nun, im Spätherbst, war es ein lichter Anblick, die Laubbäume trugen nur noch wenig herbstgoldenes Laub, die Nadelbäume hingegen standen dunkel und unbeeindruckt vom Wandel der Jahreszeit. Wohlig seufzend stützte er sich auf seinen Speer und atmete die kalte, klare Luft ein. Seine Jagd war erfolgreich gewesen, zwei Rotpüschel lagen in seiner Jagdtasche, sauber von sicheren Pfeilen erlegt. Nun galt es heimzukehren, nach Traunwart, dem Stammsitz seiner Familie.
Doch dann bemerkte der erfahrene Jäger eine Bewegung zu seinen Füßen. Aufmerksam drehte er den Kopf und kniff die Augen zusammen. Ein Karren, nein, ein Furwerk, zockelte den Traunlug entlang und voraus ritt eine gerüstete Reiterin. Kein Wappen, so weit er sehen konnte, aber eine aufmerksame Frau, die hier und dorthin blickte und dabei einen nachdenklichen, ja nachgerade versonnenen Ausdruck zur Schau trug. Als sie näher kam, stockte Yanrad der Atem.
Das konnte nicht sein!
Er blinzelte und ein Gedanke dämmert ihm. Da es Wolftrude, seine selige Base, nicht sein konnte, musste es Elfwid sein, ihre Tochter. Das Kind, das die Altjunkerin aus der Familie geschnitten hatte. Etwas worüber seine Tante nie hinweg gekommen war. Eine Kriegerin war aus ihr geworden, eine, die die ehrenvolle Balihoer Akademie absolviert hatte. Was alle Nimerfros wussten und ebenso, dass Immberta das ebenso mit Stolz erfüllte, wie mit Trauer, denn Elfwid hatte den Brief, den ihre Großmutter ihr anlässlich ihres Abschlusses geschickt hatte nie beantwortet.
Wer konnte es ihr verdenken?
Doch hier war sie und es musste schon ein arger Zufall sein, wenn ihr Ziel nicht Traunwart war. Mit einem Lächeln nahm der Nimerfroer den Stoßspeer auf und machte sich leichtfüssig auf, der kleinen Schar den Weg abzuschneiden, um sie noch vor dem Gut willkommen zu heißen. Es war sicher besser, wenn eine kleine Vorhut ... nunja, die Wogen glätten konnte, die Elfwids jähes Erscheinen sicher aufwirbeln würde.
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Heda!
Boron 1043 Bosparans Fall – Kaiserlich Sichelgau, Auf dem Traunlug
Linker Hand rauschte ein Waldbach, der sich gut und gerne drei Schritt in den Waldboden eingegraben hatte. Das war die Traue, das wusste Elfwid sicher. Sie erinnerte deren gurgelnde Geräusche, das gelegentliche Spritzen, die gelbliche Farbe ihres Wassers und die steilen, über und über mit Gräsern, Kräutern und Farnen überwucherten Ufer. Der Weg, dem sie folgten hieß nicht von ungefähr Traunlug, denn immer wieder konnte man durch die Bäume hinunter, auf das Flüsschen lugen.
Erst kurz folgte der Karrenpfad der Biegung, die der Fluss vorgab und sie war sich sicher, das Gut müsse nun wirklich bald in Sicht kommen.
Da tauchte ein Mann auf. Von jetzt auf gleich trat er von links kommend auf den Pfad und hob grüßend die Hand. Groß war er und schlank. Seine Bewegungen waren geschmeidig und seine Kleidung die eines Jägers. Eines blaublütigen Jägers wohl, denn sie war von guter Qualität, aus weichem Leder und hellem Pelz. Der Mann hatte ein schmales, sonnengebräuntes Gesicht, aus dem ihr helle Augen entgegenblickten. Das schulterlange Haar war hellblond, oder auch schon grau, und die untere Gesichtshälfte wurde von einem Dreitagebart ähnlicher Farbe verdeckt. Der Mann stützte sich auf einen Stoßspeer, trug einen Bogen samt Köcher über der Schulter und eine prall gefüllte Jagdtasche an der Seite.
„Heda“, rief er Elfwid mit freundlicher, weit tragender Stimme an, „den guten Göttern zum Gruße, die Schwanengleiche ihnen voraus, willkommen auf Traunwart. Ich bin Yanrad von Nimerfro und grüße Euch herzlich.“
Die Angesprochene hatte reflexartig zum Griff ihres Schwertes gefasst, verzichtete aber darauf, es aus der Scheide zu ziehen. Der Mann, der da plötzlich vor ihr auf dem Weg erschienen war, stellte offensichtlich keine Gefahr dar, zumal er ihr gleich darauf brav seinen Gruß entboten hatte. Und abgesehen davon war da etwas in seiner Stimme und an seiner Haltung, das sie unvermittelt innehalten und ihn verdattert anstarren ließ. Irgendwie schien Yanrad ihr bekannt, geradezu vertraut vorzukommen. Er hatte gesagt, dass er Nimerfro hieß. Also musste sie wohl irgendwie mit ihm verwandt sein. Es dauerte zwei oder drei Herzschläge bis sie ihre Verwirrung halbwegs überwunden hatte und ihm antworten konnte: „Äh, die Zwölfe auch mit Euch, Hoher Herr. Mein Name ist Elfwid ni Branghain und ich, ähm, ich bin auf dem Weg nach Traunwart. Dem Gut, meine ich. In der Gemarkung bin ich ja schon, denn da habt Ihr mich soeben selbst willkommen geheißen, also hier in Traunwart. Aber das wisst ihr natürlich, weil Ihr schließlich dabei wart, gerade eben.“ Ihr Gesicht lief rot an und verzog sich, ob ihres sinnfreien Gefasels, zu einer gequälten Grimasse.
Yanrad lächelte nachsichtig und runzelte dabei ein wenig die Stirn. 'Alles in Ordnung?‘, schien sein Blick zu fragen.
Elfwid seufzte vernehmlich und stieg dann, da es ihr unangemessen erschien, von oben auf ihr Gegenüber hinab zu blicken, vom Pferd ab. In dem Moment verrieten ihr ein Rumpeln sowie der plötzlich alarmierte Ausdruck in Yanrads Augen, dass hinter ihr nun auch ihre beiden Gefährtinnen mit dem Fuhrwerk um die Biegung gekommen sein mussten. Sie wandte sich um und sah, dass, während Julenka mit einem „Brrr!“ das Gespann leinenzerrend zum Halten brachte, Bartha auf dem Kutschbock daneben soeben im Begriff war, ihre Armbrust zu heben und damit in Anschlag zu gehen. Hastig streckte Elfwid ihren linken Arm aus und winkte, um Entwarnung zu signalisieren. Tatsächlich senkte die misstrauische Veteranin daraufhin auch gleich wieder ihre Waffe, allerdings demonstrativ langsam und ohne den Blick von dem suspekten Mann auf dem Weg vor ihnen zu lösen.
Elfwid drehte sich um und lächelte entschuldigend. „Ihr müsst meinen Begleiterinnen bitte verzeihen. Sie sind nur vorsichtig und der irrigen Annahme, stets und ständig auf mich aufpassen zu müssen.“ Den letzten Teil, insbesondere das Wort 'irrigen' hatte sie so laut ausgesprochen, dass die beiden Fuhrfrauen in ihrem Rücken sie ebenfalls unmissverständlich gehört haben mussten. Dann trat sie näher – nun offensichtlich deutlich gefasster - und neigte respektvoll ihr Haupt vor Yanrad, bevor sie fortfuhr: „Ich komme auf Einladung Immbertas von Nimerfro, zugegebenermaßen deutlich spät. Meine Mutter war Wolftrude von Nimmerfro. Mir ist bewusst, dass ich unangekündigt erscheine und hoffe sehr, dass es nicht ungelegen ist.“
Die Augenbrauen ihres Gegenübers hoben sich, ohne dass das Lächeln des Nimerfros sich veränderte. Er trat einen Schritt auf Elfwid zu und bot ihr den Arm zum Kriegergruß. „Auf Einladung, also? Wie schön. Ich bin sicher, die Tante wird sich freuen.“ Er musterte Elfwid mit leicht schräg gelegtem Kopf. „Ich bin dein Vetter ... mehr oder weniger. Meine Mutter war eine Base der deinen und ich muss sagen, du bist Wolftrud wie aus dem Gesicht geschnitten.“
Nun schien Yanrad sich Elfwids letzter Worte und er wog leicht sein Haupt. „Unerwartet, kommst du, aber nicht ungelegen. Wobei sich ohnehin nur selten jemand hierher verirrt, im Spätherbst allzumal. Aber das Gut ist stets auf unerwarteten Besuch eingestellt, es kommt immer wieder vor, dass Jägersleute Traunwarts Gasfreundschaft erbitten und sie wurde noch immer gewährt! Also kommt“, fuhr er lauter fort, „ich geleite euch.“ Damit wandte er sich um und schickte sich an, an Elfwids Seite dem ansteigenden Weg zu folgen. „Ich hoffe, es geht dir gut und deinem Vater ebenso“", fragte er mit einem Seitenblick.
Ihren Tralloper am Zügel mit sich führend, nahm Elfwid neben ihrem Vetter – ja, ihrem leibhaftigen Vetter – Schritt auf. Jetzt, wo es soweit war, fühlte es sich eigentümlich an, tatsächlich auf jemanden zu treffen, der zu ihrer Familie gehörte. Solange sie sich erinnern konnte, hatte es immer nur ihren Vater gegeben. Und Thorolf natürlich, der wie ein Onkel für sie war – und manchmal vielleicht auch wie eine Mutter.
Abgesehen davon war sie dankbar, dass Yanrad nicht auf Barthas forsches Gehabe eben eingegangen war, genauso wenig wie auf den ungewöhnlichen Umstand, dass sie mit einem ganzen Fuhrwerk im Schlepptau reiste. Sie würde das noch früh genug erklären müssen.
„Oh ja, mir geht es gut“, antwortete sie auf seine Frage. „Und Vater auch. Wir leben seit etwa einem halben Götterlauf in Ingerimms Steg. Ihm wurde dort nämlich ein Lehn zugesprochen, ein kleines Gut namens Kressing. Er ist jetzt ein Ritter, müsst Ihr wissen, wenn auch nur ehrenhalber. Der Soldgraf selbst hat ihn ernannt, für seine ganzen Verdienste um die Bärenlande. Und damit ich ihm in Kressing zur Seite stehen kann, hat der Soldgraf mich gar bis auf weiteres vom Dienst bei den Rundhelmen freigestellt.“
Immer wieder blickte Yanrad beim Gehen hinüber und Elfwid ins Gesicht. Er nickte an den richtigen Stellen und zeigte auch Erstaunen, als er von der Ehrung ihres Vaters erfuhr. Als sie endete brummte er tief und schritt zunächst schweigend aus.
Weiter hinauf ging es und hinein in eine Biegung.
„Ingerimms Steg also?“, hakte er schließlich nach und seine gerunzelte Stirn gab Aufschluss darüber, dass er wohl nicht ganz sicher war, wo das lag. „Sichelwacht, so viel ist klar“, gab er auch prompt zu Gehör, allerdings wohl eher sich selbst, als Elfwid, denn er fuhr fort und klang nachdenklich dabei, „der Name ist mir wohl bekannt, allein“, er seufzte und warf seiner Base einen schnellen Seitenblick zu, „nicht weil er einen guten Klang hat. Die verfluchte Wüstenei nahm dort doch ihren Anfang, eh? Und … der Herr des Landes ist, oder vielmehr war, auch nicht eben gut beleumundet, wenn ich nicht irre. Das war doch dieser Fenn von Drôlenhorst, nicht wahr? Wenig Gutes hab ich von dem gehört, außer, dass er inzwischen tot ist.“
Der Nimerfro räusperte sich und grinste schief. „De mortuis nil nisi bene“, schob er leise nach, „also entschuldige, wenn ich gerade zu forsch war. Es ist ja nicht so, als wären wir Nimerfros das“, schmunzelte er, „gut beleumundet, meine ich. Letztlich muss ich außerdem bekennen, dass ich mich vor allem in Baliho auskenne und unterdessen in Bärwalde, wo mein Gespons herkommt. Also“, erneut blickte er Elfwid an, „wie ist es da oben, in eurem Kressing. Ergeht es euch wohl?“
Die junge Kriegerin überlegt kurz während sie sich mit der freien Hand die Locken aus ihrem Gesicht strich und hinter die Ohren klemmte.
„Es ist … herausfordernd“, gab sie schließlich zurück. „Ihr hattet schon ganz Recht mit der Wüstenei. Mehr als die Hälfte der Baronie ist davon verheert und Kressing befindet sich zudem unmittelbar im Randbereich der Ödnis. Daher lag das Gut auch lange Zeit brach und niemand hatte sich dessen annehmen wollen.“
Bei diesen Worten ging ihr Blick unwillkürlich in die Ferne, da sie sich daran erinnerte, wie sie vor nicht allzu langer Zeit selbst das erste Mal die lebensfeindliche graue Landschaft geschaut hatte, die sich da zwischen Roter und Schwarzer Sichel ausbreitete, und wie schmerzhaft dieser Anblick für sie gewesen war.
Mit einem Blinzeln verscheuchte sie die trüben Bilder aus ihrem Kopf wieder, ehe sie fortfuhr: „Doch es hat sich auch einiges getan in den vergangenen Jahren. Der Wald und der Boden um die Einöde herum haben sich perainedank wieder ordentlich erholt und die Gesundung der Natur schreitet voran, drängt die Wüstenei immer weiter zurück - zwar nur langsam, aber sicher. Und aus diesem Grund hat die Herrschaft beschlossen, den Landstrich wieder zu bevölkern, wo dann mein alter Herr ins Spiel kam. Es ist allerdings harte Arbeit dort jeden Tag und die Vögtin Fluck, die Ingerimms Steg verwaltet, ist ein rechtes Scheusa…, ähm nun, eine sehr barsche Person. Das Verhältnis zwischen ihr und Vater ist jedenfalls nicht das einfachste. Der eigentliche Baron Geron, der Sohn ebenjenes Fenn von Drôlenhorst, ist derzeit noch Knappe am Grafenhof, und wir sind ihm bisher nicht begegnet. Aber er soll wohl ganz anderes sein, als sein Erzeuger. Vielleicht ändert sich ja etwas, wenn der Herr Geron die Zügel in seiner Baronie selbst in die Hand nimmt. Wer weiß. Wobei man der Fluck eine gewisse Kompetenz wohl nicht absprechen kann, sagt selbst Vater.“
Es schien erst so, als ob Elfwid noch etwas hinzufügen wollte, dann blieb sie jedoch stumm und strich sich erneut die widerspenstigen Haare aus der Stirn.
„Humhum“, brummte Yandrad und warf einen nachdenklichen Blick in den linker Hand so stolz stehenden, alten Wald. „Das stelle ich mir schwer vor“, folgte es dann leise, „allzeit eine solche Ödnis vor Augen und so sehr es mich auch freut zu hören, dass Peraines Segen dem Land Leben und Gün zurück bringt, so weiß ich doch, dass dies nur in kleinen und sicher langsamen Schritten erfolgt.“ Er seufzte und wandte sich wieder seiner Base zu. „‘Du!‘, sagte er unvermittelt, „Sag bitte ‚du‘ und Yanrad zu mir, Elfwid. Auch wenn wir uns erst wieder kennenlernen müssen, wir sind doch verwandt.“
Er drehte sich wieder dem Weg zu und spähte nach vorn, wo über den Baumwipfeln nun das Dach eines ersten Gebäudes in Sicht kam, das eines mit Holzschindeln gedeckten Turms und oben auf wehte ein blaues Banner mit weißer Scheibe im Wind. Geräusche drangen herüber: der Klang einer Axt, das Meckern einer Ziege und ein unverständlicher Ruf. Vor allem aber erreichte der unverwechselbare Geruch von Holzfeuern ihrer beider Nasen. Wieder wandte er sich Elfwid zu und lächelte breit.
Zaghaft erwiderte die sein Lächeln und nickte. „Sehr gerne“, sagte sie. „Yanrad.“
Eine kurze Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, während sich das Gut vor ihnen weiter aus dem Wald schälte und immer mehr Einzelheiten erkennbar wurden. Nun war es bald soweit, überkam es Elfwid unruhig und sie merkte, wie ihre Hände feucht wurden und ihr Atem schneller ging, während sich in ihrer Magengegend ein Gefühl ausbreitete, das sie sonst nur kannte, wenn ein Kampf kurz bevorstand. Sie verkniff sich ein inneres Stoßgebet an die Donnernde, das ihr in solchen Fällen immer half, sich zu konzentrieren. Eine Bitte um den Beistand Rondras war in diesem Moment wohl kaum angemessen, weder gegenüber der Göttin, noch gegenüber den Nimerfros.
„Ich bin nicht sicher, ob …“, murmelte sie stattdessen, halb zu sich, halb an Yanrad gerichtet. „Es ist schon so lange her. Vielleicht ist das ein Fehler.“
„Was denn?“, folgte zuverlässig die Frage ihres Vetters. Yanrad runzelte fragend die Stirn, verhielt nach einigen Schritten, um sich ihr zuzuwenden und blickte Elfwid forschend, aber auch ein wenig alarmiert an.
Vor ihnen war Traunwart nun beinahe zur Gänze zu sehen. Der Weg, dem sie folgen beschrieb einen Bogen gen Südost und in der sanften Krümmung drängten sich etwa ein Dutzend unterschiedlich große Häuser aneinander, die vornehmlich aus Holz bestanden. Umgeben waren sie von eingezäunten Nutzgärten, kleinen Weiden und Feldern, die jedoch förmlich vom Kaiserforst bedrängt wurden, der sich nur wenige Dutzend Schritt vom Weiler entfernt alt und mächtig erhob.
Auf der anderen Seite des Traunlugs stieg das Gelände jäh und nahezu baumlos an. Auf der Spitze dieses Hügels, der zur Traue hin steil abfiel, wie Elfwid sich erinnerte, thronte der Traunwart genannte Fluchtturm, der das Herz des Nimerfroschen Stammlehens bildete. Zu zwei Dritteln war er aus dem dunklen Stein der Schwarzen Sichel erbaut, im oberen Drittel kragte ein zweigeschossiger Fachwerkbau deutlich über. Dieser Teil verfügte über einen schmalen Umgang, auf dem, wie stets, ein Dienstmann der Familie Wache hielt. Es war das Dach dieses Turms gewesen, das schon von Weitem über den Baumwipfeln hatte aufragen sehen und das traurige Gesicht im Wappen ihrer Anverwandten bauschte sich gerade wie zur Begrüßung im frischen Wind.
Etwas tiefer gelegen als der Turm gruppierten sich um ihn einige Gebäude aus Holz hinter einer stabilen, mit einem kleinen Torturm versehenen Palisade. Ein doppelstöckiges Wohnhaus stand dort, erinnerte sich Elfwid, eine Scheune mit Stall, ein Wirtschaftsgebäude mit Küche, Backstube und Werkstatt, ein Stelzenhaus für Hühner, Gänse und Enten im Schatten eines sehr großen Nadelbaums und in dem dabei liegenden, kleinen Garten ein kleines Häuschen aus weißen Baumstämmen in dem sie immer hatte still sein müssen. Ein Schrein wohl, von Firun oder Ifirn, sie war sich nicht mehr sicher.
Zwischen Gut und Weiler stand ein offener Wagen voller Holzstämme, der gerade entladen wurde. Seitlich waren Stapel gesägten Holzes zu sehen, bei dem sich zwei halbwüchsige Mädchen gerade damit abmühten, ihn mit gewachstem Tuch abzudecken. Etwas erhöht und neben der Straße stand eine Frau, die wohl im Alter von Yanrad war. Sie hielt sich sehr aufrecht, trug einen dunkelblauen, recht einfachen Wappenrock und ein Langschwert an der Seite. Sie verfolgte die Arbeiten mit ernstem und aufmerksamem Blick. Anders als Yanrad hatte sie dunklere Haare, rotbraun und dazwischen das eine oder andere silberne Haar und trug sie in einer praktischen Kurzhaar Frisur.
„Möglicherweise“, unterbrach der Nimerfro ihre Betrachtung, „ist es von Vorteil, wenn du mich einweihst, eh? Deine Besorgnis ist nämlich gerade greifbar.“
Unterlippenkauend und offensichtlich um Worte ringend senkte Elfwid ihren Blick zu Boden. Einige schweigende Momente verstrichen.
„Wir werden nicht durch den Winter kommen“, platzte es schließlich unvermittelt aus ihr heraus. Sie sah Yanrad direkt ins Gesicht und hob resigniert die Schultern, bevor sie mit wieder beherrschter Stimme fortfuhr. „Eigentlich waren wir gut vorbereitet, weißt du. Es waren genug Vorräte da, aber die sind … wir haben sie verloren. Und Vater will nicht um Hilfe bitten, weder bei der der Vögtin, noch bei anderen. Der Sturkopf. Stattdessen hat er mich nach Baliho geschickt, um Geld zu leihen für neue Lebensmittel, doch die Schulden …“ Sie schüttelte den Kopf. „Die hätten uns letzten Endes ruiniert.“
Die junge Frau ließ ihren Blick über die nahegelegene Siedlung schweifen. „Vater weiß nicht, dass ich hier bin. Er hätte dem nie zugestimmt.“ Mit entschlossener Miene wandte sie sich wieder ihrem Vetter zu. „Ich kam hierher, um Unterstützung zu erbitten. Das mag mir nicht zustehen, doch sonst wusste ich keinen Rat.“ Sie lächelte schwach. „Bei unserem Aufbruch in Baliho erschien mir die Idee weitaus sinniger.“
Langsam hoben sich bei Elfwids Worten die Brauen Yanrads, doch dies blieb für einige Augenblicke seine einzige Regung. „Ai“, brummte er dann und folgte ihrem Blick hin zum Weiler, „das kann ich mir denken. Vom eigenen Mut hierher getragen, eh?“ Er lachte tonlos und sah sie wieder an, einen traurigen Ausdruck in den Augen. „Das weckt Erinnerungen, weißt du? Was glaubst du, wie deine Mutter war, eh? Genau so! Entschlussfreudig, wenn der Augenblick es ihrer Meinung nach vorgab. Schnell bereit zu handeln. Rondrianischer, als die meisten von uns, die wir es eher mit den Tugenden des Lehrers der Gelassenheit halten.“ Er seufzte.
„Auf Einladung bist du hier, sagtest du? Nun, das ist gut, das zeigt, dass in Traunwart längst nicht mehr alles so ist wie anno '36. Deine Großmutter ... sie wird sich freuen. Das wird sie kaum zeigen, aber sie wird sich freuen. Auch deine Tante, die unterdessen Junkerin ist, wird sich freuen, aber sie wird es noch weniger zeigen. Lass dich davon nicht ins Bockshorn jagen. Denn wir Nimerfros folgen vor allem der Mittlerin und diese steht für Hilfsbereitschaft. Lass mich dir zur Seite stehen, ich bin sicher, meine Base wird dich nicht abweisen. Traunwart lebt nicht im Überfluss, aber es wird reichen.“ Aufmunternd nickte er.
Mit seiner ruhigen Art und seiner einfühlsamen Rede hatte es Yanrad tatsächlich vermocht, die Beklemmung, die sich in Elfwid im Laufe der vergangenen Reisetage und vor allem während der letzten zurückgelegten Meilen aufgebaut hatte, ein wenig zu mildern. Und so knapp vor ihrem Ziel unverhofft auf einen Verbündeten getroffen zu sein, ließ sogar eine zaghafte Zuversicht in ihr keimen.
„Danke“, entgegnete sie ihrem Vetter und selten war das Wort ehrlicher gemeint worden.
***
Unverhofftes Wiedersehen
Boron 1043 Bosparans Fall – Kaiserlich Sichelgau, Junkergut Traunwart
So fühlte es sich also an. Es sagte sich so leicht: wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die Gefühle, die ein solches Ereignis nach sich zog waren das in der Regel nicht. Leicht. Meist folgten einem solchen Blitz Schmerz, Verlust, Panik. Viel zu selten: Freude.
Was genau Elfwids unverhoffte Ankunft bei den Bewohnern Traunwarts ausgelöst hatte, wusste diese nicht. Wie Yanrad es prophezeit hatte, war dem Gesicht ihrer Tante Madelgard nichts abzulesen gewesen. Ihre Augen hatten sich kurz verengt, als sie vorgestellt wurde. Doch im Anschluss wurde sie so unverbindlich und höflich wie vermutlich jeder Reisende im Namen der Gütigen auf dem Gut willkommen geheißen.
Etwas beredter war da schon das Mienenspiel ihrer Großmutter Immberta. Diese hatte geblinzelt, als Yanrad Elfwid vorgestellt hatte, derweil ihre Rechte die Linke auf dem Weg zum Herzen abfing und die Augen der alten Nimerfro sich gar nicht mehr von ihrer Enkelin lösen wollten. Alt war sie geworden, ging leicht gebeugt und hatte viele Falten. Viel mehr als jene, an die Elfwid sich vage erinnerte. Doch die Hände waren – altersfleckig hin oder her – noch so, wie sie sich entsann. Kräftig, breit und rau. Die Hände einer Kriegerin. Hände, wie Elfwid selbst sie hatte.
Ohne ein Zögern hatte die Altjunkerin bestätigt, dass Elfwid ihrer Einladung gefolgt war, was Madelgard immerhin eine erstaunt gehobene linke Braue abrang. Was wiederum Immberta zu der leisen Präzisierung „Spät, aber immerhin, den Himmlischen sei Dank!“, veranlasst hatte und als ihre Blicke sich dabei kreuzten meinte Elfwid doch tatsächlich Tränen in Immbertas Augen erkannt zu haben.
Nach dieser Einführung waren keine weiteren Fragen gestellt worden.
Das Traunwarter Gesinde hatte gemeinsam mit Elfwids Leuten den Wagen ausgeschirrt und war danach in eine – so wurde ihr berichtet – kleine, aber wohlig eingerichtete Kammer gebracht. Letzteres traf auch auf das Zimmer zu, das Elfwid im Wohnhaus zugeteilt worden war. Darüber hinaus war es recht geräumig, hatte eine Wand aus dem dunklen Schieferstein der Schwarzen Sichel und ansonsten Wände aus massiven Holzbalken. Ein kleiner Kamin war in die Steinwand eingelassen, der Sims bestand aus einem glänzenden, schwarzen Schieferstein von gut einem Schritt Länge. Feine Linien bildeten die Szene einer firungefälligen Hirschjagd, die im Licht des fröhlich flackernden Kaminfeuers nachgerade zum Leben erwachte. Es gab ein breites, mit Fellen belegtes Bett, einen Waschtisch unter dem Fenster mit Butzenscheiben aus Balihoer Waldglas, zwei fellbelegte Scherenstühle vor dem Kamin und eine massive Truhe für ihre Besitztümer. Ah, und in der Ecke einen Rüstungsständer, was recht nützlich war. Im offenen Gebälk hingen einige wohlduftende Kräuterbündel und irgendein dienstbarer Geist hatte eine zusätzliche Wolldecke sowie Handtücher und ein Stück Seife herein gebracht.
Langsam wurde es dunkler in ihrem Zimmer, die grünlichen Scheiben brachen das fahle Licht des späten Nachmittag und Elfwid war froh um das flackernde Feuer, in dessen Schein sie eine kleine Öllaterne und neben dem Bett einen Kerzenständer erspähte.
Gerade wollte sie sich daran machen, beides zu entzünden, als leise geklopft wurde. Ohne eine Antwort abzuwarten wurde die Tür geöffnet und ein, von unordentlichen nussbraunen Haaren umstandener, Kopf schob sich herein. „Ähm“, hub der vielleicht dreizehnjährige Knabe mit kratziger Stimme an, „ich soll die Kerzen anmachen, sagt die Herrin und dass ich Euch sagen soll, dass Ihr gern ins Kaminzimmer kommen könnt, wenn Ihr fertig seid.“ Die Brauen über den braunen Augen schoben sich nachdenklich zusammen. „Ah, und fragen soll ich, ob Euch noch was fehlt. Ich bin übrigens der Firutin Keilersorter und Diener hier“, schob er nicht ohne Stolz hinterher.
Noch immer einigermaßen überfordert von den frischen Eindrücken und dem dadurch verursachten Gefühlsdurcheinander in ihrem Innern hieß Elfwid die kleine Ablenkung bereitwillig willkommen. Leise schmunzelnd vollführte sie eine einladende Geste mit der Hand.
„Dann komm mal herein Meister Keilersorter und tu wie dir geheißen. Mein Name ist Elfwid.“
Auf Kressing gab es gerade mal eine Handvoll Kinder, die jedoch, wann immer es ging, die Nähe zu der jungen Kriegerin suchten. Ob während ihrer Waffenübungen, beim Striegeln ihres Streitrosses oder bei ihren regelmäßigen Erkundungsausflügen in den Wald, nicht selten war sie von einer kleinen Schar staunender Gören umgeben, die sie Löcher in den Bauch fragten oder ihr im Gegenzug ausführlich von den Aufregungen ihres Alltags berichteten. Und auch Elfwid mochte den Umgang mit dem Kressinger Nachwuchs sehr gerne. Waren deren unschuldige Heiterkeit und hemmungslose Begeisterungsfähigkeit doch ein angenehmer Gegensatz zu den zwar grundsätzlich gutherzigen, doch meist recht kauzigen und bärbeißigen alten Frontschweinen wie Bartha oder Thorolf, mit denen ihr Vater sich sonst umgab. Und so war ihr auch der unbedarft wirkende Traunwarter Diener auf Anhieb sympathisch.
Etwas verunsichert ob der unangemessenen Anrede kam Firutin herein und entzündete geschickt einen Kienspan an dem offenen Feuer im Kamin, um dann damit die Kerzen und die Lampe zum Leuchten zu bringen. Anschließend sah er die Besucherin erwartungsvoll an.
„Ich danke dir, Firutin. Sonst brauche ich nichts.“
„Sehr wohl, Frau Elfwid“, entgegnete der Bursche schlicht bevor er sich beeilte, wieder zur Tür zu kommen. Als er diese dann rasch hinter sich zuzog, warf er ihr durch den kleiner werdenden Spalt noch einen kurzen Blick zu und Elfwid sah, wie ein verschmitztes Lächeln über seine Züge huschte.
Ihr Schmunzeln wurde daraufhin ein Stück breiter, doch dann holten sie die Umstände wieder ein und sie seufzte. Nach einem Moment, in dem sie sich selbst stumm zu Ruhe und Disziplin ermahnte, begann sie damit sich auszuziehen. Waffengürtel und Kettenhemd landeten sorgsam auf dem Rüstungsständer, das wattierte Unterzeug und die verstärkte Lederhose weniger ordentlich auf dem Bett, die hohen Reitstiefel in der Ecke. Dann nahm sie das Stück Seife und ein Tuch zur Hand und wusch sich methodisch Schweiß und Dreck von der Reise ab. Ihr nackter sehniger Körper spiegelte sich dabei schemenhaft im Butzenglas des Fensters und sie fragte sich, ob sie ihrer Mutter wirklich so ähnlichsah, wie Yanrad ihr das nun mehrfach versichert hatte. Wenn es so war, musste sie ihrer Großmutter wohl wie ein Geist vorkommen, denn Wolftrude war bei ihrem Tod nur etwa vier Jahre älter gewesen als Elfwid es jetzt war. Irgendwie bedauerte sie die alte Nimerfro sogar ein wenig, obwohl sie es doch gewesen war, die ihre eigene Enkelin damals aus der Familie verstoßen hatte. Elfwid hatte bemerkt, wie ihr unverhofftes Erscheinen auf Traunwart, die Alt-Junkerin aus der Fassung gebracht hatte, auch wenn die sich alle Mühe gegeben hatte, dies zu verbergen.
Zu guter Letzt kämmte sie sich noch schnell die Haare aus, dann zog sie sich wieder an. Wollene Beinkleider, eine gefällig geschnittene grüne Tunika und leichte halbhohe Stiefel hatte sie als Wechselkleidung in ihren Packtaschen dabei. Ein schlichter kupferner Stirnreif um die Locken zurückzuhalten und ein einfacher Ledergürtel an dem sie ihren Dolch befestigte vervollständigten ihren Aufzug.
Schließlich stand sie an der Tür und legte die Hand auf die Klinke. Einmal noch atmete sie tief durch und zwang sich, alle Befürchtungen und Sorgen, auszublenden. ‚Konzentriere dich auf das Hier und Jetzt! Tu, was getan werden muss! Vertraue auf die Göttin und das, was du gelernt hast!‘, rief sie sich eine Lektion ihrer Balihoer Lehrmeister in Erinnerung – auch wenn diese Gebote eher auf die nötige Geisteshaltung vor einer Schlacht gemünzt waren als auf eine solcherart verkorkste Familienzusammenführung.
Dann trat sie hinaus auf den Gang.
Niemand erwartete sie, niemand trug ihr sein Geleit an. Ob das dem geschuldet war, dass sie den Weg – theoretisch – kannte. Oder ob es irgendeine krude Art von Test war, wusste Elfwid nicht. Den Weg ins Erdgeschoss immerhin kannte sie, denn sie war ihn vorhin gegangen. Wenn sie einmal unten war … nun, das würde sie dann schon sehen.
Den Gang entlang, dann die breite, von einem Absatz geteilte Treppe mit den schön gedrechselten Geländer Pfosten und dann vor dem Treppenabsatz verharren, um sich zu orientieren. Doch kaum angekommen, löste sich zumindest diese Frage in Wohlgefallen auf, denn eine junge Frau von vielleicht 16 Wintern trat auf sie zu. Sie war nicht allzu groß, dafür aber kräftig und sie trug einfache, aber herrschaftliche Kleidung: sie erkannte über gut eingelaufenen Stiefeln eine braune Wollhose und darüber ein dunkelblaues Wollwams, das den traurigen Nimerfro-Kopf als faustgroße Stickerei über dem Herzen trug. An einem schlichten Schwertgürtel hingen ein Dolch, ein kleineres Messer und ein Beutel.
„Rondra zum Gruße“, sprach die Jüngere Elfwid an, legte brav die rechte Faust über das Herz und neigte den Kopf, „ich bin Rondrada von Unkenthal, die Knappin von Frau Madelgard. Sie trug mir auf, Euch ins Kaminzimmer zu führen, wenn es Euch beliebt, Frau …“, kurz zögerte die junge Dame, „…ni Branghain. Wenn Ihr mir bitte folgen wollt.“
Elfwid hatte den Gruß der Knappin auf gleiche Art erwidert und ihr dann mit einem Nicken bedeutet voranzugehen.
Aus der Eingangshalle ging es in den breitesten der davon abzweigenden Gängen. Gefärbte Wollteppiche lagen auf dem matt glänzenden Holzboden und an den, aus massiven Balken bestehenden, Wänden hingen in regelmäßigen Abständen eiserne Haken mit kleinen Öllampen, die offene Flamme hinter schmalen, gläsernen Zylindern gesichert. Dazwischen hingen beschnitzte Geweihe oder kleine Bilder in hübsch geschnitzten Rahmen. Von irgendwoher umgarnte der Duft einer mit reichlich Kräutern versetzten Speise Elfwids Nase, vor allem aber der eines Holzfeuers.
Auf etwa halber Länge des Ganges verhielt die Knappin und öffnete die Tür zu ihrer Rechten. „Die Dame Elfwid ni Branghain“, meldete sie und bedeutete nämlicher mit einer höflichen Geste einzutreten.
Elfwid fand sich in einem Raum wieder, der viel kleiner wirkte, als er es in ihren wenigen Erinnerungen war. Tatsächlich hatte er eine gute Größe für das, was er darstellte. Eine der Wände bestand auch hier aus rohem Schiefergestein, doch der Kamin darin war deutlich größer und beeindruckender. Ein massiver Balken bildete hier den Sturz und darauf stand, neben zwei Stumpenkerzen, allerlei Tand. Den Balken selbst zierten Schnitzereien, die verschiedene, zurückhaltend bemalte Tiere und Pflanzen des Waldes. Über dem Rauchfang hing ein altersdunkler Wandteppich mit einer Jagdszene, die eine junge Frau und einen Hirsch im Zentrum trug. Zwei Fenster aus Butzenscheiben führten nach draußen und erlaubten noch einen Blick auf den Kaiserforst. Dicke Wollvorhänge kündeten aber davon, dass sie beizeiten verhüllt werden würden. Dem Kamin gegenüber stand eine große Bank mit tiefer Sitzfläche und hoher Arm- und Rückenlehne. Zahlreiche Felle und Kissen waren darauf verteilt und luden zum Sitzen ein. Links und rechts davon standen zwei bequem aussehende Sessel und dazwischen auf dem Boden lag wiederum ein Wollteppich in den einige dezente Muster eingewoben waren. Zwei kleine Tische standen nahebei und an den Wänden erkannte Elfwid unterschiedlich große Kommoden, ein schmales Regal und immer wieder Jagdtrophäen und andere Erinnerungsstücke.
Alles in allem wirkte das Kaminzimmer wie ein sehr privates, ein Familienzimmer und es verströmte eine heimelige Atmosphäre.
Diese wurde etwas von der kühlen, vielleicht gar abweisenden Miene getrübt, die ihre Tante Madelgard zur Schau trug, wie sie aufrecht und steif am Kamin lehnte und ihr abschätzig entgegenblickte. Wesentlich freundlicher wirkte da schon Yanrad, der, kaum dass sie angekündigt worden war, von der Bank aufsprang und einen Schritt auf sie zutrat. Ihre Großmutter derweil saß in einem der Sessel. Zu ihren Füßen lag ein großer und sichtbar alter Hund, der gerademal den Kopf hob und freundlich mit der Rute wedelte, als er den Neuankömmling begutachtete. Auch Immberta erhob sich, das jedoch mit deutlich erkennbarer Mühe und indem sie die hilfreich dargebotene Hand ihres Verwandten geflissentlich ignorierte.
„Komm herein, mein Kind, nur herein und nimm Platz. Berichte mir, wie war deine Reise hierher?“
Ein wenig zögerlich trat die Angesprochene näher und sah sich mit großen Augen im Zimmer um. Erneut schwappte ein Gefühl der Vertrautheit über sie, nur diesmal viel intensiver und weniger vage als es noch während der Anreise gewesen war. Ihr Blick streifte die Möbel, die Schnitzereien, die Geweihe und all den anderen Zierrat und blieb schließlich an dem alten Wandteppich über dem Kamin hängen. Ohne dies bewusst entschieden zu haben, machte sie stirnrunzelnd und mit schief gelegtem Kopf zwei weitere Schritte darauf zu. Das Motiv brachte etwas tief in ihr zum Klingen, etwas, das lange Zeit verschüttet gewesen war, sich nun aber regte und hartnäckig seinen Weg an die Oberfläche ihres Bewusstseins bahnte. Elfwid kannte die abgebildete Szenerie. Sie hatte sie in einem anderen Leben oft betrachtet und sich, während eine warme Frauenstimme ihr Geschichten dazu erzählt hatte, vorgestellt, ein Teil davon zu sein. Ihre Züge wurden weich und unwillkürlich hob sich ihre Rechte, als ob sie auf das Bild zeigen oder gar dessen Linien in der Luft nachzeichnen wollte.
Ein dezentes Räuspern Yanrads riss sie aus ihren Gedanken. Erschrocken wandte sie sich um.
„Verzeihung“, murmelte sie, wobei sie eine Verbeugung in Richtung Immbertas andeutete, die jedoch nicht so wirkte, als ob das Verhalten ihrer Enkelin sie verstimmt hätte - im Gegenteil.
Elfwid huschte zu der gepolsterten Sitzbank und ließ auf deren Kante nieder, den Rücken durchgedrückt und ihre Hände etwas unbeholfen auf die Oberschenkel gelegt. Nachdem auch Immberta und Yanrad daraufhin wieder Platz genommen hatten – Madelgard behielt ihre stehende Position zunächst bei -, erinnerte sie sich an die Frage.
„Die Reise verlief im Großen und Ganzen ereignislos“, stieß sie hervor. „Die ersten Tage hat es der Herr Efferd mehr als gut mit uns gemeint, aber nach unserem Aufbruch in Baliho hat sich das Wetter sehr gebessert.“
„Was fürwahr ein Glück ist“, mischte sich nun Yanrad ein und er tat es lächelnd, „der Herbst kann schon recht trist sein, hier, zu Füßen der Schwarzen Sichel. Regen, Nebel, Kälte. Da reist es sich nicht so gut, eh?“
Madelgard schnaubte leise und hob eine Augenbraue, als sie dem Vetter einen Blick zuwarf, doch sie schwieg weiterhin.
„Ich mag es als ein gutes Zeichen nehmen, dass die Himmlischen mit Wohlwollen auf deine Reise blicken, Elfwid und es soll uns zum Beispiel gereichen …“, ergänzte Immberta und sie wäre wohl noch fortgefahren, wenn die Tür nicht geöffnet worden wäre und aller Augen sich dorthin wandten. Rondrada trat ein und hielt einer drallen Frau mit Schürze die Tür auf. Diese trug ein Tablett in Händen, auf denen ein dampfender Krug und vier Hornbecher standen. Mit einem Knicks stellte sie ihre Last auf eines der Tischchen und zog sich zurück.
Nun war es an Rondrada, die Becher zu füllen, einem jeden im Raum einen anzureichen und sich dann mit aufmerksamer Miene an die Wand zu stellen.
Erneut erhoben sich die beiden Nimerfros, um ihre Becher entgegenzunehmen und gesellten sich zu Madelgard am Kamin. Nicht ohne Elfwid jeweils einen kurzen Blick zuzuwerfen, der sie veranlasste, es ihnen gleichzutun.
Als die vier einen lockeren Kreis vor dem Kamin bildeten blickte die Junkerin von Traunwart allen nacheinander in die Augen, zuletzt ihrer Nichte, bei der sie verweilte und erstmals zeigte sich der Anflug eines Lächelns auf ihrem Antlitz. „Lidari hat es gefallen, dir den Weg zu bereiten uns hier zusammenzuführen, sei also willkommen in unserem Heim, Elfwid. Zunächst im Namen der Gütigen Mutter.“ Sie nickte und alle Nimerfros hoben ihr Horn, um einen tiefen Schluck zu nehmen.
Dann hob Madelgard ihren Becher erneut und blickte darauf „Wir danken auch der Alveransleuin, dass deine Reise ohne Harm war und auch dafür, dass ihr Auge allzeit auf uns ruht. Möge es weiter verweilen und uns beschirmen, wenn ihr dies gefällt.“ Mit diesen Worten goss sie den zweiten Schluck ins Kaminfeuer. Ein Beispiel, dem ihre Mutter und Yanrad sogleich folgten, während sie jeweils ein Gebet murmelten und Elfwid sich beeilte, es ihnen einen Herzschlag später gleichzutun.
Sinnend blickten die drei noch wenige Augenblicke ins Feuer, das kurz gezischt hatte und von dem nun grauer Rauch empor und in den Kamin stieg, alldieweil ihr Gast etwas unsicher von einer zum anderen sah.
„Ra’andrashar“, murmelte Madelgard und starrte noch ins Feuer, als Mutter und Vetter sich schon wieder Elfwid zuwandten und ihr freundlich bedeuteten, dass der Formalitäten nun genüge getan war. Immberta setzte sich und Elfwid konnte nicht umhin, eine gewisse Erleichterung in den Zügen ihrer Großmutter zu bemerken, als sie Platz genommen hatte.
Doch dies war nur ein winziger Augenblick, nun blickt sie ihre Enkelin wieder an und musterte sie aufmerksam. „Sei versichert, ich freue mich über deinen Besuch, Elfchen …“, erschrocken brach sie ab, als ihr der so vertrauten Kosenamen aus Kindertagen über die Lippen kam. „Oh, verzeih, das ist vermutlich unpassend“, kam ihre sicher anders geplante Rede auch schon wieder zum Erliegen und ein banger Blick traf ihre Enkelin.
Die reagierte jedoch nicht verärgert, sondern vielmehr verblüfft. Ihr Gesicht nahm einen versonnenen Ausdruck an und einmal mehr wanderte ihr Blick zu dem Wandteppich über dem Kamin. „So hat mich tatsächlich lange niemand mehr genannt.“ Sie lächelte. „Elfchen. Das hatte ich ganz vergessen …“, sagte sie nachdenklich, bevor sie sich schließlich wieder Immberta zuwandte. „Zu Hause heißt man mich meist nur Elfi. Meinen vollständigen Namen benutzt Vater höchstens bei formellen Anlässen oder wenn er mal verärgert ist. Und Onkel Thorolf betitelt mich schon seit jeher gerne mit irgendwelchen Dienstgraden aus der Armee. Da bin ich dann mal die nassforsche Rekrutin und bei der nächsten Gelegenheit die wagemutige Rittmeisterin oder gar die feine Frau Obristin – gerade so wie es ihm gefällt.“
Als sie die fragend hochgezogenen Augenbrauen Immbertas bemerkte, schob sie erklärend hinterher: „Oh, Thorolf ist der Weibel von Vater. Das heißt, er war es sehr lange Zeit, schon damals in der Garde und später dann auch im Stab beim Soldgrafen. War immer treu an seiner Seite und so lange bei uns wie ich denken kann. Jetzt ist er in Kressing unser Haushofmeister. Neben Vater ist er alles, was ich an Familie habe.“
Ohne Arg – und wohl auch ohne nachzudenken - ausgesprochen, begriff Elfwid im selben Moment, was sie da gerade gesagt hatte und fuhr sich mit der Hand verlegen über den Mund. „Ich meinte damit nicht…, also ich … ich wollte nicht respektlos sein. Verzeiht bitte.“
Ein schmerzlicher Ausdruck huschte über das Gesicht der Altjunkerin, derweil ihre Tochter nur eine Augenbraue hob und Yanrad die Lippen aufeinander presste. Doch Immberta hatte sich schnell wieder gefasst. Sacht nickte sie ein, dann ein zweites Mal. „Nun, wer würde dir eine solche Rede verübeln? Ich kann es jedenfalls nicht, Elfwid und das dauert mich sehr.“ Wie ihre Enkelin zuvor, blickte sie nun auch hinauf zum schmückenden Wandteppich und seufzte. Dann lenkte sie ihren Blick hin zu Elfwid und fing deren Augen ein.
„Lass mich dir noch einmal versichern, dass mich dein Besuch freut. Doch mich treibt die Frage um, wie lange du beabsichtigst hier bei uns zu bleiben und … ja, auch die, warum du meiner Einladung nun schließlich doch gefolgt bist?“ Ihre Stimme war zum Ende ihrer Rede brüchig geworden und sie brach ab, um sich zu räuspern. „Ich … nun … es wäre eine Erleichterung für mich, wenn ich wüsste, dass du lange genug bliebest, damit ich dir … nun … erklären kann…“ Wieder brach sie ab und schöpfte tief Atem. „Du merkst ja, es fällt mir schwer, aber ich möchte unbedingt mit dir sprechen. Unter vier Augen. Denkst du, das ist möglich?“
Mit weniger Bedacht mischte sich Madelgard nun ein. „Nun, ich denke doch, dass sich das machen lassen sollte, nicht wahr? Zuvörderst interessiert es mich aber auch sehr, warum du jetzt und doch recht unverhofft hier hereinschneist. Gibt es dafür einen bestimmten Grund, oder folgst du tatsächlich nur der Einladung meiner Mutter?“
Elfwid sah ihre Tante ob deren brüsk vorgetragenen Frage und dem darin kaum verhohlenen Misstrauen einige Momente lang stumm an, wobei sie tief ein- und ausatmete und ihre Kiefermuskeln sichtbar arbeiteten. Sie spürte, wie sich ihr Herz, das sich im Angesicht des mühsam unterdrückten, jedoch offensichtlichen Schmerzes ihrer Großmutter, gerade zu öffnen begonnen hatte, wieder zuschnürte. Die unterschwellige Verbitterung, die sie all die Jahre mit sich herumgetragen hatte, das tiefsitzende Gefühl des Verstoßen-, des Nichtgewolltseins, brachen an die Oberfläche und verdrängten jäh die Wärme, die sich in ihr auszubreiten begonnen hatte.
„In der Tat bin ich nicht hierhergereist, um mich bei der Familie meiner Mutter anzubiedern, Euer Wohlgeboren“, entgegnete sie der Traunwarter Junkerin schließlich mit leicht bebender Stimme. „Die Wahrheit ist, dass die Verzweiflung mich hertrieb und ich keinen anderen Rat wusste. Wir benötigen Hilfe. Hilfe, die mir an anderer Stelle versagt wurde, ohne die ich aber kaum nach Kressing zurückkehren kann. Und da ich niemand anderen kenne, an den ich mich wenden könnte, habe ich mich auf die Einladung Eurer Mutter besonnen.“
Kurz huschte ihr Blick zu Immberta hinüber und der gramvolle Ausdruck im Gesicht der alten Frau versetzte ihr einen Stich, bevor sie sich dann jedoch trotzig wieder Madelgard zuwandte. „Glaubt mir, es fiel mir nicht leicht, diesen Weg zu gehen, und zu Hause wird mich eine gehörige Standpauke erwarten, wenn Vater erfährt, was ich getan habe, doch jetzt bin ich nun mal hier und ich werde sagen, was ich zu sagen habe, ob er damit einverstanden ist oder nicht … oder ob Ihr es seid.“
Die Augenbrauen der Junkerin schnellten nach oben und um ihren Mund verfestigte sich der harte Zug. Doch ehe sie etwas erwidern konnte, ließ sich die ruhige, nachgerade beschwörende Stimme Yanrads vernehmen.
„Nun, nun, die Damen“, brummelte er und blickte zwischen den gleichermaßen angespannten Kriegerinnen hin und her. Tadelnd schnalzte er mit der Zunge und wog das Haupt. „Wo so lange Schweigen war, soll nun nicht die Hitze eines Streites erblühen, ohne dass wir überhaupt nachgefragt und zugehört haben. Beiderseits!“ Sein Blick traf erst Madelgard, dann aber auch Elfwid, der er einige Augenblicke tief in die Augen blickte.
„Soweit ich es verstanden habe, freut deine Mutter sich über Elfwids Hiersein, Madelgard“, wandte er sich unvermittelt an seine Base. „Allzumal sie selbst sie eingeladen hat. Da gehört es doch zum guten Ton, unsere Verwandte zunächst zur Ruhe kommen zu lassen, ehe wir in sie dringen, eh?“ Er schniefte leise und wandte sich dann an Elfwid.
„Wiewohl es natürlich auch zum guten Ton gehört, die Gastgeber nicht im Dunkeln tappen zu lassen. Nun“, er hob die Augen und senkte sie dann in die der Altjunkerin, „mich deucht, wir müssen diesen beiden Löwinnen ein wenig helfen, meinst du nicht auch, Tante?“
Die war sichtbar überrascht von der Entwicklung und nickte mehr mechanisch, als überzeugt. Dann fasste sie sich jedoch und ergriff selbst das Wort. „Ai, Neffe, du hast recht. Frieden, meine Kinder!“, ergänzte sie mit entschlossener Stimme. „Ich will nicht, dass ein Streit dieses Wiedersehen überschattet. Wir hören uns jetzt in Ruhe an, was Elfwid umtreibt, welche Hilfe sie und ihr Vater brauchen.“ Ihr Blick wanderte von einer der beiden Frauen zur anderen, verweilte zuletzt aber bei Elfwid. „So es geht, Enkelin, berichte uns getreulich. Wir werden ebenso lauschen, denn wir Nimerfros tragen die Gebote der Götter im Herzen.“ Sie wandte sich ihrer Tochter zu. „Immer!“
Elfwid behielt noch zwei schwere Atemzüge ihre angriffslustige Körperhaltung und das unnachgiebige Mienenspiel bei, dann zeigten die mäßigenden Worte Yanrads und Immbertas jedoch Wirkung und mit einem leisen Seufzen entspannte sie sich wieder ein wenig. Sie nickte ihrem Vetter zu.
„Ich muss nochmals um Verzeihung bitten. Es liegt mir fern Gezänk in euer Haus zu tragen und dadurch die Gebote der gütigen Mutter zu verletzen, denn ich bin sehr dankbar für eure Gastfreundschaft.“
Sie bedachte die noch immer skeptisch wirkende Madelgard mit einem kurzen halbwegs versöhnlichen Blick, den diese mit einem angedeuteten Nicken quittierte und richtete das Wort schließlich an ihre Großmutter.
„Und sicher will ich auch kein falsches Spiel treiben, euch hintergehen oder etwas erschleichen oder so. Es ist nur …, also, wie gesagt, es war für mich nicht leicht. Hierherzukommen meine ich, nach so vielen Jahren und dann als Bittstellerin. Ich wusste lange nicht, wie ich das anstellen soll. Der Entschluss dazu war dann allerdings schnell gefasst und – das muss ich zugeben - getragen von dem Gedanken, dass die Familie meiner Mutter mir etwas schuldet.“
Sie stockte und senkte den Blick, doch Immberta forderte sie mit sanfter Geste auf, fortzufahren, was sie nach einem Räuspern auch tat. Die Geste, die die Altjunkerin derweil ihrer Tochter zugedachte, war weniger sanft, denn entschieden und sie hatte zur Folge, dass Madelgard sich endlich setzte. Ihre Anspannung blieb sichtbar, aber immerhin hatte nun jeder im Raum Platz genommen und das schien Immberta zu erleichtern.
„Seit dem Frühling letzten Jahres ist Vater Herr zu Kressing, einem kleinen Rittergut am Rande der Wüstenei in Ingerimms Steg – Yanrad mag das vielleicht schon berichtet haben. Er ist dort angetreten mit dem Auftrag das ehedem verlassene Lehn wieder aufzubauen. Eine schwierige Aufgabe, denn dort war kaum mehr etwas, was Leben ermöglichte, auch wenn die Ödnis mittlerweile langsam zurückweicht. Vater jedenfalls war zu allem entschlossen. Er sammelte einige gute Leute um sich, forderte Gefallen ein, wandte sich an alte Weggefährten, nahm Schulden auf und besorgte so alles, was für den Anfang benötigt wurde. Die Vögtin steuerte natürlich auch noch einen Anteil hinzu und so waren wir gut auf den kommenden Winter vorbereitet. Das dachten wir zumindest. Denn vor etwas mehr als einer Woche entdeckten wir, dass sämtliche Vorräte in unserem Lager vergammelt waren. Nicht einfach nur ein Teil oder etwas von einer Sorte, nein, restlos alles und das binnen weniger Tage. Thorolf, der sich mit sowas auskennt, konnte sich das nicht erklären. An der Lagerhaltung kann es nicht gelegen haben, sagt er. Er vermutet Zauberei, einen Fluch oder so was. Vielleicht hat es auch mit der Nähe zur unheiligen Wüstenei zu tun. Perainehilf, wir haben keine Erklärung.“
Der jungen Kriegerin war anzusehen, wie sie schauderte als sie über das Geschehene berichtete. Kurz sah sie in das prasselnde Kaminfeuer, wie um das innere Frösteln durch den Anblick zu vertreiben. Die drei Nimerfros versteckten ihre Beunruhigung nicht. Sie tauschten besorgte Blicke aus und Immberta schlug gar ein Schutzzeichen, aber niemand machte Anstalten, Elfwid zu unterbrechen.
„Wie auch immer“, erhob diese nach einem Moment wieder die Stimme, „wir würden es so nicht über die nächsten Monde schaffen, selbst wenn wir das wenige, was noch da ist streng rationieren. Daher schickte Vater mich nach Baliho, damit ich bei den Rinderbaronen weitere Schulden aufnehme um neue Lebensmittel zu besorgen. Doch die Bedingungen, die uns die Raffkes da aufdrücken wollten, hätten uns vollständig ruiniert. Das konnte ich doch nicht machen. Nicht nachdem Vater schon so viel geopfert hat. Das hätte letztlich das Ende für Kressing bedeutet. Und daher …“
Sie ließ den Satz unvollendet, als sich ihre Augen mit Tränen füllten.
„Ahhhh, nicht doch“, entfuhr es Immberta und ehe Elfwid sich versah, war die alte Dame aufgestanden und hatte sich neben ihr niedergelassen. Vorsichtig nahm sie deren Hand in die ihre.
„Wohlgetan, dass du diesen Raffzähnen nicht noch mehr sauerverdientes Gold in den Rachen geworfen hast“, knurrte Madelgard derweil nachgerade und nickte Elfwid zu.
„Vorräte sind es also, an denen es mangelt?“, warf Yanrad pragmatisch ein. „Getreide, Trockenfleisch, Wintergemüse, Hülsenfrüchte und derlei, ai?
„Hum“, brummte die amtierende Junkerin, „sowas haben wir aber nicht im Überfluss.“
„Nein, haben wir nicht“, mischte sich ihre Mutter nun wieder ein. „Aber das macht nichts. Wir werden helfen, Elfchen.“
Das tiefe Einatmen ihrer Tochter ignorierte sie ebenso, wie das erfreute Lächeln des Neffen. „Ich weiß noch nicht wie. Darüber wird noch in aller Ruhe zu befinden sein, aber wir werden helfen. Ich kann altes Unrecht nicht ungeschehen machen. Aber ich kann dafür sorgen, dass kein neues hinzukommt.“
„Aber Mutter, wir haben auch nicht üppig von allem …“, warf Madelgard ein und Besorgnis klang aus ihren Worten.
„Nein“, schnappte die alte Nimerfro, „aber es wird reichen! Wir werden einen Weg finden. Lang genug musste deine Nichte ihren Weg alleine suchen, Gardi. Daran bin ich schuld. Und ich danke den Göttern, die Gütige Mutter voran, dass ich nun die Gelegenheit habe, ein wenig davon zu mildern. Wir werden einen Weg finden. Gemeinsam. So, wie wir Nimerfros es immer getan haben – hätten tun sollen. Also, Elfwid, woran mangelt es? Was braucht ihr am Nötigsten?“
Die Angesprochene sah sie mit großen Augen an. Kein Ton kam über ihre halbgeöffneten Lippen. Und dann, vielleicht zum allerersten Mal in ihrem noch jungen Leben, wurde Elfwid ni Branghain wirklich und wahrhaftig von ihren Gefühlen überwältigt. Statt zu antworten, lehnte sie sich vor, ließ ihren Kopf unvermittelt an die Schulter ihrer überraschten Großmutter sinken und gestattete sich, zwar stumm, jedoch hemmungslos zu weinen.
Und das durfte sie auch. Immberta streichelte sacht über den Rücken ihrer Enkelin, während sie beruhigend summte. Ab und an stieß sie ein leises „Shhh, shhhh“ aus. Die anderen beiden hielten sich zurück. Madelgard flüsterte ihrer Knappin etwas zu, woraufhin diese das Zimmer leise verließ.
Nach einer Weile richtete sich Elfwid schniefend wieder auf und wischte sich – nicht unbedingt standesgemäß – Tränen und Rotz mit dem Ärmel ihrer Tunika aus dem Gesicht. Kurz darauf hatte sie wieder eine einigermaßen würdevolle Haltung angenommen und räusperte sich.
Just bevor sie anheben wollte zu sprechen, hielt ihre Tante ihr einen dampfenden Becher hin, von dem ein verführerischer Duft aufstieg. „Hier, Nichte, probier das! Eine Spezialität unseres Kochs, ein herausragender Mutmacher und Trostspender.“ Honig drang Elfwid in die Nase, Kräuter, ein Hauch von Wein, alles in allem betörend, wenngleich der Geschmack etwas hinter dem Duft abfiel, füllte er ihr Inneres doch mit wohliger Wärme.
„Ich danke euch. Das ist gut“, brachte sie leise hervor und nahm einen weiteren Schluck von dem Gebräu, bevor sie weiter fortfuhr. „Ich habe eine Liste mit den dringendsten Bedarfen in meinem Gepäck. Mir ist bewusst, dass ich euch viel zumute, aber ich will nicht mehr von euch erbitten, als ihr entbehren könnt. Und geschenkt soll es nicht sein“, richtete sie sich an Madelgard. „Kressing wird es vergelten. Das verspreche ich. Auch wenn ich noch nicht sagen kann, wann und wie.“
Während Immberta den Kopf wog, als wolle sie ablehnen, stieß Madelgard einen Laut aus, der Zufriedenheit ausdrückte. Sie brummte und schob dann ein leises: „Lass uns erstmal sehen, wie wir helfen können, der Rest wird sich finden, eh? Wir sind keine Krämerseelen.“
Unvermutet stahl sich ein schelmisches Lächeln in Elfwids vom Gefühlsausbruch noch immer leicht gerötetes Gesicht. „Unsere Leute sind nicht besonders anspruchsvoll, müsst ihr wissen. Die meisten sind alte Soldaten wie Vater und wenn man die so reden hört, dann haben sie sich in ihren Winterfeldlagern ohnehin fast ausschließlich von Schuhsohlen und Baumrinde ernähren müssen. Also wenn ihr noch alte Stiefel herumliegen habt, nehme ich die auch.“
Yanrad lachte und auch auf dem Antlitz der Junkerin ließ sich die Andeutung eines Lächelns erahnen. Immberta derweil war die Ironie des Augenblicks entgangen und sie schüttelte entrüstet den Kopf. „Also nein, das geht doch nicht“, erklärte sie.
„Ah, Tante, das war nicht ernst gemeint“, kam es sanft von Yanrad.
„Wie ...?“, die Brauen über den Augen zusammengezogen blickte die alte Ritterin verwirrt hin und her, „… nicht ernst gemeint?“ Dann fiel ihr das Lächeln Elfwids auf, sie entspannte sich etwas, wirkte aber noch immer betroffen und auf das Problem konzentriert.
„Madelgard“, wandte sie sich voller Ernst an ihre Tochter, „gerade kam mir ein Gedanke. Diese letzte Fuhre Bauholz, du weißt, die wir lieber noch ein paar Monde ruhen lassen wollten, um sie im nächsten Jahr besser auf den Markt bringen zu können.“
Die Junkerin nickte und krauste wachsam die Stirn.
„Wir könnten sie jetzt nach Baliho bringen und verkaufen! Elfwid könnte den Wagen begleiten, dann wäre zugleich für seinen Schutz gesorgt. Was er einbringt können wir dann nutzen, um einzukaufen, was Notwendig ist, vielleicht sogar mehr als das. Das würde unsere Vorräte schonen und Herrn ni Branghain helfen.“
„Hrmmmm“, brummte Madelgard mit weiterhin gerunzelter Stirn. Sie umfasste ihr Kinn mit einer Hand und schien nachzudenken. „Möglich, wenngleich das ein Loch in unsere Planung reißt.“
„Ai“, bestätigte Immberta, „aber keines, das wir nicht füllen können.“ Die Junkerin nickte verhalten. „Wir schauen uns das Holz morgen an, einverstanden?“ Nun war es an Immberta zu nicken. „Mit Elfwid. Sie soll Traunwart kennen lernen!“
„Das wohl“, bestätigte Yanrad und die drei Nimerfros blickten Elfwid fragend an.
Die hatte dem Austausch schweigend und mit zunehmendem Staunen gelauscht, während ihr langsam bewusst wurde, dass sie hier wirklich Unterstützung erhalten würde, echte und handfeste Unterstützung. Insbesondere ihre Großmutter schien es ernst damit zu meinen. Elfwid fühlte sich erleichtert, wie schon seit Tagen nicht mehr.
„Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll“, erwiderte sie schließlich. „Auf dem Weg hierher war mir nicht klar, was ich zu erwarten hatte. Ich hatte so sehr gehofft und gleichzeitig war mir doch bange zumute.“ Sie hielt inne und sah jeden ihrer Verwandten kurz nacheinander an. „Habt vielen Dank. Mit Freude würde ich Traunwart kennenlernen. Irgendwie erscheint mir vieles hier vertraut und dann wieder nicht. Es fühlt sich ganz seltsam an, aber nicht auf eine schlechte Weise. Ich kann es nicht gut beschreiben. Und auch über meine Mutter würde ich gerne mehr erfahren. Nur wenn das recht ist, meine ich. Vater hat sich immer schwer getan von ihr zu erzählen. Ich glaube, es schmerzt ihn noch immer zu sehr, selbst nach der langen Zeit.“
Ihre Großmutter nickte sacht. „Aber natürlich ist das recht, Kind. Du bist hier wirklich willkommen. Nach all den Jahren brennt die Lücke, die der Tod deiner Mutter in unsere Herzen gerissen hat, zwar noch immer, aber nicht mehr gar so heiß, so verzehrend, wie damals. Unterdessen finde ich“, sie blickte hinüber zu ihrer Tochter, „finden wir Trost darin uns an deine Mutter zu erinnern. Wenn wir diesen Trost nun gemeinsam vorantreiben können und uns dies wieder zueinander bringt, dann ist das ganz sicher in deiner Mutter Sinne.“
Yanrad ließ die Worte sacken, dann drehte er sich Elfwid mit einem Lächeln zu. „Sag’ an, Nichte, wie steht’s um deine firungefälligen Tugenden? Ich frage, weil der anbrechende Winter von jeher eine gute Zeit für die Pirsch ist und der Kaiserforst sich gerade im Galakleid zeigt. Selbst, wenn der Grimme uns keinen Jagderfolg schenkt, ist ein Streifzug durch den Wald allemal alle Mühen wert. Vielleicht magst du dich mir die Tage anschließen?“
„Sehr gerne“, erwiderte Elfwid nach kurzem Zögern. „Auch wenn ich wohl keine allzu große Hilfe sein werde, fürchte ich. Ich kann zwar gerade noch die Fährte eines Wolfs von der einer Wildsau unterscheiden und wie man sich einigermaßen lautlos im Unterholz bewegt, weiß ich auch, aber wenn ihr hier in Traunwart das Wild nicht hoch zu Ross im Sturmritt mit der Lanze erlegt, bin ich leider aufgeschmissen.“
Mit einem verlegenen Lächeln hob sie entschuldigend ihre Schultern.
„Für den Umgang mit Speer und Bogen konnte ich nie die rechte Begeisterung aufbringen und Vater fehlt auch jedes Talent für das Waidwerk. Überhaupt ist es in Kressing nicht weit her damit. Einzig Wilfing, unser Köhler, versteht sich noch ein wenig aufs Fallenstellen und liefert ab und zu mal einen Hasen ab. Und das, wo wir sogar einen alten aufgegebenen Firunschrein im Ort haben.“
Alle drei Nimerfros hörten aufmerksam zu. Madelgard konnte sich eines angedeuteten Lächelns nicht erwehren, als Elfwid von einem Sturmritt auf das Wild sprach, doch dieses verbarg sie schnell wieder.
Yanrad derweil nickte mit ernstem Gesicht und tauschte einen Blick mit seiner Tante. „Nun“, hub er dann leise an, „was nicht ist, kann werden. Immerhin“, er blickte der Kriegerin nun fest in die Augen, „ist dein Vater nun in den Adel erhoben. Ohne ihn zu kennen, vermute ich dennoch, dass ihm daran gelegen ist, diesen Stand zu festigen. Den meisten Vätern geht es so“, ergänzte er und sein Blick verlor kurz den Fokus.
Dann blickte er sie wieder an und lächelte verhalten. „Und das firungefällig Waidwerk geziemt sich für Angehörige unseres Standes. Es wird dir also sicher nicht schaden, wenn ich dich ein wenig unterweise.“
„Allzumal die Jagd deine ganze Leidenschaft ist, eh, Vetter?“, konnte Madelgard nicht umhin ihn zu necken.
„Allzumal!“ bestätigte Yanrad. „Wer teilt nicht gerne, was er liebt, eh?“, gab er zurück. „Immerhin, liebe Base, liegt das Waidwerk uns im Blute. Wir waren immer Jäger und ich schätze, das wird auch so bleiben.“
„Ai“, bestätigte Immberta, „ich halte es für eine gute Idee, Elfwid mit auf die Jagd zu nehmen. Es mag in ihr eine neue Leidenschaft erwecken und droben, in Kressing, wird es von Nutzen sein.“
„Das wird es“, bestätigte Yanrad, „auf die eine oder die andere Weise.“
Mit dieser Andeutung verloren die vier sich alsbald in Betrachtungen, wobei die firunischen Tugenden hilfreich waren und Elfwid erschloss sich bald, dass Yanrad wirklich für das Waidwerk, vor allem aber für die Weidener Wildnis brannte. Derweil blieb Madelgard bei diesem Thema spürbar zurückhaltend und lebte immer dann auf, wenn Elfwid etwas aus ihren Akadmemietagen oder ihrem aktuellen Dienst erzählte. Immberta hingegen erzählte mit vorgerückter Stunde von ihren Eltern und deren Familien, die schon seit Generationen dem Werk des Alten vom Berge verbunden waren.
Bei diesen Erzählungen schwiegen die Jüngeren und obgleich Madelgard und Yanrad diese Geschichten sicher bestens kannten, lauschten sie ebenso aufmerksam, wie Elfwid, geizten nicht mit Rufen des Erstaunens, des Ärgers und der Zustimmung, denn immerhin ging es um die Gründerin ihrer Familie.
***
Später lag Elfwid in ihrer Kammer im Bett und starrte an die im Dunkeln liegende Zimmerdecke über ihr. Ihre Gedanken ließen sie nicht zur Ruhe kommen, obwohl sie eigentlich völlig erschöpft war. Das Wechselbad der Gefühle, das sie heute durchgemacht hatte, war anstrengender gewesen als ein Vierzig Meilen Gewaltmarsch durchs Gebirge. Nach der aufwühlenden Zusammenkunft im Kaminzimmer, hatte es ein schmackhaftes Abendmahl im Rittersaal gegeben und das Gespräch hatte einen unverfänglicheren Verlauf genommen. Selbst Madelgard war dabei etwas aufgetaut und hatte sich ihrer Nichte ein wenig geöffnet. Elfwid hatte dabei von ihrer Zeit auf der Akademie erzählt und von ihrem Leben in Kressing. Und im Gegenzug hatte sie mehr über ihre Verwandschaft erfahren, von Onkeln und Basen, deren Namen sie noch nie gehört hatte, und von den Gegebenheiten in Traunwart und Sichelgau.
Und dann, mit einem Lächeln auf den Lippen, fielen ihr doch die Augen zu.
***
Holzbeschau
Boron 1043 Bosparans Fall – Kaiserlich Sichelgau, Gut Traunwart
Der Tag auf Traunwart begann früh und betriebsam. Der junge Diener vom Vortag stand parat, um Elfwid zum Morgenmahl zu geleiten und ihr alles zu bringen, was sie benötigte. Die „beiden Herrinnen“ wären schon draußen und ließen Elfwid bitten, zu ihnen zu stoßen, wenn sie so weit war.
Das Morgenmahl war einfach, aber nahrhaft. Es gab einen warmen Brei aus geschrotetem Getreide und Bucheckern, den sie nach eigenem Gusto mit dünnflüssigem, dunklem Honig süßen konnte. Dazu gab es Kräutertee oder Dünnbier, ganz wie sie es wollte. Ein paar kleine Äpfel und Birnen lagen mit bröckeligem Käse und einem schmalen Restkanten geräuchertem Schinken auf einem Brett und in einem Korb fanden sich noch wenige, knorrige Brotstücke.
Nachdem sie sich gestärkt hatte, trat sie vor das Gutshaus. Man hatte ihr gesagt, dass ihre Verwandten sicher in der Sägemühle wären und ihr den kurzen Weg dorthin beschrieben. Überall wurde eifrig gewerkelt und doch nahm sich beinahe jeder Traunwarter, den sie passierte, die Zeit, sie aufmerksam zu mustern, ehe sie oder er ihr einen guten, göttergesegneten Morgen wünschte.
Kaum kam das Sägewerk in Blick, erkannte Elfwid auch schon die beiden Nimerfros, die sich mit einer kurz- aber breit gewachsenen Endvierzigerin über ein speckiges Lederstück beugten und angeregt diskutierten.
Madelgard erkannte ihre Nichte und grüßte sie knapp. „Gut, dass du kommst, Elfwid, das hier ist Alfmai Köhlergrund, die Meisterin die die Säge leitet“, womit wohl das Sägewerk gemeint war, denn Madelgard deutete darauf.“ Die Vorgestellte musterte den Neuankömmling aufmerksam und unverhohlen, derweil Immberta ihrer Enkelin ein freundliches Lächeln schenkte.
„Guten Morgen“, erwiderte die Angesprochene in die Runde und lächelte leicht verlegen, „ich fürchte, der gestrige Tag war doch anstrengender als gedacht, so dass ich wohl ein wenig verschlafen habe.“
Ihre Tante winkte ab und ging gar nicht weiter darauf ein. „Wir haben uns die Fuhre angesehen, von der Mutter gestern sprach“, die Ritterin deutete auf einen nach vorne offenen Schuppen, in dem ein ansehnlicher Stapel entrindeter Baumstämme lag. Er wurde flankiert von vier weiteren Schuppen, von denen drei leer waren.
„Ai“, schnarrte die Meisterin und folgte Elfwids Blick. Welche Gefühle sie dabei hegte, war schwer zu erkennen. „wollten wir im kommenden Frühjahr zusägen und auf den Markt bringen. Nu‘ bringen wir‘s halt so nach Baliho, eh?“
„Wir werden euren Wagen benötigen und einen von unseren. So wie ich deine Begleiter einschätze, seid ihr drei genug des Geleitschutzes?“, hakte Madelgard gewohnt pragmatisch nach. „Wir schicken aber unsren Kutscher und sein Lehrmädel mit. Führen beide eine kundige Peitsche und wissen vor allem, wohin das Holz kommt. Oder denkst du, ein weiterer Waffenknecht wäre von Vorteil? Der Kaiserforst kann recht wild sein, aber wenn es in die Vana geht, nun, dann ist es in der Regel sicherer. In Bollinger Heide und Perainenstein geht es wieder deutlich geruhsamer zu, seit die Wehrheimer ihre Lande etwas besser im Griff haben.“
„Oh, ich denke wir drei werden als Bedeckung genügen, auch wenn wir die Gegend nicht so gut kennen. Aber wir haben ja auch hergefunden und wenn euer Kutscher uns begleitet umso besser. Außerdem will ich eure Unterstützung nicht über die Maßen strapazieren“, entgegnete Elfwid. „Das hier“, sie zeigte auf das gestapelte Holz im Lager, „ist viel mehr als ich erwarten konnte.“ Ihr ernster Blick ging ein paarmal zwischen Madelgard und Immberta hin und her. „Ich muss mich nochmal für Eure Hilfe bedanken. Wie gesagt, wir werden uns dafür erkenntlich zeigen, sobald wir können.“
Die Reaktionen auf diese Worte fielen recht unterschiedlich aus Madelgard fasste ihre Nichte fest ins Auge und deutete ein Nicken, das im Ansatz irgendwie anerkennend wirkte. Alfmai hingegen nickte energischer und deutlich zufrieden mit dieser Aussicht. Nur ihre Großmutter hob abwehrend eine Hand. „Das werden wir sehen, Kind, kommt erstmal an, da oben und auf die Füße. Alles andere kann warten.“
„Wisst ihr“, fuhr die junge Kriegerin nach einer kurzen Pause fort, „in Kressing wird die Forstwirtschaft auf Dauer ebenfalls die Haupteinnahmequelle sein, ähnlich wie hier, denke ich. So war es wohl auch früher. Zurzeit ist der Holzschlag bei uns allerdings noch sehr mühselig und das meiste, was wir über den Sommer reingeholt haben, brauchten wir selber für Aufbau und Ausbesserung. “
Sie sah hinüber zu dem Sägewerk. „Wir haben sogar sowas. Stammt noch aus der Zeit vor der Wüstenei. Nur ist die ganze Mechanik nicht mehr in Ordnung. Alles verrostet und marode und teilweise auseinandergefallen. Außerdem wird das Gewerk bei uns nicht durch einen Fluss angetrieben - den wir gar nicht haben - sondern von Zugpferden. Nennt sich Göpel. Ist recht kompliziert und wir haben das bisher noch nicht zum Laufen bekommen, denn so richtig kennt sich bei uns niemand mit sowas aus. Die Vögtin hat zwar zugesagt, sie wolle beizeiten in Zollhaus deswegen um Hilfe ersuchen, weil es dort wohl mehrerer solcherart Sägemühlen hat, aber wer weiß wann das sein wird.“
Sie wandte sich jetzt an Alfmai. „Meisterin Köhlergrund, vielleicht mögt Ihr mir später einmal die Mechanik Eurer Säge zeigen und das eine oder andere erklären. Nur wenn es recht ist, meine ich, und es nicht zu viel Eurer Zeit beansprucht. Es kann bestimmt nicht schaden, wenn ich von einer richtigen Expertin in solchen Dingen eine kleine Unterweisung erhalte.“
Überrascht von dieser Ansprache musterte die Meisterin die Kriegerin erneut. Dann nickte sie. „Sicher“, brummte sie, während ihr Blick hinüber zum Sägewerk wanderte, das bereits in Betrieb war, „einen Blick könnt Ihr wohl drauf werfen, Hohe Dame, und ich werd euch auch gern den einen oder anderen Einblick gewähren.“ Nun schniefte sie. „S’is nur so, das ist jetzt nicht so, dass man das von einmal drauf gucken und drüber reden … nunja, beherrscht. Allzumal ein Göpel schon eine eigene Sache ist. Aber die Grundlagen, die können wir uns gern ansehen.“
Sie kratzte sich am Hinterkopf, während sie einen nachdenklichen Gesichtsausdruck zur Schau trug. Dann fokussierte sie sich wieder auf Elfwid und ihre Augen hellten sich auf. „Sagt mal, kommt Ihr durch Salthel auf Eurem Heimweg? Weil, wenn ja, dann geht doch mal in den Ingerimmtempel! Das ist der größte in Weiden und vielleicht wissen die Geweihten von einem Müller auf der Walz, oder einem anderen Handwerker, der Euch helfen kann. Ich schätze, die würden Euch sicher weiterhelfen und ein Wandergeselle ist im Zweifel froh über eine Herausforderung. Ich wäre damals jedenfalls sicher sofort losmarschiert, mit der Aussicht, ein altes Werk wieder in Gang zu bringen.“
Elfwid nickte ernst. „Das ist ein guter Rat. So kurz vor dem Winter mag ein solcher Geselle womöglich dankbar sein für eine sichere Unterkunft und eine Aufgabe. Ich werde sehen, was sich machen lässt. Abgesehen davon, erwarte ich nicht, dass Ihr aus mir in der Kürze der Zeit eine fähige Holzwerkerin macht. Aber vielleicht schnappe ich ja etwas auf, was einmal nützlich sein mag.“
„Ai“, nickte die Meisterin und musterte die Kriegerin aufmerksam, „seht nicht so aus, als wärt Ihr auf den Kopf gefallen“, fügte sie mit einem spitzbübischen Lächeln an. „Muss jetzt eh gleich was einstellen. Kommt einfach mit, dann erkläre ich Euch das eine oder andere. Wie Ihr sagt, vielleicht ist am Ende was Nützliches dabei!“
Die beiden Nimerfros waren der Unterhaltung aufmerksam gefolgt und begriffen Alfmais Worte wohl als Schlußwort. Keine der beiden wollte sich indessen anschließen. Immberta zog es zurück ins Haus und vermutlich zu einer wärmenden Tasse Tee. Madelgard hingegen hieß ihre Knappin die beiden Rösser zu satteln. Sie wollte in den Wald reiten und sich ansehen, wo sie in den kommenden beiden Monden zusätzliches Holz einschlagen konnten. „Muss ja ausgeglichen werden“, nuschelte sie im Weggehen.
***
Ans Eingemachte
Boron 1043 Bosparans Fall – Kaiserlich Sichelgau, Gut Traunwart
Fast zwei Stunden lang hatte Elfwid der Köhlergund bei ihrer Arbeit über die Schulter geschaut und nun schwirrte ihr der Kopf von Begriffen wie ‚Zahnradübersetzung‘, ‚Klinkenvorschub‘ und ‚Gatterstelze‘. Dennoch glaubte sie, ein paar der Grundlagen, wie so ein Sägewerk funktionierte, zumindest oberflächlich verstanden zu haben und sie nahm sich vor, damit zu Hause vor ihrem Vater und den anderen alten Stieselköpfen ein wenig auf den Putz zu hauen. Letztlich hatte ihr die Lehrstunde aber auch gezeigt, dass sie den Göpel daheim niemals ohne fremde Hilfe zum Laufen bringen würden. Schließlich verabschiedete sie sich von der Meisterin, bedankte sich noch einmal für die Unterweisung und versicherte ihr ihre Hochachtung.
Da nach Verlassen der Sägemühle niemand zur Stelle war, der sich ihrer annahm, schlenderte sie kurzerhand allein zurück zum Gutshaus und nahm sich dabei Zeit, die Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen. Abermals stieg in ihr das Gefühl der Vertrautheit auf und so verlor sie sich für eine kurze Weile in vagen Erinnerungen, ein versonnenes Lächeln auf den Lippen. Letztlich mündeten ihre Gedanken jedoch in der Erkenntnis, dass sie hier doch fremd war, dass sie von hier weggeschickt worden war, dass man sie hier nicht gewollt hatte - und ihr Lächeln erstarb. Sie geriet ins Grübeln. Ihre Großmutter hatte ihre damalige Entscheidung offenbar mittlerweile bereut. Ihre Zugewandtheit ihr gegenüber schien ehrlich gemeint – ihre selbstlose Unterstützung war wohl Beweis genug dafür - und Elfwid fiel es schwer, ihren tiefsitzenden Groll angesichts dessen aufrechtzuhalten. Doch sie hatte Fragen.
Als sie schließlich am Gutshaus ankam wurde sie bereits von Firutin erwartet. „Frau Elfwid, ich soll Euch ausrichten, dass Wohlgeboren Euch im Kaminzimmer erwartet, wenn Ihr mögt.“
Elfwid nickte und ließ den jungen Diener vorangehen. Vielleicht würde es jetzt zu Antworten kommen.
Kurz darauf saß sie erneut auf der gepolsterten Bank vor dem heimeligen Kaminfeuer neben Immberta, die sie dort lächelnd empfangen hatte. Firutin war sogleich aufgetragen worden, frischen Tee zu bringen und während sie nun auf seine Rückkehr warteten, ergriff die Altjunkerin nach einem Moment des Schweigens ein wenig unbeholfen das Wort: „Hat Alfmai dir denn weiterhelfen können mit der Säge?“
„Oh ja“, entgegnete ihre Enkelin, „sie scheint wirklich fähig zu sein und war sehr freundlich, mir alles in einfachen Worten zu erklären. Es war auf jeden Fall sehr lehrreich.“
„Das freut mich.“
Wieder Schweigen. Flüchtiger Augenkontakt. Unsicheres Lächeln.
„Ich möchte mich noch einmal für eure Hilfsbereitschaft bedanken“, brachte Elfwid schließlich hervor, „ich weiß nicht, was ich sonst getan hätte. Ich hoffe, das belastet Traunwart nicht allzu sehr.“ Nach einem kurzen Zögern hakte sie nach: „Versteh mich bitte nicht falsch, aber mir stellt sich die Frage: Warum?“ Die junge Kriegerin schluckte. „Ich weiß nicht, mit was ich gerechnet habe, als ich mich hierher aufmachte, aber nicht mit solch großzügiger Unterstützung, denke ich. Letztendlich wurde ich ja damals …, nun, also ihr habt mich doch …“
In dem Augenblick platzte Firutin wieder herein, stellte zwei Becher dampfenden Kräutertees auf dem Beistelltisch ab und sah Immberta fragend an.
„Es ist gut. Du kannst gehen“, ließ die ihn wissen, um sich dann, nachdem der Junge sich zurückgezogen hatte, mit einem leisen Seufzen an Elfwid zu wenden.
„… weggeschickt, wolltest du wohl sagen“, nahm Immberta den Faden wieder auf. Es zuckte in ihrem Gesicht, ihre Augen irrlichterten umher. „Weggegeben“, ergänzte sie, mit leiser, brüchiger Stimme und sog zitternd den Atem ein. Dann fasste sie sich und zwang sich, Elfwid in die Augen zu sehen.
„Ja, das habe ich … nicht wir, Elfwid, ich alleine habe das getan. Und in den letzten Jahren verging kein Tag, an dem ich es nicht bereut habe. Bitter bereut habe. Darum auch diese Großzügigkeit.“ Ein Mundwinkel zuckte, doch die alternde Ritterin wahrte die Fassung, wandte den Blick jetzt nicht mehr ab. „Genau betrachtet ist es das nicht. Es ist, was dir zusteht, als einer Tochter dieses Hauses.“
Die Nimerfro verlagerte ihr Gewicht, ein kurzes Stirnrunzeln, bevor sie fortfuhr. „Du hast jedes Recht, mich zu fragen und ich werde dir antworten.“
Die Pein, die ihre Großmutter durchlitt, ließ Elfwid durchaus nicht kalt. Sie fühlte mit ihr. Doch auch in ihr ging es drunter und drüber. Blutsbande, Vermächtnis, Schuld. Sie presste ihre Lippen aufeinander, schloss ihre Augen, öffnete sie wieder.
„Warum? Warum hast du mich fortgeschickt?“ Die leisen Worte kamen wie von selbst, ohne bewusste Entscheidung, sie auszusprechen. Sie spürte, wie sich Tränen anbahnten, riss sich aber zusammen, hielt sie zurück. „Lag es daran, dass meine Eltern nicht durch Ehe verbunden waren? Vater nicht von Adel? Lag es an mir? Dem Kind, das die die Familienehre befleckte?“
Immberta blickte Elfwid an, öffnete den Mund, doch kein Laut drang daraus hervor. Sie schloss ihn wieder, räusperte sich und nun lösten sich ihre Augen wieder, zuckten zu Boden, wo sie verharrten, bis sie geschlossen wurden. „Ach Kind, wie kann ich dir erklären, was ich selbst Jahre nicht verstanden habe“, erwiderte sie ebenso leise.
Sie seufzte und blickte wieder auf. „Es waren schwierige Zeiten, damals. Als deine Mutter dem Ruf der Herzogin folgte und sich mutig dem vermaledeiten Schwarzpelz entgegenstellte, hatten wir uns im Streit getrennt. Ich war unzufrieden, dass sie noch immer ohne Traviabund lebte. Ihr war das … nun … ich tue mich heute schwer zu beurteilen, wie Wolftrude die Situation einschätzte. Sie war bisweilen ein rechter Trotzkopf, deine Mutter, und stur wie ein Ochse.“
Ein wehmütiges Lächeln huschte über das Antlitz der alten Ritterin. „Damals dachte ich, ihr wäre es egal. Gleichgültig, dass sie es mir und damit ihrer Familie damit nur noch schwerer machte. Inzwischen bin ich mir dahingehend nicht mehr sicher. Für sie war es auch schwer, vor allem mit all den Vorwürfen und unserer Enttäuschung konfrontiert zu sein. Als uns dann die Nachricht erreichte, dass sie gefallen war“, Tränen lösten sich aus den Augen ihrer Großmutter und rannen ihr langsam über die Wangen, „da war ich nicht auf den Schmerz vorbereitet, den diese Kunde, dieser Verlust, in mir auslöste. Und dann“, ungeduldig wischt sie die Tränen beiseite und blickte Elfwid wieder an, „warst da du, eine Vierjährige, die noch gar nicht recht verstand, was der Tod eigentlich war. Ein Kind, das seiner Mutter glich, beinahe wie ein Ei dem anderen. Immer, wenn ich dich sah, dein Lachen hörte, der Schalk in deinen Augen blitzen sah, war das Trudi, meine kleine Trudi, vor so vielen Jahren und es war, als würde die Trauer nie heilen, als würde jeder Tag die Todesbotschaft aufs Neue bringen. Die Wahrheit ist“, sie hob das Kinn in einer Geste, die vielleicht Stolz ausgedrückt hätte, wenn in Immbertas Augen nicht ein Ausdruck grenzenloser Verachtung gelegen hätte, „ich habe es nicht ausgehalten. Ich war feige, konnte es eher ertragen, dich wegzuschicken, zu deinem Vater, als dich hier um mich zu haben. Zumindest dachte ich das damals. Ab davon redete ich mir ein, dass ein uneheliches Kind schlecht für den Ruf der Familie war, der ohnehin nicht gut war. Man kann sich selbst betrügen, wenn man es nur eifrig genug versucht. Es schien mir der vernünftigste Weg, für alle Parteien, auch für deinen Vater.“
Tief atmete sie ein und presste ihre Lippen aufeinander. „Als ich endlich den Mut hatte, mir selbst einzugestehen, was für eine erbärmliche Handlungsweise das gewesen war, war es zu spät und du wolltest, nichts mehr von mir wissen. Verständlicherweise. Ich kann mir selbst nicht verzeihen, was ich damals getan habe.“
Nachdem ihre Großmutter geendet hatte sah Elfwid sie mit seltsam ausdrucksloser Miene an. Ihr leerer Blick schien durch Immberta hindurchzugehen. Keine Spur von Tränen, kein Zeichen von Trauer, Wut oder sonsteiner Emotion. Es war, als fühlte sie … nichts.
„Ich verstehe“, sagte sie tonlos, erhob sich langsam und verharrte einen Moment, während ihr Blick abermals zu dem Wandteppich über dem Kamin wanderte. „Ich weiß nicht, ob ich …“
Sie senkte den Kopf und wandte sich ab. „Ich weiß es nicht.“ Ihre Stimme war wenig mehr als ein Flüstern. Dann verließ sie den Raum ohne ein weiteres Wort. Das erstickte Schluchzen hinter sich hörte sie kaum, alles in ihr schien taub.
***
Das Erste, was sie wieder bewusst wahrnahm waren die Handvoll Bediensteter, die auf dem Hof des Guts ihrer Arbeit nachgingen und dabei leise miteinander tuschelten. Die Knechte und Mägde beäugten sie mit einer Mischung aus Sorge und Neugier, trauten sich aber offensichtlich nicht, die abwesend wirkende Kriegerin anzusprechen. Elfwid hatte keine Erinnerung daran, wie sie hierhergekommen war oder wie lange sie schon dort vor dem Haupthaus stand. Sie straffte sich, sah sich um und schritt schließlich, mangels eines besseren Plans und ohne das Traunwarter Gesinde weiter zu beachten, entschlossen auf das Stallgebäude zu.
Im Inneren des Stalls, als sie sich vor den neugierigen Blicken einigermaßen sicher fühlte, atmete sie zunächst einmal tief ein und wieder aus und schlug dann, einen unterdrückten Zorneslaut auf den Lippen, mit voller Wucht ihre Faust gegen einen Stützbalken, so dass eines der Pferde im benachbarten Pferch erschrocken einen Satz zur Seite machte.
Elfwid seufzte. „Ach, entschuldige“, murmelte sie. „Ich will dir doch nichts Böses“. Sie nahm eine Handvoll getrockneten Hafer aus einem Futtereimer und reichte es dem Ross, einem kräftigen Teshkaler, am ausgestreckten Arm über die brusthohe Trennwand vorsichtig entgegen. Angesichts der außerplanmäßigen Mahlzeit schien der Schreck schnell vergessen und so knibbelte die weiche Pferdeschnauze bald kitzelnd über ihre Handinnenfläche. Die sanft-drängende Berührung entfaltete sogleich eine beruhigende Wirkung und Elfwid merkte, wie langsam etwas von dem angestauten Druck von ihr abfiel.
„Alles jut?“
Ihr Kopf ruckte herum. Im Zwielicht der gegenüberliegenden Stallabteilung war eine untersetzte Gestalt aufgetaucht und schien sie mit schräggelegtem Kopf zu mustern. Es war Julenka. Erst jetzt erkannte Elfwid, dass dort die Kressinger Pferde untergestellt waren. Die Fuhrfrau musste wohl die Hufe oder die Fesseln eines der Tiere in Augenschein genommen haben und hatte daher bis eben hinter der Trennwand außer Sicht am Boden gehockt.
„Es ist alles in Ordnung“, entgegnete Elfwid als sie nach einem Herzschlag ihre Fassung wiedergefunden hatte und tätschelte dem Teshkaler noch einmal den Hals, bevor sie sich Julenka ganz zuwandte. Deren skeptischer Gesichtsausdruck zeigte zwar, dass sie der jüngeren Frau nicht glaubte. Dennoch nickte sie nur und beugte sich dann wieder hinunter, um ungerührt in ihrem Tun fortzufahren.
Elfwid ging hinüber und lehnte sich über das Gatter. „Wie geht es den Tieren?“
Julenka, die tatsächlich dabei war, den rechten Vorderhuf eines der Zugpferde mit einem Auskratzer zu bearbeiteten, schnalzte mit der Zunge. „Haben die Herreise janz ordentlich überstanden“, erwiderte sie ohne aufzuschauen. „Ein, zwei Tage Ruhe werden ihnen aber jut tun. Vor allem, wenn die Karre auf‘m Rückweg voll beladen ist.“
„Das wird sie wohl nicht sein“, meinte Elfwid nach einem Moment. „Und wir werden auch nicht länger bleiben. Machen die Pferde das mit, wenn wir schon heute wieder aufbrechen?“
Julenka richtete sich auf und sah sie stirnrunzelnd an. „Denke schon. Aber ich dachte, wir nehmen noch ne Ladung Holz auf. Haben die Traunwarter Knechte jedenfalls verzählt.“
Elfwid schüttelte langsam den Kopf, den Blick zu Boden gesenkt.
„Haben‘s sich die hohen Herrschaften doch anders überlegt?“, wollte ihre Begleiterin wissen und trat an sie heran.
Erneutes Kopfschütteln. „Es ist … nicht so einfach“, rang Elfwid sich eine heisere Antwort ab.
„Nicht so einfach, wa?“, Julenka lehnte sich von der gegenüberliegenden Seite ebenfalls über das Gatter, so dass beide Frauen jetzt Schulter an Schulter aneinander vorbei ins Leere starrten. „Mischpoche“, schob sie vielsagend hinterher und machte ein schnaubendes Geräusch.
Es vergingen ein paar Augenblicke des Schweigens bevor Elfwid weitersprach: „Es ist wegen meiner Großmutter, weißt du. Sie hat mich weggegeben damals, da war ich vier Jahre alt. … Weil ich sie zu sehr an ihre tote Tochter erinnert habe.“
Julenka brummte.
„Ich sei meiner Mutter so ähnlich gewesen, sagt sie.“
Julenka nickte.
„Hat mich aus allem herausgerissen, was ich kannte, hat mir das zu Hause genommen und mich in die Fremde geschickt, weil SIE meinen Anblick nicht ertragen konnte.“
Julenka brummte und nickte.
„Und jetzt soll ich ihr das einfach verzeihen und so tun, als wäre alles in bester Ordnung. Für eine Wagenladung voll Holz. Damit wir in Kressing über den Winter kommen.“
„Hat se das etwa verlangt?“, hakte Julenka ein.
„Nein, nicht direkt“, antwortete Elfwid. „Aber darauf läuft es doch hinaus.“
„Hm, hm. Tut’s ihr denn ehrlich leid, was meinste?“
„Ich … glaube schon, ja.“
Wieder Nicken und Brummen und Schweigen.
„Ich hab meine Familie eine Ewigkeit nicht mehr gesehen“, ergriff Julenka nach einer Weile wieder das Wort. „Bin mit zwölf Jahren aus Gorschnitz abgehauen. Du weißt ja, geflohen aus Leibeigenschaft. Deshalb werde ich nie wieder zurückkehren können.“ In ihrer Stimme schwang Bedauern mit. „Werde wohl nie erfahren, was aus meinen Verwandten geworden ist, nie wieder mit ihnen sprechen oder einen von ihnen in die Arme schließen.“
Elfwid drehte den Kopf und schaute die Fuhrfrau von der Seite an. „Du hast mir doch mal erzählt, dass du heilfroh bist, von da weg zu sein, weil deine Mutter eine Säuferin war, dein Vater ein Schläger und deine Geschwister missgünstige Scheusale.“
Julenka grinste sie mit vom Kautabak bräunlichen Zähnen an. „Hab ich das?“ Sie kratzte sich am Kopf. „Nu ja, stimmt schon.“ Dann wurde ihre Miene unvermittelt wieder ernst. „Ist deine Großmutter auch so?“
Ein Anflug von Irritation huschte über Elfwids Züge. „Nein“, räumte sie zögerlich ein.
„Na denn isses vielleicht doch ganz einfach“, gab die Ältere von sich, bevor sie sich abwandte und sich – das Gespräch schien für sie beendet zu sein - wieder der Pferdepflege widmete.
***
Wenig später kehrte Elfwid wieder in das Kaminzimmer zurück und als sie den Raum mit sachten Schritten betrat, fand sie ihre Großmutter vor, wo sie sie zurückgelassen hatte. Die Altjunkerin von Traunwart saß gebeugt da, hatte das Gesicht in den Händen geborgen und schien das Geräusch der sich öffnenden Tür gar nicht wahrzunehmen. Der Anblick versetzte Elfwids Herz einen Stich.
„Ich bin es“, sagte sie leise und erst da hob Immberta den Kopf um ihre Enkelin aus geröteten Augen unsicher anzusehen. Überraschung, Verzweiflung und Hoffnung rangen in ihrem gramen Antlitz um die Oberhand. Sie öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus.
Elfwid kam näher, setzte sich neben sie und nahm behutsam ihre Hände in die ihren, bevor sie mit heiserer Stimme zu sprechen anhob:
„Es tut mir leid, aber ich habe etwas Zeit gebraucht. Das ist alles … sehr viel. Und mit so einer … Gefühlsduselei hab ich nicht viel Erfahrung.“ Sie schluckte. „Weißt du, es fällt mir schwer, all das zu verstehen und ich bin mir nicht sicher, ob ich jemals wirklich verstehen werde, warum du mich weggeschickt hast damals. Aber was ich jetzt verstehe ist, dass es dich reut und dass du es nicht aus böser Absicht getan hast.“ Eine Träne rollte über ihre Wange. „Und ich will nicht, dass es dir noch weiter schlecht geht deswegen, denn ich denke, du hast wahrlich genug gelitten. Meine Mutter kann und will ich nicht ersetzen, aber, wenn du magst …“, sie lächelte, während weitere Tränen flossen, „…wäre ich gerne wieder dein Elfchen.“
Immberta war Elfwids Worten nachgerade atemlos gefolgt. Bei den beiden letzten überlief sie ein Schauer, sie blinzelte, schluckte, schnappte nach Luft und verlor das so augenfällig Ringen mit ihrer Selbstbeherrschung dennoch. Ihr Gesicht verzog sich, als litte die alte Frau Schmerzen und ein jämmerlicher Laut erklang zwischen zusammen gepressten Lippen. Dann flogen Immbertas Hände empor, packten die Schultern der Jüngeren und zogen sie in eine feste Umarmung an ihre bebende Brust.
Lautlos weinte die alte Nimerfro, ohne ihre Enkelin los zu lassen. Endlich, Elfwid hatte schon überlegt, wie sie sich aus dieser so gefühlsduseligen Position lösen konnte, drang die leise Stimme ihrer Großmutter an ihr Ohr. „Danke, du wunderbares Kind“, hauchte sie und schniefte so deutlich, dass dem fast eine gewisse Komik anhaftete.
„Mein Elfchen“, kam es nun etwas lauter und Immberta löste sich. Mit schiefem Lächeln wischte sie sich die Tränen vom pitschnassen Gesicht. „Was für eine Vorstellung“, stellte sie nüchtern fest, „war mir selbst nicht bewusst, dass ich auf meine alten Tage so eine rührselige Heulsuse geworden bin. Entschuldige, aber ich habe mir das … nun … ich hatte es nicht zu hoffen gewagt.“ Verlegen räusperte sie sich und blickte Elfwid zaghaft entgegen.
Deren Wangen glänzten ebenfalls noch feucht. „Das muss an diesem Zimmer liegen“, meinte sie verschmitzt lächelnd. „Irgendwas hier macht die Augen wässrig.“
Beide Frauen saßen einige Momente schweigend nebeneinander und tauschten den ein oder anderen unbeholfenen Blick während sie der unversehens zwischen ihnen entstandenen Nähe nachspürten. Es fühlte sich seltsam an, überfordernd, aber auch gut und warm und richtig.
Schließlich ergriff Elfwid wieder das Wort: „Ich möchte, dass du weißt, dass es mir nicht um das Holz geht. Ich meine, ich bin dafür sehr sehr dankbar, aber das hat nichts mit dem hier zu tun. Das musst du mir glauben.“
Nachdenklich betrachtete Immberta ihre Enkelin, dann nickte sie langsam. „Ich glaube dir. Auch wenn ich nachempfinden könnte, wenn es dir im ersten Schritt vor allem um Hilfe ging. Längst überfällige und verdiente Unterstützung. Doch“, schloss sie mit entschiedener Stimme, „das ist jetzt einerlei. Du bist hier, was zwischen uns stand ist ausgesprochen und damit haben wir einen wichtigen Schritt getan. Ob die Wunden, die geschlagen wurden, heilen, müssen wir abwarten. Ich wünsche es mir sehr und auch, dass dein Besuch hier keine Eintagsfliege ist. Du bist hier immer willkommen, Elfchen und wenn er mag, er seinen verständlichen Ärger runterschlucken kann, dein Vater ebenso.“ Sie lächelte matt. „Bis dahin hoffe ich, wir können einen Beitrag leisten auf dem sicher steinigen Weg, euch ein Heim zu schaffen.“
Elfwid merkte plötzlich, wie erschöpft sie war – wie nach einem langen Ausritt oder Übungskampf.
„Ich kann mich kaum noch an sie erinnern“, sagte sie unvermittelt. „Aber ich vermisse sie trotzdem sehr.“ Ihr Blick verweilte liderschwer auf dem Wandteppich über dem Kamin und wechselte dann zu Immberta. „Kannst du mir die Geschichte erzählen bitte. Nur einmal noch.“ Sie bettete ihren Kopf auf die Schulter ihrer Großmutter und lauschte deren ruhiger sanfter Stimme. Bald war sie eingeschlafen.
***
Im Kaiserforst
Boron 1043 Bosparans Fall – Kaiserlich Sichelgau, Im Kaiserforst
‚Im Frühtau zu Berge, wir zieh‘n, fallera‘ hatte Yanrad von Nimerfro leise vor sich hin gesummt, als er im Morgengrauen vor das Gutshaus getreten war, um auf Elfwid zu warten.
Es war ein rechter Boron-Morgen, wie er nicht umhin konnte festzustellen: Dicker Nebel hatte alles verschluckt, was weiter als fünf Schritt weg war. Zudem hatte es in der Nacht ergiebig geregnet, bis es geschneit hatte. Zumindest lange genug, um hier und da matschiges Weiß über den Waldboden zu legen. Der Regen hatte aufgehört, trotzdem tropfte es allenthalben und auch vom Boden stieg Dunst auf. Wind frischte auf und der Jäger lächelte, denn dies bedeutete, dass der Nebel sich in absehbarer Zeit verziehen würde.
Prüfend hielt Yanrad die Nase in den Wind und genoss den würzigen, schweren Duft eines herbstlichen Waldes. Dann wandte er sich seinem Wams zu, schloss die kleinen Schnallen vor der Brust, schlug den fellgefütterten Kragen hoch und schloss ihn ebenfalls. Er war ganz in Leder und Fell gekleidet, trug feste, hohe Stiefel, hartlederne Armschienen, Handschuhe und eine Kappe mit verwegener Spitze. Es war enge, pragmatische und leidlich warme Kleidung, die er vielfach erprobt hatte.
An seinem Gürtel hingen ein Hirschfänger, ein kurzes Schwert, zwei kleinere Lederbeutel und ein kurzes Jagdhorn. Über der Schulter trug er eine geräumige Jagdtasche und seinen Köcher mit Bogen. Vor sich hatte er zwei identische, schlanke Jagdspieße, deren Spitzen ölig schimmerten. Zufrieden brummte er, denn er war bereit. Bereit für eine erste Pirsch an Elfwids Seite.
Und genau in diesem Moment erschien eben jene in der Tür zum Gutshaus und blinzelte dem Licht der aufgehenden Praiosscheibe entgegen. Als sie ihren Vetter im nasskalten Dunst erkannte, hob sie die Rechte zum Gruß und kam lächelnd auf ihn zu.
Yanrad bemerkte sogleich, dass Elfwid offenbar von ihrer Großmutter mit passender Kleidung ausgestattet worden war. Das knielange lederne Jagdhemd mit der fellumrandeten Kapuze und dem Fransensaum kam ihm bekannt vor, ebenso wie die mit robusten Gamaschen umschlossenen halbhohen Stiefel und das hochwertige Jagdmesser an ihrem Gürtel. Ihr eigenes Schwert hatte sie derweil mit einem Schulterriemen über dem Rücken befestigt und die halblangen lockigen Haare mit einem Stirnband gebändigt.
Als sie vor Yanrad stand, breitete sie die Arme zur Seite und drehte den Oberkörper einmal hin und her, um ihren Aufzug zu präsentieren.
„Wie du siehst, bin ich bereit für den Wald“, sagte sie. „Ich hoffe, das weckt nicht allzu große Erwartungen.“
Yanrad schmunzelte. „Sieht mir ganz danach aus, dank Tante Immberta.“ Anerkennend nickte er. „Steht dir gut. Hier“, entschieden streckte er ihr einen der beiden Speere entgegen, „das vollendet das Angefangene. Was nun die Erwartungen angeht“, erneut musterte er sie, „so ist mein Ziel für heute, dich zu einer Lichtung zu führen, auf der regelmäßig ein Hirschrudel ast und danach ruht. Dort jagen wir nicht, denn es ist wichtig, einen Überblick über die Rudel zu behalten. Jetzt, kurz nach der Brunft, bildet sich das Rudel neu und vielleicht sehen wir einige Rangkämpfe. Vor allem aber“, nun zwinkerte er ihr zu, „müssen wir erstmal nahe genug herankommen. Das heißt, dass du dich heute im Schleichen üben musst, meine Liebe. Denn ich hoffe, einen Hirsch ausdeuten zu können, dessen Herausnahme dem Alten vom Berge gefällig ist.“
Fragend blickte er Elfwid an. „In Ordnung? Man weiß nie, was einem im Wald über die Füße läuft, darum auch die Speere. Aber fürs Erste wollte ich dir zeigen, wie man sich bewegen sollte und“, er grinst, „wie besser nicht. Ab davon sind Schwarzkittel im Kaiserforst recht zahlreich und denen begegnet man besser nicht ohne Stange!“
Elfwid wog den Spieß versuchsweise in einer Hand und ließ ihn dann einmal am ausgestreckten Arm nach vorne schnellen, um ein Gefühl für dessen Schwerpunkt zu bekommen. Zufrieden nickend legte sie sich den Schaft über die Schulter.
„Sehr gerne“, antwortete sie und grinste. „Du wirst am besten wissen, welche Schritte auf dem Weg zu einer wahren Firunsjüngerin für mich am Anfang die rechten sind. Ich unterstelle mich ganz deinem Befehl und Ermessen.“
Der Nimerfro stellte fest, dass seine Base heute Morgen sehr viel gelöster wirkte, als noch die letzten beiden Tage – geradezu fröhlich. Ironischerweise war das etwas, was nach landläufiger Ansicht so gar nicht zu einer ‚wahren Firunsjüngerin‘ passen mochte.
Er wies Elfwid mit einer Geste den Weg und Seite an Seite trotteten sie los. Zunächst ging es in Richtung der Sägemühle, doch auf halber Strecke bogen sie auf einen Trampelpfad ab, der schnurstracks in den Wald führte. Nach etwa zweihundert Schritt verließen sie auch diesen und drangen – jetzt nacheinander – weiter ins dichtere Gehölz vor. Während Yanrad dabei mit gemessenen Bewegungen voranging und ziel- und trittsicher ausschritt, hatte Elfwid auf dem matschigen und von Pfützen und glitschigem Wurzelwerk übersäten Boden sichtlich Schwierigkeiten Anschluss zu halten. Hin und wieder stolperte sie sogar und musste sich dann, einen gepressten Fluch auf den Lippen, platschend und spritzend abfangen. Ihr Führer quittierte solche Ausrutscher stets mit einer hochgezogenen Augenbraue oder einem milden Lächeln. In der Folge war sie so darauf konzentriert, wohin sie ihren nächsten Fuß setzte, dass sie kaum auf die Umgebung achtete, die nun, da sich die Nebelschwaden langsam verzogen und immer mehr Sonnenstrahlen durch das Geäst stachen, einen herbstlich-verwunschenen Anblick bot.
Bislang hatte der Weg abwärts geführt, hin zur Traue. Als sie am Grund des Flusstals angekommen waren, verhielt Yanrad und wartete, bis Elfwid zu ihm aufgeschlossen hatte. „Ich weiß, dass deine Akademie Wert darauf legt, ihre Zöglinge auch für die Bewegung in der Natur auszubilden. Wenn ich dir jetzt gleich also etwas erzähle, was du längst verinnerlicht hast, unterbrich mich gerne.“
Versonnen blickte er auf den Waldfluss und die vorwitzigen Sonnenstrahlen, die sich im gurgelnden Wasser brachen. Mit einem Lächeln wandte er sich wieder an Elfwid. „So hab‘ ich‘s meinen Kindern beigebracht und aus ihnen sind brauchbare Jäger geworden. Also“, er richtete sich auf und nahm eine entspannte Haltung ein, „sei entspannt. Entspannt, aber aufmerksam! Die Natur um dich herum sagt dir, was du wissen musst. Bewegst du dich gemessen, also nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam, werden die Vögel ihr Lied nicht unterbrechen. Und wenn die Vögel singen, weißt du, dass um dich herum erstmal keine Gefahr droht. Vermeide unnötige Geräusche! Ich rede nicht davon, dass du die ganze Zeit schleichen musst, beileibe nicht. Aber sei so leise, wie du kannst.“ Er blickt sich um und hob dabei die Arme. „Deine Ohren sollen so offen sein, wie deine Augen. Lausche den Geräuschen um dich herum, aber achte vor allem auf den Weg vor dir. Vergiss deine Nase nicht, denn Gerüche verraten dir auch einiges. Wenn du nicht alleine im Wald bist, haltet untereinander lockeren Abstand. Jeder soll frei handeln können, ohne den anderen zu behindern, oder schlechten Falls in ihn zu … naja, rennen.“ Yanrad schmunzelte.
„Lauf locker, entspannt, wie ich schon sagte, aufmerksam, aber bitte nicht mit gehobener Waffe. Du solltest bereit sein, dich jederzeit zu verteidigen, aber das gelingt dir auf Dauer nur, wenn du ruhig bist, nicht angespannt. Setze deine Füße mit Bedacht, also hab den Weg vor dir im Blick. Achte auf Hindernisse, vor allem aber auf Spuren. Das braucht etwas Übung, drum verzage nicht.“ Damit zuckte der Nimerfro die Schultern und grinste ein wenig. „Eigentlich ganz einfach, mit ein bisschen Übung, eh?“
Elfwid sah ihren Vetter skeptisch an. Ihr schien eine Antwort auf den Lippen zu liegen, hielt sich aber zurück. Einen Lehrmeister nicht offen anzuzweifeln war ebenfalls etwas, was man an einer Kriegerakademie lernte, sehr früh sogar und mitunter auf schmerzhafte Weise. Stattdessen nickte sie also nur.
„Dann versuch es“, forderte Yanrad sie auf und bedeutete ihr, am Flussufer entlang voran zu gehen.
Elfwid nickte abermals und marschierte los. „Entspannt und aufmerksam“, murmelte sie. „Nichts leichter als das.“
Schnell merkte sie, dass sie hier deutlich einfacher vorankam als bisher. Tatsächlich erkannte sie, dass entlang des Flusslaufs ein Wildwechsel verlief - kein richtiger Pfad, aber doch ausgetreten genug, dass sie nicht auf jeden ihrer Schritte achten musste. Sie lächelte. Natürlich hatte Yanrad das gewusst und sie mit Absicht hierher geführt. Wenn sie dem Wechsel folgte, würde sie sich besser auf die Umgebung fokussieren können. ‚Augen, Ohren, Nase‘, dachte sie. ‚Na dann.‘
Bewusst schaute sie sich um, wobei sie sich bemühte, ihren Kopf nicht ruckartig, sondern ruhig, fließend und am Rhythmus ihres Gangs ausgerichtet hin und her, auf und ab zu bewegen. Nur wenig später wurde sie mit einer ersten Entdeckung belohnt. Ein Eichhörnchen mit einer Nuss im Schnäuzchen huschte flink den Stamm einer nahestehenden Buche empor, hüpfte auf einen ausladenden Ast über ihr und betrachtete den menschlichen Eindringling einige Herzschläge mit schiefgelegtem Kopf, nur um im nächsten Augenblick mit einem Satz auf einen benachbarten Baum zu springen und dort außer Sicht zu verschwinden.
Das Plätschern der Traue erinnerte Elfwid daran, auch ihrem Gehör Aufmerksamkeit zu schenken. Sie lauschte eine Weile angestrengt, doch bis auf das gelegentliche Krächzen eines Rabenvogels war nichts zu vernehmen.
Dann also riechen. Sie konzentrierte sich auf die erdige feuchte Waldluft und nahm einen tiefen Zug. Dann verzog sie das Gesicht. Ein weit weniger angenehmer Geruch drang an ihre Nase und es dauerte nicht lange bis sie dessen Quelle ausgemacht hatte.
„Verflucht“, stieß sie leise hervor und strich ihre Stiefelsohle umständlich an einem Stein ab. Frische Wildschweinlosung. So viel zu ihrer Aufmerksamkeit.
Schmunzelnd schloss Yanrad zu ihr auf.
„Ah, du hast sie gefunden!“, raunte er und deutete ein Augenzwinkern an. Dann wies er voraus und nach wenigen Schritten stieg Elfwid ein intensiver, würziger Geruch in die Nase. Nicht allzu unangenehm, aber deutlich tierischer Herkunft.
Yanrad verhielt hinter einem Baumstamm und bedeutete Elfwid ebenfalls stehen zu bleiben. Vorsichtig spähte er um den Stamm herum. Nach wenigen Herzschlägen entspannte er sich wieder und trat zurück auf den Wildwechsel.
„Ihre Suhle“, erklärte er und deutete auf einen aufgewühlten, tiefgründigen Bereich am Flussufer. „Gut für uns, dass sie gerade nicht da sind.“ Dann hockte er sich nieder und deutet auf einzelne Spuren. Ruhig erklärte er seiner Nichte, was die Fährte eines Wildschweins auszeichnete, wie groß die eines Keilers sein konnte und dergleichen mehr.
Nach einer kurzen Pause ging es weiter, diesmal unter seiner Führung. Bedächtig, ab und an verhaltend, führte er sie durch den Kaiserforst. Immer wieder zeigte er auf etwas und erklärte es mit wenigen Worten und nach einiger Zeit brauchte Elfwid diese Hinweise immer seltener. Sie erkannte die zuvor erläuterten Spuren, fiel in denselben entspannten Trott, den Yanrad vor ihr anschlug und dank seiner Führung fand sie die Muse, sich umzublicken.
Gut zwei Stunden wanderten sie so, bevor Yanrads Haltung sich änderte, Wachsamkeit ausstrahlte und Vorsicht. Er bedeutete Elfwid, ihre Schritte mit großer Vorsicht zu setzen und schlich selbst voran. Er bewegte sich zielsicher zu einer mächtigen Buche, an deren Fuß einige herbstbunte Sträucher standen und Deckung boten. Hier hockte er sich hin und wartete, bis die Jüngere aufgeschlossen und es ihm gleichgetan hatte.
Elfwid spürte Aufregung in sich aufsteigen. Jetzt galt es wohl. Noch mehr als schon zuvor achtete sie nun auf jede ihrer Bewegungen, während sie sich ihrem Verwandten näherte. Bei jedem noch so kleinen Geräusch, das ihre Stiefel dabei unabsichtlich auf dem Boden verursachten verzog sie das Gesicht und sie verharrte anschließend kurz in stiller Starre, um sich zu vergewissern, dass sie ihr Vorhaben nicht durch ihre Tölpelhaftigkeit zunichte gemacht hatte. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie Yanrad endlich und kniete sich erleichtert neben ihn.
Mit einem Kopfnicken lenkte der die Aufmerksamkeit seiner Schülerin sogleich auf die andere Seite des Gebüschs, wo sich eine langgezogene Lichtung erstreckte. Elfwids Augen weiteten sich, als sie durch die Blätter spähte, denn dort auf einer von weiteren niedrigen Sträuchern bewachsenen Wiese tummelten sich in nur einigen Schritten Entfernung etwa ein Dutzend Hirsche beieinander. Sie erkannte, dass es sich ausschließlich um männliche Hirsche handelte, die friedlich grasten oder sich knabbernd an dem Niedergehölz gütlich taten. Nur hin und wieder hob eines der Tiere seinen Kopf und witterte, schien jedoch nicht beunruhigt. Offenbar stand der Wind für die beiden Menschen günstig, was Yanrad bei ihrer Annährung wohl beachtet hatte, wie Elfwid vermutete. Unwillkürlich musste sie lächeln. So nah war sie diesen großgewachsenen Wildtieren noch nie gekommen und schon gar nicht einem ganzen Rudel. Langsam begann sie die Begeisterung zu begreifen, die Yanrad für das Waidwerk hegte. Vergessen war die ganze Mühsal der letzten Stunden, das ungewohnte Pirschen, Horchen und Beobachten. Der Anblick, der sich ihr hier bot, entlohnte sie für all das mehr als großzügig.
Nach einer Weile berührte Yanrad sie sachte am Arm und deutete auf das entgegengesetzte Ende der Lichtung, wo zwischen den Bäumen ein weiterer Hirsch erschienen war. Er war sichtlich größer und schwerer als die anderen Tiere und ein ausladendes Geweih krönte sein Haupt. Trotz seiner majestätischen Erscheinung, wirkte er auf Elfwid nicht besonders alt. Ihr fehlte zwar die Fachkenntnis auf diesem Gebiet, doch durch ihre einschlägigen Erfahrungen mit Pferden erkannte sie in den ruhigen kraftvollen Bewegungen des Hirsches die Dynamik und Energie der Jugend.
Nach einigen Momenten des Witterns begann der Hirsch damit, das Rudel wachsam zu umrunden und jedes Mal, wenn er dabei in die Richtung der beiden kauernden Menschen sah, hielt Elfwid den Atem an.
Auch im Rudel selbst war die Ankunft des Prachtexemplars nicht verborgen geblieben. Einige Hirsche hatten aufgeworfen und beobachteten den Artgenossen. Darunter einer, dessen Geweih prächtig, aber nicht ganz so ausladend war, wie das des Neuankömmlings. Elfwid zählte acht Enden an jeder Geweihstande, derweil der andere zwölf hatte.
Neben ihr spannte Yanrad sich und schob sich etwas mehr in die Höhe, wohl um besser sehen zu können. Tatsächlich stieß der Achtender gerade ein energisches Schnauben aus und stolzierte auf den Zwölfender zu. Dieser verhielt und nach einem kurzen Augenblick stellte er sich in Positur. Den Kopf hoch erhoben präsentierte er die üppig behangene Brust und schnaubte nun ebenfalls.
Dann ging alles recht schnell. Der Achtender hielt sich nicht mit posieren auf, senkte stattdessen sein Geweih und stürmte auf den, von ihm offenbar als Störenfried eingestuften, Zwölfender zu. Mit der Lässigkeit eines erfahrenen Kämpfers, fiel dieser nun auch in Galopp und senkte seine Wehr. Es klackte trocken als die beiden großen Tiere aufeinander prallten und während sie jeweils den Kopf bewegten, bis sich die Geweihe ineinander verhakt hatten. Dann setzte ein wildes Hin- und Hergeschiebe ein, bei dem einmal der eine, dann wieder der andere die Oberhand behielt.
Die Hirsche waren annähernd gleich stark. So dauerte es eine Weile, bis es zu einer Entscheidung kam und diese wurde erneut recht fix und unspektakulär herbeigeführt. Ein Dreher mit dem Kopf, dem der Achtender nicht schnell genug entgegensetzte, brachte den Zwölfender in eine vorteilhafte Position. Als er nun vorwärts drängte, zwang er dem Achtender eine Kreisbewegung auf, aus der heraus er sich nicht zur Wehr setzen konnte. Wieder klackte es, als die Geweihe sich voneinander lösten und der Unterlegene mit einigen langen Sätzen das Weite suchte.
Das brachte ein wenig Unruhe in das Rudel und die Tiere setzten sich in Bewegung. Ein Teil strebte dem fernen Ende der Lichtung zu, ein anderes preschte direkt auf die beiden verborgenen Menschen zu, ehe es abdrehte, der restlichen Herde hinterher. Der Zwölfender folgte ihnen in leichtem Trab und als die Hirsche wieder näher beieinander waren, begannen sie nach einigem herum Geschaue wieder zu grasen.
Langsam entließ Yanrad den Atem und blickte Elfwid breit lächelnd an. „Du bringst mir Glück“, raunte er, „ein solches Aufeinandertreffen sieht man nicht häufig.“ Er reckte den Kopf, doch das Rudel war nun zu weit entfernt, als dass eine geflüsterte Unterhaltung die Hirsche aufstören würde.
„Beeindruckend, nicht wahr? Auch wenn die Rangkämpfe nach der Brunft deutlich glimpflicher ablaufen. Denn jetzt finden sich die Herden zusammen, die gemeinsam den Winter verbringen. Da ist es gut, einander zu kennen, eh?“ Er schmunzelte. „Die Kühe mit den Jungtieren finden sich auf anderen Lichtungen oder am Übergang zum offenen Land. Hirschrudel sind meist kleiner und sie lösen sich im nächsten Jahr, spätestens zur Brunft, wieder auf. Bis dahin widmen wir uns der Hege und sorgen dafür, dass der Bestand gesund bleibt.“
Elfwid nickte stumm. Offensichtlich hatte das Schauspiel auch auf sie eine nachhaltige Wirkung gehabt.
***
Nachdem sie das Rudel noch eine Weile beobachtet hatten, hatte Yanrad sie schließlich von der Lichtung fort- und alsbald eine steinige Erhebung hinaufgeführt. Nun, eine gute Stunde später, saßen sie beisammen und verzehrten etwas von dem Proviant, den der Nimerfro in seiner Tasche mitgebracht hatte – ein paar Streifen Trockenfleisch, ein wenig Hartkäse, einen Kanten Brot – während sie den weiten Rundumblick auf den herbstlichen Kaiserforst genossen.
„Wird es der Verlierer sein?“, fragte Elfwid nachdenklich, nachdem sie ihren ersten Hunger gestillt hatte. „Ich meine den Hirsch, der von dem anderen vertrieben wurde. Meinst du, dass seine … Herausnahme Firun gefällig ist?“
Yanrad antwortete nicht gleich. In aller Ruhe kaute er zu Ende und nahm einen Schluck Wasser. „Nein“, hub er dann leise und bedacht an, „er wird aus diesem Kampf lernen, stärker werden, vielleicht eine eigene Herde finden, nächsten Götterlauf. Es wird ein Jüngerer sein. Er hat sich meist am Rand gehalten und nur wenig bewegt. Als die Hirsche dann aufgescheucht wurden, konnte ich endlich erkennen, warum. Er muss sich verletzt haben, vermutlich im Sommer. Das Gröbste ist verheilt, aber er lahmt auf der Hinterhand. Vielleicht ein Bruch, der schlecht zusammen gewachsen ist.“ Der Nimerfro sog die Luft ein und blickte Elfwid dann an. „Ihn werden wir herausnehmen. Wenn wir es nicht tun, tun es die Wölfe. Ich denke, das ist im Sinne des Alten vom Berge.“
„Ich wusste nicht, dass ein Jäger sich solche Gedanken darum machen muss, welches die rechte Beute sein mag“, meinte Elfwid daraufhin. „Ich dachte, man geht einfach los, schaut, was einem vor die Pfeilspitze kommt und gut.“
Ernst schüttelte ihr Begleiter den Kopf. „Nein, so sollte es eigentlich nicht sein, wiewohl ich schon weiß, dass … nun … einige es so halten. Der Jäger trägt Verantwortung, das mag manchem sentimental erscheinen. Am Ende ist es aber eine Notwendigkeit. In der Jagd gelten ebenso eherne Gesetzt, wie in einem Kampf. So er denn göttergefällig geführt wird, versteht sich, doch genau das ist ja das Leitbild, dem wir folgen.“
Versonnen biss sie ein noch ein Stück von dem Pökelfleisch ab und kaute kräftig darauf herum während sie wieder das Wort ergriff. „Weißt du, langsam verstehe ich unseren Wilfing. Den hat’s nach seiner Armeezeit auch in die Wälder getrieben. Hat da jahrelang Holz gemacht und Köhlerei und so was, ganz alleine, bis Vater ihn nach Kressing holte. Ich habe immer vermutet, dass er sich wegen seiner ganzen Narben so zurückgezogen hat. Ist schlimm versehrt worden im Krieg, der Wilfing, und seither wahrlich kein schöner Anblick. Aber obwohl wir uns alle mittlerweile an sein Gesicht gewöhnt haben und ihn gern mögen - selbst die Kinder - ist er auch bei uns oft alleine in der Wildnis unterwegs – manchmal tagelang. Und obschon er kein großer Jäger ist, abgesehen von etwas Fallenstellerei, hält er den Alten vom Berg doch in hohen Ehren. Er war es auch vor allen anderen, der den verwaisten Firunschrein in Kressing wieder hergerichtet hat. Hat sich viel Mühe gegeben dabei und gemeint, dass man es recht machen muss.“ Sie stand auf und drehte sich langsam, den Blick weit über das bewaldete Umland schweifend, einmal um sich selbst. „Vielleicht geht es ihm einfach um das hier. Das Schauen und Hören und Riechen. Das Entdecken. Wie du es mir gezeigt hast. Da finde ich das Tiere Totschießen am Ende gar nicht so wichtig.“
„Vermutlich“, schmunzelte Yanrad, „man kann sich in der Natur verweilen, ich weiß das wohl. Aber es ist gut, dass Wilfing euch hat, so verliert er sich nicht darin.“ Nachdenklich beäugte er seine Verwandte. „Ein verwaister Schrein? Ich werde es Grimsam berichten, wenn er uns einmal wieder besucht. Grimsam ist mein jüngster Bruder, weißt du und er hat sein Leben Firun geweiht. Er ist ein wandernder Geweihter, sagt, er wäre noch zu jung, um in einem Tempel zu dienen. Aber ich schätze, wenn er von dir hört, von Kressing und dem Schrein“, Yanrad nickte langsam und lächelte voller Zuneigung, „wird er sich das bestimmt selbst ansehen wollen.“
Dann sah er auf und Elfwid direkt in die Augen. „Wäre es dir recht, wenn ich meinem Bruder davon erzähle?“
„Ja, natürlich, ja“, brachte die nach einem kurzen Moment irritierten Blinzelns hervor. „Das wäre … wundervoll. Göttlichen Beistand können wir wahrlich gut gebrauchen.“ Sie lächelte. „Und vielleicht kann mir dein Bruder … Grimsam … dann noch mehr zeigen - zu dem, was du mich heute gelehrt hast.“ Noch einmal verlor sich Elfwids Blick zwischen den Bäumen. „Das würde mir wirklich gefallen.“
Dann wurde ihr Gesicht unvermittelt ernst. „Ich weiß nur nicht, wie Vater darauf reagieren wird, wenn ein Nimerfro plötzlich in Kressing auftaucht. Er wird einem Geweihten natürlich den gebotenen Respekt entgegenbringen - trotzdem … er hat noch seine Vorbehalte, weißt du.“ Sie seufzte. „Es wird schon heikel genug werden, ihm beizubringen, wie wir die Vorräte bezahlt haben, die wir mit eurer Hilfe in Baliho besorgen werden. Da ist er sehr eigen, will niemandem was schuldig sein, der Sturkopf. Aber ich werde es schon schaffen.“ In ihre Miene schlich sich ein spitzbübischer Zug. „Seiner Tochter kann er letztlich nichts abschlagen.“
Yanrad lachte leise. Aber nur kurz, dann wurde er wieder ernst. „Das denke ich mir. Es ist ihm kaum zu verdenken.“ Er strich sich übers Kinn und blickte dann an Elfwid vorbei in den Wald.
„Eigentlich ist das vermutlich kein Ding, denn Grimsam ist zwar ein Nimerfro, aber er trägt den Namen unterdessen nur selten. Er stellt sich meist als Bruder Grimsam vor. Wiewohl es kein guter Weg wäre, deinem Vater diesen Umstand vorzuenthalten. Am Ende würde er sich zu Recht übergangen und überlistet fühlen. Hmmmm.“
Noch einmal rieb der Nimerfro sich übers Kinn, dann fokussierte er sein Gegenüber wieder. „Eine Möglichkeit wäre, dass wir Grimsam ankündigen, in ein paar Wochen, wenn ich mit ihm gesprochen habe, einen Brief schreiben, dass er sich auf den Weg gemacht hat, um sich den verwaisten Schrein anzusehen. Dass wir hoffen, dies wäre im Sinne deines Vaters und auch, dass wir hoffen, unsere Bande festigen zu können. Was meinst du?“
Elfwid überlegte einen Moment. „Ja, ich glaube, das ist ein guter Weg. Da habe ich auch noch etwas Zeit, den alten Mann auf die neuen Gegebenheiten vorzubereiten. Anschwindeln sollten wir ihn wirklich nicht. Und wenn Grimsam nur ein wenig so ist wie du, bin ich mir sicher, wird mein Vater sich gut mit ihm verstehen … früher oder später.“
Yanrad schmunzelte. „Ein wenig sicher, aber vor allem ist er ein Diener des Alten vom Berge und bisweilen macht er auch seinem Namen alle Ehre. Aber ich schätze, es wird auch meinem Bruder ein Anliegen sein, euch zu helfen und die jüngst geknüpften Bande zu festigen. Ich vertraue darauf, dass gerade er einen Weg finden wird, deinen Vater für diese Idee zu gewinnen. Ich schätze, Herr ni Branghain kommt mit wortkargen Zeitgenossen recht gut aus. Dann wollen wir es so halten und wir beide sollten langsam zum Gut zurückgehen, eh?“
***
Ein Schritt, dann ein zweiter …
Boron 1043 Bosparans Fall – Kaiserlich Sichelgau, Junkergut Traunwart
Wie es ihre Art war, war Madelgard von Nimerfro am Rand geblieben, hatte beobachtet, gelauscht und sich ein Bild gemacht. Ein Bild, das am Anfang detailreich war, ohne das ihr Details bekannt waren. Ein Bild, gemalt mit den Farben von Vorurteil, von Schmerz und von Rechtfertigung.
Der Rechtfertigung, dass ihre Mutter Recht getan hatte, als sie Efwid nach dem Tod ihrer Mutter in die Obhut des Vaters gegeben hatte. Und auch darin, diesen stattdessen nicht enger an die Familie gebunden, ja aufgenommen zu haben. In hehrem Rot kam sie daher, die Rechtfertigung, und mit goldenen Rändern.
Was sie direkt zur Farbe des Vorurteils führte, die sich irgendwie ekelig Gelb anfühlte, wenn sie so darüber nachdachte. Oder grün. Oder ein Gemisch aus beidem, ein unappetitliches Gemisch, wie es in der Natur nur an ebenso unappetitlichen Orten gedieh. Nur ein Offizier, hatte es gelautet. Ein Albernier allzumal. Ohne einen solchen zu kennen, war Madelgard damals überzeugt gewesen, dass ein Albernier nicht zu einer Weidenerin passte. Ungestüme Freiheitsliebe zu traditionsreicher Loyalität? Eine mindestens problematische Kombination.
Die Farbe des Schmerzes war Schwarz, sie war Grau und Nebelweiß. Sie nahm nicht nur die Sicht, sie nahm ihr auch den Atem. Immer wieder. Selbst nach Jahren.
Der Schmerz war es, der ihr aber auch die Augen geöffnet hatte, als sie Efwid unauffällig beobachtet hatte. Es waren Kleinigkeiten. Hier die Betonung einer Silbe, da der Schwung des Kopfes, als sie ihre Haare zurückstrich, und immer wieder das Lächeln, dieses Lächeln, das Wolftrude zu Wolftrude gemacht hatte. Es hatte wehgetan, das zu sehen. Anfangs waren mit diesen Beobachtungen Stiche einhergegangen. Denn irgendwann hatte Madelgard gemerkt, dass der Schmerz nachließ und lieben Erinnerungen Platz machte. Erinnerungen, von denen sie ihrer Nichte gerne erzählen würde. Kleinigkeiten aus ihrer Kindheit, der Jugend. Von der bisweilen innigen Zweisamkeit mit ihrer Schwester, wollte sie erzählen und davon, dass sie sich von ihr beizeiten besser verstanden fühlte, als von den Eltern.
Es war der Abend nach der Jagd, die Elfwid mit Yanrad in den Kaiserforst geführt hatte, als Madelgard ihren Frieden mit der Situation machte. Die Farben lichteten sich und ihr wurde bewusst, dass sie ihre Vorurteile hinter sich lassen und sich stattdessen auf Elfwid einlassen wollte, um ein neues Bild von ihr zu malen. Eines mit den Farben, die sie selbst auswählte und nicht ihre schlechten Gefühle.
Offenbar hatte der Streifzug durch den Wald, die Begegnung mit den Hirschen, eine neue Seite in Elfwid zum Klingen gebracht. Eine Seite, die von jeher in allen Nimerfros gespannt war, denn sie war Teil ihrer Herkunft. Genau dies hatte Madelgard erkannt und auch, dass sie ebenfalls ein paar ungestörte Augenblicke mit Elfwid brauchte.
Also hatte sie sich gefragt, ob diese wohl Lust auf einen kleinen Übungskampf hatte. Immerhin war sie Abgängerin der altehrwürdigen Schwert und Schild und das galt Madelgard einiges. Also hatten sie sich verabredet. Für den kommenden Morgen, vor dem Frühstück. Mit dem Schwert und vielleicht auch mit dem Schild würde sie noch eine Facette Elfwids kennenlernen und diese auch eine an ihrer Tante. Und vielleicht würde dies der Anfang gegenseitigen Verständnisses sein, das zu mehr führen konnte.
***
Der erste Schlagabtausch war wie eine Befreiung gewesen und mit jedem Klirren von Stahl auf Stahl hatte sich Elfwids innere Anspannung mehr und mehr aufgelöst. Bis dahin hatte es ein wenig gedauert, da die beiden Kämpferinnen einander eine ganze Weile lang nur lauernd und taxierend umkreist hatten, aber als es schließlich zum Kreuzen der Klingen gekommen war, war die junge Kriegerin in ihrem Element gewesen. Anders als der Ausflug in den Kaiserforst mit Yanrad oder die gefühlsschwere Aussöhnung mit Immberta, war das hier etwas, das sie als sicheres Terrain betrachtete, etwas, das ihr seit ihrer Kindheit in Fleisch und Blut übergangen war.
Die merkwürdige Nervosität, die sie nichtsdestotrotz vor diesem Übungskampf empfunden hatte, war letztlich ihrer Gegnerin geschuldet gewesen. Elfwid hatte kaum noch damit gerechnet, dass ihre Tante für sie während ihres ausklingenden Besuchs mehr erübrigen würde als die bisherigen prüfenden, teils skeptischen Blicke und hin und wieder einen trockenen Kommentar. Und daher hatte sie deren unerwartete Frage nach einem freundschaftlichen Waffengang zunächst auch überrumpelt. Aber natürlich hatte sie zugestimmt. Dies mochte die letzte Gelegenheit sein, der hartschaligen Schwester ihrer verstorbenen Mutter zu beweisen, was sie konnte, was sie wert war - und sie hatte vor, sie zu nutzen.
Wobei man Madelgard zu Gute halten musste, dass sie offenkundig darum bemüht gewesen war, für eine möglichst entkrampfte Atmosphäre zu sorgen, als sie heute in aller Frühe gemeinsam zu der Lichtung unweit des Gutshauses marschiert waren und sich währenddessen über die Regeln des bevorstehenden Kampfes ausgetauscht hatten. Die Junkerin von Traunwart hatte ungewohnt zugewandt gewirkt - wenn auch nicht unbedingt herzlich - und hin und wieder sogar zurückhaltend gelächelt. Wäre Elfwid nicht so sehr von ihrer eigenen Anspannung in Beschlag genommen gewesen und hätte sie ihre Tante etwas besser gekannt, hätte sie womöglich bemerkt, dass auch sie an diesem Morgen vage Anzeichen von Unsicherheit gezeigt hatte.
Als erlaubte Trefferzonen hatten sie sich auf den Oberkörper, die Oberarme und Oberschenkel geeinigt, also die Bereiche, die durch ihre angelegten Kettenhemden geschützt waren, eine übliche Konvention für einen Übungskampf, die sie mit einem kurzen gemeinschaftlichen Schwur auf die Donnernde besiegelt hatten. Jeder Treffer zählte einen Punkt, versehentliche Treffer auf andere Körperteile brachten einen Punktabzug, Treffer zum Kopf führten gar zur sofortigen Niederlage der Angreiferin. Drei Punkte bedeuteten den Sieg.
Sie führten stumpfe Übungsschwerter mit abgerundeten Spitzen, die von Länge und Gewicht klassischen Langschwertern entsprachen. Auf Schilde hatten sie verzichtet. Ebenso auf Helme, was viel für den Respekt sprach, den sie den Fähigkeiten der jeweils anderen im Voraus zubilligten.
Madelgards Knappin Rondrada hatte sie ebenfalls begleitet und fungierte nun als Schiedsrichterin, eine Aufgabe, der sie mit großem Ernst nachkam. Konzentriert beobachtete sie das Hauen und Stechen, jederzeit bereit, den Arm hochzureißen und einen Punktgewinn zu verkünden.
Lange hatten sie sich in der Phase des gegenseitigen Abtastens und Einschätzens befunden und für beide Frauen war es, wie immer, wenn es gegen jemanden ging, dessen Kampfweise man nicht kannte, ein Balanceakt gewesen, einerseits nicht zu viel der eigenen Fertigkeiten Preiszugeben, während es gleichzeitig galt, die Lücken in der Verteidigung der anderen aufzudecken.
Das erste Mal, dass Elfwid ihr wahres Können hatte aufblitzen lassen, hatte auch sogleich zum ersten Treffer des Kampfes geführt. Nachdem sie nämlich eine Ahnung davon bekommen hatte, auf welche Weise Madelgard ihre Angriffe ausführte – schnörkellos, ohne allzu viel Finesse, jedoch hart und präzise, hatte sie einen ihrer, von oben geführten, Hiebe nicht, wie bisher, zurückweichend mit der Klinge pariert, sondern war behände zur Seite und vorne ausgewichen, hatte den Schlag dabei unterlaufen und aus dieser günstigen Position heraus selbst einen Schnitt in den entblößten Rumpf ihrer Gegnerin setzen können. Ein riskantes Manöver, das sich aber ausgezahlt hatte.
„Punkt für Branghain!“ Rondradas Arm war in die Höhe geschnellt und während Elfwid einen freudigen Aufschrei unterdrückt und sich darum bemüht hatte, eine neutrale Miene zu bewahren, hatte Madelgard ihr nur zugenickt, im Blick eine Mischung aus Überraschung, Anerkennung und etwas anderem, was man vielleicht als ein unausgesprochenes „Na dann!“ hätte verstehen können.
Und damit hatte die Zeit des gegenseitigen Austestens geendet. Mit kraftvollen, aber wohlgezielten Attacken war die Junkerin nun entschlossen gegen ihre jüngere Gegnerin vorgerückt. An ein Ausweichen oder gar einen Konter war nicht mehr zu denken gewesen und so, dermaßen in Bedrängnis geraten, war deren wackere Verteidigung bald durchbrochen: Zuerst ein wuchtiger Schlag auf den linken Oberarm und kurz darauf, nach einer weiteren kompromisslosen Hiebfolge, ein schneller Stoß gegen die Brust. Zwei zu eins für Nimerfro.
Madelgard war eine erprobte Ritterin Weidens, gehärtet im Blut und Feuer der Kriege der vergangenen Jahre, und – bei Rondra - sie wusste, wie man einen Gegner dominierte. Ihre Nichte aber war das Produkt einer der wohl körperlich anspruchsvollsten Ausbildungen des ganzen Reiches, die sich zudem auch heute noch täglich diszipliniert den eingeschliffenen Leibesertüchtigungen und Waffenübungen ihrer Lehrzeit unterwarf. Und mit fortschreitender Dauer des Kampfes zeigte sich, dass sie das, was die Ältere ihr an echter Schlachterfahrung und langjähriger Routine voraushatte, durch größere Ausdauer, Widerstandskraft und Geschmeidigkeit wieder wett machte.
Denn so effektiv und gefährlich die Angriffe Madelgards auch gewesen waren, forderten sie doch auch von ihr selbst einen Tribut. Nach jedem kräftezehrenden Schlagabtausch ging ihr Atem ein wenig schwerer, wurden ihre Bewegungen ein wenig langsamer und kamen die Hiebe mit etwas weniger Wucht. Außerdem hatte Elfwid sich mittlerweile auf die unnachgiebige Kampfweise ihrer Gegnerin einstellen können und war mit der Zeit immer besser in der Lage gewesen, eine stürmische Attacke nach der anderen ins Leere laufen zu lassen, wenn auch stets nur knapp vorbei am nächsten Treffer und der eigenen Niederlage. Schließlich war es ihr sogar mehr und mehr gelungen, die Initiative an sich zu reißen und nun ihrerseits Druck auszuüben. Und dann hatte sie endlich unter Aufbietung aller Kräfte das abwehrende Schwert Madelgards weit zur Seite fegen und mit einem folgenden Rückhandschlag einen Treffer auf ihren Oberschenkel anbringen können. Der Ausgleich.
Jetzt standen sich die beiden Kontrahentinnen einmal mehr schwer atmend und nur wenige Schritte voneinander entfernt auf der Mitte der Lichtung gegenüber. Der erwachende Wald ringsum schwieg, kein Lufthauch ging, die Zeit schien still zu stehen. Unbeeindruckt vom Schweiß, der ihnen brennend in die Augen lief, von den schmerzhaften Prellungen, die sie bisher erlitten hatten, und von der bleiernen Schwere, die sich allmählich ihrer erschöpften Glieder bemächtigte, waren sie einzig und allein, voll und ganz, auf die jeweils andere fokussiert.
Alles was es gab war dieser Kampf. Zwei Frauen, zwei Schwerter, zwei Herzen, jener heilig-reine Zustand rauschhafter Konzentration den nur die erleben, die sich der Göttin ganz hingeben. Vergessen war der Grund für Elfwids Besuch in Traunwart, vergessen die Vorbehalte Madelgards, vergessen die schwelenden Vorwürfe und die nagenden Bedenken. Vergessen war Elfwids Mutter, vergessen ihr Vater, vergessen die Anspannung und die Unsicherheit, die Rechtfertigungen, die Vorurteile, der Schmerz.
Bedeutungslos waren Blutsbande, Vermächtnis, Schuld.
Alles was es gab war dieser Kampf. Zwei Frauen, zwei Schwerter, zwei Herzen.
Und dann griffen sie an. Gleichzeitig, wie auf ein stummes Signal, rückten sie vor und hieben aufeinander ein. In rascher Folge traf Stahl auf Stahl. Funken flogen. Unartikulierte Laute waren bei jedem knochenerzitternden Schlag zu hören. Keine der Gegnerinnen wich auch nur einen Fußbreit zurück. Unerbittlich attackierten sie sich mit all ihrem Können.
So ging es hin und her und Rondrada fiel es immer schwerer, den verschwommenen Bewegungen der Klingen zu folgen, bis das metallische Klirren mit einem Mal verstummte und einem angestrengt-gutturalen Knurren wich. Die beiden Kämpferinnen hatten ihre Schwerter nach dem letzten Schlag nicht wie bisher für einen weiteren Hieb zurückzogen, sondern hielten sie jetzt beidhändig und mit ganzer Kraft, Schneide auf Schneide, aufeinandergepresst zwischen sich - Aug in Aug miteinander, ihre von der Belastung geröteten Gesichter weniger als einen Spann voneinander entfernt.
Mehrere Herzschläge lang ging es nicht vor und nicht zurück, während sie die gebundenen Schwerter unnachgiebig kurz oberhalb der Parierstangen gegeneinanderdrückten. Doch dann ging es blitzschnell. Elfwid löste plötzlich eine Hand von ihrer Waffe, ergriff damit den Unterarm ihrer Gegnerin und zog ruckartig daran während sie selber zur Seite auswich. Durch den Zug und das gleichzeitig abrupte Fehlen des Widerstandes verlor die überrumpelte Madelgard das Gleichgewicht, taumelte nach vorne an Elfwid vorbei und geriet ins Straucheln. Es gelang ihr gerade noch, sich im unausweichlichen Sturz zu drehen und auf gut Glück einen weiten Abwehrschlag nach hinten auszuführen, bevor sie schließlich rücklings zu Boden ging. Elfwid setzte sofort nach, kam über sie und ließ ihre Klinge niederfahren. Die erwartete Parade blieb überraschenderweise aus und so bremste die junge Kriegerin ihren Schwung erst im letzten Moment ab und legte ihre Schwertspitze mit einem wilden triumphierenden Ausdruck im Gesicht lediglich ein wenig unsanft auf Madelgards Brust ab. Doch deren Züge verrieten nichts von Niederlage. Stoßweise atmend und mit der Andeutung eines Lächelns sah sie langsam an Elfwid hinab, die ihrem Blick stirnrunzelnd folgte. Die Schneide der Ritterin lag an der Innenseite ihres Oberschenkels – das war der Grund für das Fehlen jeglicher Abwehr. Beiden war klar, dass in einem echten Kampf ein Schnitt an dieser ungeschützten Stelle zu einem raschen und überaus unschönen Ausbluten geführt hätte und Elfwid ihrer eigentlich bereits besiegten Gegnerin schon sehr bald über das Nirgendmeer gefolgt wäre.
Gleichzeitig drehten die erschöpften Kämpferinnen - die eine liegend, die andere über sie gebeugt, beide ineinander verflochten im Augenblick eines tödlich-dramatischen Schlusspunktes - ihre Köpfe zu Rondrada, die scheinbar noch immer damit beschäftigt war, das Gesehene zu verdauen und die ihre fragenden Blicke zunächst nur sprachlos und mit großen Augen erwiderte.
„Unentschieden?!“, stieß die Knappin schließlich etwas zaghaft hervor, als sie sich nach einem Moment ihrer Aufgabe als Schiedsrichterin erinnerte - und kurz darauf, nun jedoch deutlich entschlossener: „Unentschieden! Punkt für Branghain, Punkt für Nimmerfro!“ Begeistert riss sie beide Arme in die Höhe.
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Ein Abschied auf Bald
Boron 1043 Bosparans Fall – Kaiserlich Sichelgau, Junkergut Traunwart
Nachdem sie ihr Bündel sowie ihre Armbrust verstaut hatte, stieg Bartha wieder vom Kutschbock herunter und trat zu Julenka, die mit verschränkten Armen neben ihrem - jetzt schwer mit Holzbohlen beladenen - Fuhrwerk wartete. Sie schaute hinüber zum Eingang des Haupthauses, wo Elfwid und die anderen Nimerfros einträchtig beieinanderstanden und Abschiedsworte und Umarmungen wechselten. Verschwörerisch lehnte sich Bartha zu ihrer einen halben Kopf kleineren Gefährtin hinüber. „Das neue Familienglück hat se dir zu verdanken. Dir und deiner einfühlsamen Art. Hast der heiligen Mutter ja alle Ehre gemacht.“
Julenka machte ein schnaubendes Geräusch und spuckte einen Schwall Kautabak aus. „Wennde glaubst, ich mach die ganze Rutsche hier runter und fahr dann wieder mit leeren Händen nach Hause, biste schief gewickelt“.
Bartha grinste. „Ich liebe es, wenn du die Harte markierst“, raunte sie und versetzte Julenka einen Klaps auf den Hintern. Dann wandte sie sich ab und schlenderte zu dem zweiten bereitstehenden Fuhrwerk hinüber, um mit dem Traunwarter Kutscher ein paar Worte zu wechseln.
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„Es würde mich freuen“, bekräftigte Immberta zum wiederholten Mal.
Yanrad, der passionierte Jäger, stand daneben, ein Arm vor den Bauch gelegt, den anderen darauf gestützt. Mit der Hand kraulte er seinen kurzen Bart und verbarg zugleich das leichte Lächeln auf seinen Lippen.
„Nun lass sie doch erst einmal sicher nach Hause kommen, Mutter!“, mischte sich Madelgard ein, „Dann muss ihr Vater verdauen, was sie ihm zu berichten hat und über den Winter müssen sie auch erstmal gut kommen. Vorher wird sie sicher nicht an einen weiteren Besuch bei uns denken können.“
Immberta blickte enttäuscht drein, nickte dann aber. „Ich weiß das alles“, brummelte sie und schniefte, „sie soll nur nicht vergessen, dass sie hier willkommen ist.“
Die Junkerin nickte. „Das will ich auch nicht und ich denke, Elfwid hat es verstanden. Nicht wahr?“, wandte sie sich direkt an ihre Nichte.
Elfwid lachte hell auf. „Ja, das habe ich verstanden. Ich verspreche, dass ich wiederkommen werde.“ Dann wurde sie ernst und sah ihre Verwandten nacheinander an. „Ich komme wieder“, sprach sie weiter. „Und nicht, weil ich euch etwas schulde – sehr viel schulde – sondern weil ich es will. Von Herzen.“
„Wir möchten außerdem, dass du dies hier bekommst, Elfwid“, ergriff Madelgard nach einem Moment einträchtiger Stille erneut das Wort und hielt plötzlich ein Langschwert samt Scheide und Gürtel in Händen. Es war eine schlichte Waffe, in einer einfachen Scheide aus dunklem, gefettetem Leder mit versilbertem Scheidenmund- und Ortblech. Unter ersterem war zudem ein Wappen ins Leder geprägt worden. Der Gürtel war scheint’s aus demselben Leder gemacht und auch er trug alle Halbspann versilberte Verzierungen: im Wechsel kleine Tannenzapfen und Eicheln. Die Tante zog das Schwert eine gute Handbreit aus der Scheide und offenbarte so, die zweifingergroße Ätzung des Nimerfroer Wappens auf der Fehlschärfe. „Das Schwert deiner Mutter. Sie hat es bis zu ihrem Tod getragen und wir denken, jetzt ist es an der Zeit, dass du es an dich nimmst.“
Die junge Kriegerin nahm die Klinge entgegen und betrachtete das Stück einige Herzschläge lang sprachlos, befühlte die Verzierungen auf dem Leder und blieb mit dem Blick schließlich an dem Wappen hängen. Sie atmete tief ein. Dann fiel sie ihrer Tante in die Arme.
***
Heimkehr
Anfang Hesinde 1043 Bosparans Fall - Ingerimms Steg, Rittergut Kressing
Mit ihrer Ankunft in Ingerimms Steg hatte erster Schneefall eingesetzt – zwar nur vereinzelte zartsilbrige Flocken, die wirbelnd im Wind trieben und sich, wenn sie schließlich den Boden erreichten, sogleich in matschigen Pfützen auflösten, aber dennoch schien es den Reisenden wie ein Zeichen Firuns, dass es höchste Zeit für ihre Rückkehr gewesen war.
Als das Fuhrwerk endlich auf den Innenhof des Kressinger Gutshauses rumpelte, folgte ihm bereits eine kleine Traube Menschen, die bei der ersten Sichtung der Heimkehrer alles stehen und liegen gelassen hatten, um sie mit großem ‚Hallo‘ zu begrüßen und vor allem, um die mit Säcken, Kisten und Fässern vollgepackte Ladefläche in Augenschein zu nehmen. Elfwid war bei ihnen und führte ihr Pferd am Zügel, während sie Schulterklopfen und Wangentätscheln über sich ergehen ließ, Hände schüttelte und lachend versuchte, der Handvoll Kinder zu entkommen, die sie umzingelten und mit Fragen bestürmten.
Kaum hatte sie das Tor passiert, öffnete sich die Tür zum Haupthaus und ihr Vater eilte hinaus, den humpelnden Thorolf dicht auf den Fersen.
Als Coran ui Branghain seine Tochter erreichte schloss er sie ohne Umschweife fest in die Arme und drückte sie mit einer Heftigkeit, die Elfwid überraschte und ihr die Luft aus dem Brustkorb presste. Dann schob er sie auf Armeslänge von sich, hielt sie mit beiden Händen an den Schultern fest und sah sie an.
„Wo bleibst du denn?“, wollte er mit rauer Stimme wissen. „Wir haben schon Schlimmes befürchtet.“ Er klang vorwurfsvoll, aber seine Miene sprach von Sorge und Erleichterung.
„Es gab … ein paar Verzögerungen“, erwiderte Elfwid lächelnd. „Aber wir haben die Vorräte. Mehr als genug für den Winter.“
Coran nickte und sein Blick ging kurz zu dem von seinen Leuten umlagerten Fuhrwerk, als ob er sich dessen erst jetzt gewahr wurde, bevor er wieder seine Tochter ins Auge fasste.
„Das kannst du mir später erzählen, im Warmen“, brummte er. „Geht es dir denn gut?“ Er musterte sie von oben bis unten ohne sie loszulassen. Bis sein Blick auf ihren Waffengürtel fiel. Stirnrunzelnd zog er da seine Hände zurück und ein Anflug von Überraschung huschte über seine Züge, als er die silbernen Verzierungen auf dem Leder erkannte.
„Was …?“, flüsterte er.
Elfwid schluckte. „Es gab Probleme in Baliho und ich … ich wusste keinen anderen Weg. Die Vorräte haben wir ihnen zu verdanken.“ Ihre Stimme hatte einen flehenden Unterton angenommen. „Lass uns hinein gehen, dann kann ich dir alles erklären.“
Doch Coran trat einen Schritt zurück, seine Miene von Kummer und Enttäuschung gezeichnet. Dann wandte er sich ohne ein weiteres Wort um und ging zum Haupthaus zurück, vorbei an Thorolf, der in diesem Moment auch endlich ankam und seinem Herrn verwirrt nachschaute.
„Was hat der denn?“, fragte er, während er Elfwid nun ebenfalls herzlich in die Arme schloss.
„Die Vorräte sind von den Nimerfros“, sagte sie tonlos.
„Ooh“, entgegnete der alte Haushofmeister mit hochgezogenen Augenbrauen. „Ich verstehe.“
Dann griff er ihr ans Kinn und drückte sanft ihren hängenden Kopf nach oben. „Ich bin mir sicher, du hast getan, was du für richtig hieltest.“ Bekräftigend nickte er und deutete auf das Fuhrwerk, dessen Fracht bereits unter Johlen abgeladen wurde. „Ich kann mit dem Ergebnis jedenfalls sehr gut leben. Die anderen sicher auch. Haste richtig gut gemacht, Fräulein Rittmeisterin. Und keine Sorge, das wird der albernische Hornochse auch noch kapieren. Gib ihm etwas Zeit.“ Er zwinkerte ihr noch einmal aufmunternd zu, bevor er sie alleine ließ um im Kasernenhofton das Kommando über das Abladen der Vorräte zu übernehmen.
Elfwid seufzte. Der Ausdruck im Gesicht ihres Vaters hatte ihr einen Stich versetzt. Die Traurigkeit, die Melancholie. Sie rief sich das schmerzhafte Bild nochmals in Erinnerung und irrwitzigerweise musste sie unvermittelt schmunzeln, kurz darauf gar leise kichern. Vermutlich hatte nie jemand dem Wappen der Nimerfros ähnlicher gesehen.