Etiliengrunder Weihen

 

Boronkloster Etiliengrund, Baronie Schneehag, Travia 1046 BF

 

Personenverzeichnis:

- Firian Asralion Böcklin von Buchsbart zu Schneehag (Baron von Schneehag) und sein Gefolge

(Kalli)

- Sabines Figuren

-Eslamo Etiliano de las Dardas, Abt des Boronklosters Etiliengrund (Deuter Bishdariels)
-Coris Etiliane Fesslin (Schwester Etiliane), Etilianerin, (Dienerin Golgaris)

-Schwester Irmingard, Etilianerin (Deuterium Golgaris)

-Bruder Nazir Nocturnus Heldor (Diener Bishdariels)


-Rondrasil Firnbiss von Rhodenstein (Siegelmeister im Dienste des Truchsess des Ordens zur Wahrung, Ritter der Göttin, Gemahl von Junkerin Ailgrind von Firunsgrund: Andreas)

(Lore Ipsum) falls noch mehr kommen sollten, füge ich sie dann ein

 

Der Baron von Schneehag und die Grabstätte seines Bruders Derenald

 

Firian Böcklins Blick ging am Kloster vorbei, während er den Hügel hoch ritt, auf dem es lag. In weiter Ferne und bis zum Horizont bauten sich dort bedrohlich, düster und schroff die Bergelandschaft und Gipfel des Finsterkamms auf. Ein Anblick, der dem Baron von Schneehag sehr vertraut war und der ihm tagtäglich die Mahnung ins Gedächtnis rief, wie bedroht sein Land und seine Heimat, gelegen zwischen den Gipfeln des Gebirges und den Fluten des Fialgralwas, war. In diesem Augenblick fixierten seine Augen aber weniger die Berge, sondern die zwischen Bergen und um die Türme des Klosters fliegenden Vögel. Er wusste, dass die Geweihten des Klosters zum Teil die Fähigkeit oder Gabe hatten, je nachdem wie man wollte, aus dem Flug der Vögel Visionen des Dunklen Vaters zu empfangen. Firian war ein sehr gläubiger Mensch, sowohl durch seine Erziehung, aber vor allem durch die letzten Jahre. Doch folgte er hauptsächlich dem Weißen Jäger, weniger dem Dunklen Vater, und so konnte er nichts aus dem Flug deuten. Natürlich war er auch zu selten hier, um eine Besonderheit zu erkennen. Er fand jedoch, dass besonders viele der Finsterkammdohlen da waren, aber sicher war er sich nicht.

Hinter ihm hörte er seine Knappin kurz mit einem der Katzbalger, den baronseigenen Waffenknechten und Schildmaiden, sprechen. Ein kurzer, strenger Blick nach hinten ließ beide aber verstummen. Die kleine Gruppe erreichte schließlich das Klostergelände selbst und Firian war gespannt, ob und wie er empfangen wurde.

 

Innerhalb des äußeren Mauerrings standen nur wenige Gebäude. Ein Stall, eine größere Scheune, und eine Remise. Eine kleine Herde aus Schafen und Ziegen graste auf der Wiese zwischen den Gebäuden und in der Tür des Stallgebäudes lehnte ein großer, kräftiger Mann. Als sich der Baron auf seinem Ross näherte, löste sich der Mann von dem Stallgebäude und kam auf die Reiter zu. Er steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen lauten Pfiff aus. Kurz darauf erschien ein schmaler Junge aus einem der anderen Gebäude.

„Boron zum Gruße, Hochgeboren!“, mit einer Verbeugung begrüßte der kräftige Mann mit den rotblonden Locken den Schneehager. „Mein Name ist Bertlund, ich bin der Stallmeister. Dürfen Werinher und ich Euch und Euren Begleitern die Pferde abnehmen?“

 

„Boron zum Gruß“, antwortete Firian zunächst knapp, während er sein Pferd zum Stehen brachte und sogleich  von dem großen Tralloper Riesen abstieg. Er tätschelte dem Pferd kurz die Wange und nahm eine kleine Tasche vom Sattel. Dann richtete er noch seinen Schwertgurt, bevor er dem Stallmeister antwortete.

„Ihr könnt ihnen zeigen, wo alles ist und helfen. Meine Knappin wird sich um ihr Pferd und um meinen Grafen kümmern!“

Die Knappin, die gerade noch gedacht hatte, gleich im Kloster zu sein, verzog kurz das Gesicht. Die Arbeit mit den beiden Pferden und vor allem dem Tralloper des Barons würde lange dauern.

Firian sah den Stallmeister an und fuhr fort

„Wer bringt mich zu einem Geweihten oder sagt mir, wo ich einen finde?“

“Das wird gar nicht nötig sein, Hochgeboren.” Bertlund deutete in Richtung des Torturmes, der den inneren Mauerring zum äußeren öffnete. Von dort kam eine junge Geweihte auf die Ankömmlinge zu. Firian erkannte sofort Schwester Etiliane, die er noch unter ihrem Mädchennamen Coris Fesslin kannte. Sie war die Bastardtochter seines Verwandten Halwar Böcklin von Bockenbach. Firian hatte ihr vor ein paar Götterläufen ein Schlachtross in Obhut gegeben, das nach einem Schlachteinsatz schwer traumatisiert war. Zum Dank für ihre Hilfe bei der seelischen Heilung des Tieres durfte sie es für ihre Ritte durch Weiden nutzen, wenn sie als Dienerin Golgaris ihren Dienst tat. “Eichenkönig”, wie der Teshkaler hieß, stand ebenfalls in dem Stallgebäude, in das die Knappin die Pferde führen sollte. Dorthin war Coris unterwegs, als sie der Ankömmlinge gewahr wurde. Gemessenen Schrittes näherte sich dem Baron. Sie neigte leicht den Kopf und schlug das Boronsrad in seine Richtung, begleitet von einem leisen Segen.
“Möge der Dunkle Vater Euch und die Eurigen seine Gnade zuteilwerden lassen, Hochgeboren! Fühlt Euch willkommen in der heilsamen Stille Etiliengrundes.”

Auf den Hinweis des Stallmeisters sah Firian Coris. Er ging ihr ein paar Schritte entgegen, sich darauf verlassend, dass Stallmeister und Knappin alles weitere bei den Pferden regeln würden.

“Travia zum Gruß Euer Gnaden”, erwiderte er den Gruß angemessen förmlich. Sein Blick ging kurz zu den vielen Vögeln. Die zwar gerade keinen sonderlichen Geräuschpegel verursachen, aber alleine durch ihre Anzahl und Bewegungen die sonst übliche Stille störten.

“Mir scheint, die Vögel haben andere Pläne…gibt es Visionen oder Zeichen, die auf irgendwas hindeuten. Oder täusche ich mich was die Anzahl angeht und diese ist nicht ungewöhnlich hoch?”

Die blasse Dienerin Golgaris drehte sich um. Die schwarze Robe mit den beiden silbernen Raben, die Coris als Etilianerin auswiesen, raschelte. Nach einem langen Blick auf den Vogelschwarm, der sich um die Türme des Klosters und die Felszacken des Rabensattels im Hintergrund wilde Flugmanöver lieferten, erwiderte Schwester Etiliane leise: “Oh, Ihr meint die Finsterkammdohlen, Hochgeboren? Ja, tatsächlich beobachten wir seit einigen Wochen eine gewisse Veränderung im Schwarm. In diesem Sommer sind ungewöhnlich viele Küken geschlüpft und aufgezogen worden. Die aufmüpfigen Jungvögel bringen Unruhe in die Gruppe. Schwester Irmingard, die besonders viel Zeit mit der Beobachtung der Finsterkammdohlen verbringt, meinte gar, dass die Zeichen auf Veränderungen in unserem Umfeld stehen. Sie glaubt, dass eine Verjüngung unserer Klostergemeinschaft ansteht. Nun, das wäre auch gut möglich, schließlich steht Richild kurz vor ihrer Weihe. An ihre Stelle wird eine weitere Novizin treten.”

Was Coris verschwieg, war, dass Schwester Liutperga, die älteste Borondienerin des Klosters, zunehmend ihre mentalen Fähigkeiten verlor. Bruder Nikanor, der Noionit in Etiliengrund, hatte sich alle Mühe gegeben, dem geistigen Verfall Einhalt zu gebieten. Doch vergebens. Die vielen Gebete der Gemeinschaft zu Noiona schienen die Heilige nicht zu beeindrucken. Liutperga wanderte schmatzend durch die Klostergänge, fand bei Nacht keine Ruhe mehr und schien sich weder an die Gebete oder Liturgien noch an die Namen ihrer Mitbrüder und -schwestern zu erinnern. Einzig bei den Chorälen begannen ihre Augen zu leuchten. Dann stimmte sie mit brüchiger Stimme ein und sang selig zu Ehren des Unausweichlichen. Es war nur eine Frage der Zeit bis der geflügelte Bote Borons, der schwarze Rabe Golgari, sie holen würde. Coris wartete bange auf den Tag, an dem sie den Raben an ihrer Bettstatt landen sehen würde. Die Gabe Golgaris bescherte der Etilianerin Visionen, die den Tod eines Menschen ankündigen. Coris war nicht stolz auf diese Gabe, im Gegenteil: oft verfluchte sie diese seherische Fähigkeit.

“Was empfindet Ihr, Hochgeboren, wenn Ihr die Dohlen beobachtet? Welchen Eindruck machen sie auf Euch?”, fragte die Borondienerin einfühlsam.

Firian hatte interessiert der Interpretation der jungen Geweihten zugehört und eine Weile nachgedacht. Geweckt von ihrer Frage kehrte er ins Hier und Jetzt zurück.

 “Wie ihr wisst, bete ich nicht oft zum Dunklen Vater und weiß nicht viel über seine Zeichen und Visionen. Ich nehme aber in den letzten Wochen…eigentlich länger und eher schon seit mehreren Götterläufen, Zeichen und Hinweise vom Weißen Jäger wahr. Zum einen ist das Wild sehr vermehrungsfreudig und ich habe auch das Gefühl, dass meine Bauern und andere Untertanen zahlreicher werden. Vielleicht gab es sogar schon den ein oder anderen, der den Gürtel etwas weiter machen musste. Andererseits wächst in mir die…”, der Baron sah sich kurz um und versicherte sich, dass außer der Geweihten niemand anderes seine folgenden Worte hörte,

“... Angst. Besonders zahlreich sind die Schwarzkittel und könnte man daraus nicht deuten, dass sie ein Hinweis auf die Schwarzpelze sind? Auch viele andere Zeichen deuten für mich auf eine wachsende Bedrohung hin. Ich mache mir große Sorgen, was unter anderem auch ein Grund für mein heutiges Kommen ist. Aber um die Frage zu beantworten: mich beruhigt der wachsende Schwarm mit vielen Jungtieren als Symbol für eine starke, gesunde Gemeinschaft. Aber wenn sie als dunkler Schwarm aus Richtung Gebirge angeflogen kommen…wird mir mulmig.”

 

Coris wurde nachdenklich. Sie hatte den Zusammenhang zwischen den Schwarzpelzen im Finsterkamm und den grau-schwarz gefiederten Dohlen noch nicht hergestellt. Während sie an Firians Seite auf den Torturm mit der Zugbrücke zu strebte, erkundigte sich die Borondienerin mit leiser Stimme: “Habe ich es richtig verstanden, Hochgeboren, dass Eure Sorge dem Kloster gilt? Vermutet Ihr einen eventuellen Angriff der Orks aus dem Finsterkamm heraus?”

Sie wurde extra langsam, damit der Baron ihr antworten konnte, ehe sie den Torturm des inneren Mauerrings erreichten.

 

“Meine Sorge gilt allen, die unter meiner Herrschaft leben…ich weiß nicht, wo der Ork zuschlagen wird, wie schlimm es werden wird…aber nach meinem Gefühl wird es heftig werden und sehr viel Tod und Zerstörung bringen. Doch ich bin auch jemand, den die Götter nicht so berührt haben wie dich zum Beispiel. Niemand der Visionen empfängt und eben auch niemand, der aus dem Flug der Dohlen lesen kann. Deshalb war mir die Frage, wie du den Flug und die große Anzahl interpretierst, so wichtig und ich habe sie als allererstes gestellt.”

 

Die Etilianerin nickte, ohne den Baron anzusehen. Ihr Blick war hingegen auf die um die Türme des Wehrklosters kreisenden Dohlen gerichtet. Einen Moment lang versenkte sie sich in einen sehr tiefgreifenden Wahrnehmungszustand. Coris bemühte sich zu spüren, ob etwas Bedrohliches im Flug der Rabenvögel mitschwang. Tatsächlich aber konnte sie nichts dergleichen wahrnehmen. Nun hob sie den Blick und sah dem Schneehager Baron in die Augen. In ihrem Blick lag Bedauern.
“Leider kann ich den Flug der Vögel gerade nicht in Eurem Sinne deuten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass momentan nichts Bedrohliches in ihrem Lufttanz liegt. Möchtet Ihr Euch vielleicht mit Schwester Irmingard beraten? Sie versteht die Dohlen noch besser zu lesen. Oder möchtet Ihr lieber mit Bruder Nikanor sprechen? Er ist ein ausgesprochen feinfühliger Seelsorger, der sich bestimmt sehr ernsthaft mit Euren Sorgen und Ängsten befassen wird, wenn ihr es möchtet.”

Noch einmal verzögerte die Dienerin Golgaris ihren Schritt, bis sie fast zum Stehen kam, um Firian eine Antwort ohne Ohrenzeugen zu ermöglichen. Sie waren nur noch wenige Dutzend Schritte vom inneren Mauerring entfernt.

 

Firian schien etwas beruhigt zu sein… in Coris Kopf tauchte kurz ein Bild auf. Ein Bär, der von einem großen Rudel hungriger Wölfe gejagt worden war, erreichte eine sichere Höhle und entspannte sich kurz. Der Baron von Schneehag nahm auch wahr, dass Coris die Schritte so verzögert hatte, dass sie beide das Gespräch unter vier Augen zu Ende bringen konnten. Was er mit einem ganz leichten Nicken quittierte.

“Dann bin ich erstmal beruhigt. Das Schicksal lässt uns vielleicht noch etwas Zeit. Wir werden sehen, ob es Tage, Wochen oder Jahre sind…vielen Dank für das Angebot, aber ich würde lieber erst einmal mit dem Abt sprechen und demjenigen, der für die Pflege der Anger an den Hängen zuständig ist.”

 

Ergeben senkte die Borongeweihte den Kopf. “Selbstverständlich, Hochgeboren! Ich werde Euch sogleich zum Abt führen.”

 

Custodes, der Wache am Torturm hielt, nickte und senkte grüßend die Helebarde. Coris beschied dem Baron sich ins Refektorium zu begeben und machte sich auf den Weg zu den Privatgemächern des Abtes. Einige Zeit später erschien die Etilianerin im Refektorium, wo der Schneehager Baron vor einem Becher Tee saß und grübelte.
Innerhalb des inneren Mauerrings lehnten sich diverse Fachwerkhäuser an die Wehrmauer. Eine kleine, offene Schmiede, ein Stall, das Tintenhaus, eine Brennerei für Klostergeist, eine größere Scheune, eine Remise und auch ein kleines Gästehaus mit drei kleinen Kammern standen dort.


“Wenn Ihr mir bitte folgen wollt, Hochgeboren! Der Abt ist nun bereit Euch zu empfangen.”

 

Still war es im Schatten des Borontempels, einzig das Rascheln der bodenlagen Robe der Geweihten und das ferne Krächzen der Finsterkammdohlen unterbrachen die unheimliche Stille. Coris klopfte an die Tür des Anbaus, der sich an die Apsis des Tempels lehnte. Borgol, der Akoluth, der dem Abt persönlich diente, öffnete die knarrende Tür zum Vorraum. Firian kannte die Räume des Abtes bereits von früheren Besuchen in Etiliengrund. Er wartete darauf, in die private Kammer des Klostervorstehers vorgelassen zu werden. Borgol verbeugte sich tief vor dem Baron und schlurfte dann voraus. Er öffnete auch die zweite Tür und ließ Firian eintreten.

Eslamo Etiliano de las Dardas erhob sich mit einem diplomatischen Lächeln von seinem eigens für ihn von einem almadanischen Möbelbauer gefertigten Stuhl. Der filigrane Tisch und die vier kleinen Stühlchen trugen kunstvolle Schnitzereien an den Arm- und Rückenlehnen, welche die Schwingen Golgaris zeigten. Der schwarze Stoff, mit dem die Sitzflächen bezogen waren, glänzte wie Rabengefieder.
“Wie schön Euch wiederzusehen, Hochgeboren!”, begann der Deuter Bishdariels die Konversation. Seine großen, eiskalten Hände legten sich in einer beinahe freundschaftlichen Geste auf die muskulösen Oberarme des Barons. Sowohl der Blick aus den braunen Augen des Almadaners als auch die Begrüßungsgeste, die sich irgendwo zwischen seelsorgerischer Anteilnahme und freundschaftlicher Begrüßung zweier Männer anzusiedeln schien, spiegelten ehrliche Besorgnis. 

Firian kannte die Räume des Klosterabtes bereits von mehreren Besuchen. Trotzdem sah er sich gerne etwas um. Der gebürtige Almadaner hatte einen ganz eigenen Geschmack, den Firian zum einen nicht nachvollziehen konnte und gleichzeitig spannend fand, eben gerade weil er ihm so fremd war. Bei jedem Besuch nach dem ersten, ließ er es sich daher nicht nehmen, Ausschau zu halten nach Neuem.

“Es freut mich ebenso, euch wiederzusehen, Hochwürden!”

Firian schien die Besorgnis nicht aufzufallen oder zu bemerken. Man merkte ihm aber sehr wohl an, dass ihm die freundliche Begrüßung gefiel. Er würde selbst vermutlich sagen, dass ihm das dieser Tage nicht sehr häufig passierte in seiner Heimat.

“Ich hoffe der Segen Borons und seiner Geschwister liegt auf eurem Kloster und eurem Wirken hier?”

“Gewiss, gewiss, Hochgeboren! Boron liebt die Stille und davon haben wir hier auf dem Krähensattel ausreichend”, erwiderte der Abt. “Wie sieht es mit Euch aus? Wünscht ihr den Segen Borons für Euch oder habt Ihr einen anderen Grund warum ihr die Abgeschiedenheit Etiliengrundes aufsucht?” 

Firian zweifelte innerlich zwar ein wenig daran, dass es im Moment so still wie gewohnt auf dem Krähensattel war, alleine schon wegen der vielen Dohlen, aber andererseits fand er selbst auch, dass der Lärm von Tieren und der Natur eigentlich kein Lärm war. Er hatte schon sehr oft inmitten eines lebendigen Waldes tiefe Momente von Ruhe, Frieden und sogar Stille empfunden. Eine beruhigende, friedliche Stille…

“Sagen wir so…ich bin in doppelter Absicht hier. In einer als Landesvater wegen der ich mit euch über ein Vorhaben meinerseits sprechen will und muss. Zum anderen aber auch als… einfacher Mann, dessen Seele und Geist sich nach etwas Stille und Gespräch mit jemandem sehnt, der oder die… nun, sagen wir mal so, eine feste Vorstellung vom Tod und dem Danach hat und absolut keine Zweifel. Versteht ihr, was ich damit meine? Ich beschäftige mich seit etlichen Götternamen intensiv mit dem Tod…gar nicht mal unbedingt meinem eigenen, sondern den von vielen anderen um mich herum.” 

Etiliano de las Dardas Miene blieb ernst, als der Baron sein Vorhaben ansprach. Vor allem als Firian das Bedürfnis nach dem Austausch mit einem Diener des Herrn der Toten äußerte, nickte der Abt bedächtig.
“Nun, Ihr findet in unseren Reihen viele einfühlsame Seelsorger und ausgewiesene Kenner des letzten Weges. Gerne kann ich Euch auch meine Wenigkeit als Seelsorger anbieten. Selbstverständlich werden wir alle versuchen, Euch auf Eurer Suche nach der letzten Wahrheit zu unterstützen. Doch nehmt erst einmal Platz, Hochgeboren! Kann ich Euch etwas zum Trinken bringen lassen?”

“Ich nehme gerne noch einen weiteren Becher von dem Tee, den es schon im Refektorium gab.”

Nachdem der Baron sich auf einem der eleganten Stühlen niedergelassen und Borgol gegenüber seinen Wunsch nach einem Tee geäußert hatte, nahm auch der Abt wieder Platz. Er faltete seine Hände im Schoß und schwieg einen Moment lang. Dann hob der Deuter Bishdariels seinen Blick wieder von den gefalteten Händen in die Augen seines Gegenübers. Eine Mischung aus Neugier und Erwartung einer wichtigen Botschaft sprachen aus den braunen Augen des Almadaners. 
“Wollen wir mit dem Vorhaben des Landesherrn beginnen?” 

“Gerne…das andere Vorhaben ist eher was für eine kleinere Runde, denke ich und würde mich freuen, wenn wir beide darüber sprechen würden.

Bei meinen Landesherrliche Vorhaben handelt es sich um etwas, was ich schon länger auf dem Gewissen habe. Bisher fehlten mir dazu aber die Mittel. Doch bei einer meiner letzten Reisen ergab sich eine Gelegenheit, die mich in die Lage versetzt, diese Sache nun anzugehen.”

Der Baron von Schneehag griff in die Umhängetasche und holte eine größere Geldkatze hervor, die prall gefüllt mit Münzen war. Er setzte diese auf den Tisch vor ihm und auch beim absetzen hörte man dass sie voller schwerer Münzen war.

“Hat Cor… Schwester Etiliane euch von der Grablege meiner Familie berichtet?” 

Die Augen des Abtes weiteten sich als der Baron den prall gefüllten Beutel mit klingelnden Münzen auf den Tisch setzte. Elsamo Etiliano de las Dardas wurde unter den streng boronfrommen Mitbrüdern und Mitschwestern oftmals etwas schief angesehen, da er, ganz konträr zur Lehre der Boroni, den weltlichen Freuden und dem Materiellen durchaus zugewandt war. Lehrte man doch im Puniner Ritus, dass man sich lossagen sollte von weltlichem Tand, von Geld, Verschwendungssucht und Genüssen. Askese und Entsagung waren die Tugenden der frommen Borongläubigen und erst recht der Geweihtenschaft des Dunklen Vaters. Entsprechend konnte der Baron am Zucken der Mundwinkel des Klostervorstands und dem interessierten Blick deutlich Neugier und sogar so etwas wie Vorfreude ablesen. Nur mühsam konzentrierte sich der Abt auf die Frage, die Firian ihm gestellt hatte. 
“Schwester Etiliane? Grablege? Äh, ich, meint Ihr die Familiengruft auf dem Bockenstein für die sie eine Akoluthin angelernt und geweiht hat?” 

Firiann ignorierte die Reaktion auf den Beutel Münzen oder nahm sie vielleicht auch gar nicht wahr, sondern ging gleich auf die Antwort des Abtes ein. 

"Ja, ganz genau… Die meisten Weidener, Boron sei es geklagt, bevorzugen ja eine Beerdigung ihrer Körper nach dem Ritus der Kirche der Sturmleuin…also der Verbrennung. Doch ist so eine Feuerbestattung ja auch nicht ohne, allein durch die nötige Menge an Holz. Andererseits ist die Zahl der Anger, die vernünftig betreut werden können, aufgrund der geringen Anzahl der Boronggeweihten, ja auch recht gering. Wie auch immer und was auch zuerst da war, kann ich nur meinen Teil beitragen und mich im Bereich meines Lehens kümmern. Ein erster Schritt war ja die Grablege meines jüngeren Bruders.”

Derenald Scranor Böcklin von Buchsbart zu Schneehag war als Golgarit im Jahr 1032 BF irgendwo in der Rabenmark gestorben. Zwei Mitgliedern seiner Lanze, ein Geschwisterpaar, fast noch Kinder, die er in seine Obhut genommen hatte, haben seinen Leichnam etliche Götternamen später nach Hause gebracht. Weil sie von der Tradition der Böcklinfamilie wussten, möglichst alle ihre Toten in der Familiengrablege zu bestatten. Doch damals war entschieden worden, dass Derenald aufgrund seiner Verbindung zur Boronkirche und Tätigkeit als Golgarit besser in direkter Nähe zu den Geweihten des Dunklen Vaters bestattet werden sollte. Also hatte man damals ein sehr kleines Plateau an den Flanken des Krähensattels ausgesucht, ihn dort begraben und eine Stele zu seinem Gedenken errichtet.

“Nun bin ich wie gesagt in die Lage gekommen einen nächsten Schritt zu gehen und die Pflicht zur Fürsorge gegenüber meiner Untertanen mit meiner Pflicht den Schwarzpelz zu bekämpfen überein zu bringen. Das führt mich hierher und zu der Frage wer sich von den Klosterbewohnern am besten an den Hängen des Krähensattels inmitten des Dornendickichtes auskennt?” 

Der Abt nickte traurig, als der Schneehager Baron darauf hinwies, dass in Weiden eher selten die Körperbestattung durchgeführt wurde, die die Boronkirche bevorzugte. Grundsätzlich tat sich die Lehre des Ewigen schwer im Herzogtum. Man fürchtete den Totengott und mied seine Vertreter. Dann kam der Böcklin auf den Grund seines Besuchs zu sprechen. Es ging scheinbar um etwas Ähnliches wie die Grablege für seinen jüngeren Bruder, den Golgariten Derenald Scranor Böcklin von Buchsbart zu Schneehag.
“Ich erinnere mich”, erwiderte Eslamo Etiliano de las Dardas. “Die jungen Leute haben sich damals einen schönen Platz für die Grabstelle ausgesucht. Die Deuterin Golgaris, Schwester Irmingard, ist in diesem Fall Eure Ansprechpartnerin oder die junge Geweihte Schwester Etiliane. Ich denke, Ihr solltet Euch mit beiden unterhalten. Soll ich sie holen lassen? Oder möchtet Ihr Euch mit ihnen alleine unterhalten? Schwester Irmingard dürfte gerade im Etilianerturm sein und die Novizen unterrichten. Schwester Etiliane dürfte inzwischen auch dort sein.” 

“Ich denke, wenn eine von beiden dabei ist, wäre das schon gut. Ihr solltet aber auch dabei sein, da es um etwas geht, das am Ende in eurer Entscheidungsgewalt liegt.” 

Der Deuter Bishdariels nickte. “So soll es sein. Ich werde Euch zum Etilianerturm bringen. Dann können wir es gleich mit beiden besprechen und womöglich auch eine Ortsbegehung in der Flanke des Krähensattels machen.”

 

Der Abt erhob sich und führte Firian durch das Bethaus des Borontempels. Als sie den Altar mit dem steinernen Bildnis Golgaris erreichten, schlug der Hochgeweihte das Boronsrad. Gemessenen Schrittes durchmaß er das Langhaus, den selbst tagsüber düster wirkenden Tempelraum. Eine schwere Eichentür schloss das Langschiff zum Finsterwachtturm ab. Hier wählte de las Dardas jedoch eine kleine Tür in der Außenmauer, um seinen Gast nach draußen zu geleiten. Dem Finsterwachtturm gegenüber lag der Etilianerturm in die Wehrmauer eingebettet. Der Abt schob vorsichtig die Tür auf. Wie erwartet fand in dem Gemeinschaftsraum im Erdgeschoß der Unterricht der Novizen statt. Schwester Irmingard las aus einem schweren Folianten vor. Andächtig lauschten die fünf Novizen. Als sie die Tür knarren hörte, unterbrach sie ihre Lektion und sah auf.
“Hochwürden?”, fragte sie leise. “Wie kann ich Euch dienen?” 

Eslamo Etiliano de las Dardas öffnete die Tür weiter und gewährte der Etilianerin einen Blick auf seinen Begleiter.
“Besteht die Möglichkeit, dass Ihr und Schwester Etiliane sich freimachen könnten? Der Baron von Schneehag hat ein Anliegen, das Eure Anwesenheit notwendig macht.”

Schwester Irmingard nickte kurz. Sie rief Richild zu sich. Die älteste Novizin, ein zartes Mädchen von annähernd zwanzig Wintern, erhob sich. Sie trug das blonde Haar streng zurückgekämmt und im Nacken zu einem Knoten gebunden.
“Du übernimmst, Richild. Lies noch das Kapitel zu Ende. Die Besprechung des Inhalts machen wir dann morgen. Wenn du damit fertig bist, ist der Unterricht für heute beendet.”

Richild nickte gehorsam und nahm den Folianten aus den Händen der Älteren entgegen. Sie wartete, bis Schwester Irmingard mit dem Abt und dem Gast den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann setzte sie die Lektüre fort.

 

Draußen vor dem Etilianerturm fragte der Abt nach Schwester Etiliane. Irmingard beschied beiden Männern, dass die Dienerin Golgaris im Lesesaal war. Sie rief einen Akoluthen zu sich, der gerade aus dem Etilianerturm kam, die junge Geweihte zu holen. Wenig später waren sie schließlich zu viert.
“Wollen wir uns vielleicht in den Refektoriumsturm begeben? Dort in der Bibliothek werden wir die nötige Ruhe finden.”

Der Vorschlag Irmingards fand Anklang. Wenig später saßen die vier in der kleinen Bibliothek des Wehrklosters. Beide Etilianerinnen saßen aufrecht und schweigend vor den beiden Männern, die Hände sittsam im Schoß gefaltet. Sie warteten darauf, dass der Abt und sein Gast sich ihnen erklärten.
Eslamo Etiliano de las Dardas übergab dem Schneehager Baron das Wort.

 

Firian begrüßte beim jeweiligen Treffen die anderen Klosterbewohner kurz, verhielt sich ansonsten aber borongefällig still und ließ den Abt gewähren. Er ging, während man durch das Kloster lief, ein wenig in sich und versuchte die Stimmung aufzunehmen. So empfand er für einen kurzen Moment so etwas wie Frieden, ein Gefühl, das so gut wie nie in seinem Alltag vorkam. Dort waren seine Gedanken fast durchgehend von Sorgen und Überlebenskampf geprägt…seit vielen Götterläufen nun schon. Er dachte kurz an seinen Vater, der auf einer Pilgerreise zu Ehren des Weißen Jägers verschwunden war. Bevor er diesen Gedanken aber weiter nachgehen konnte, übergab der Abt ihm das Wort.

“Nun…ich will nicht zu weit ausholen und habe bei dem Abt ja auch schon angedeutet, was ich vorhabe. Die Adelsfamilien der Mittnacht haben größtenteils ihre Grablegen und bestatten in der Regel ihre Toten wenn auch, Boron sei es geklagt, meistens nicht nach dem Ritus des Dunklen Vaters. Doch das trifft auf die Gemeinen nach meinem Empfinden nicht im gleichem Ausmaß zu. Eine Feuerbestattung benötigt sehr viel Holz und Geweihte des Ewigen sind kaum vorhanden in der Mittnacht. Dazu kommt ja noch das viele, besonders hier in der Trutz, nicht eines normalen Todes sterben, sondern im Kampf gegen den Schwarzpelz niedergestreckt werden. Schon lange möchte ich da etwas tun, doch bis vor kurzem fehlten mir die Mittel dazu. Durch einen glücklichen Umstand während einer Reise vor einiger Zeit gen Elenvina hat sich dies nun geändert. Ich habe dem Abt bereits die Geldkatze in seine Obhut gegeben. Mein Wunsch ist es, dass wir an den Hängen des Krähensattels inmitten des Schlehendickichtes ein Plateau finden, das eine gewisse Größe hat. Dort möchte ich, dass in Zukunft diejenigen bestattet werden, die im Kampf gegen den Schwarzpelz gefallen sind und nicht von Stand sind. Bei den Gräbern selbst dachte ich an sowas wie einen schlichten Stein. Eingangs des Angers aber eine…nun prächtige ist das falsche Wort, daher sage ich eine auffällige Stele. Verziert mit entsprechenden Segnungen, Todesdatum, vielleicht einem passenden Relief und einem Opferstock. Ein Ort wo eventuelle Angehörige gedenken können, ohne den Anger direkt betreten zu…müssen, was sie ja eventuell abhalten würde.”

Firian schwieg nach seiner Erklärung erst einmal, um seinen Gesprächspartnern die Möglichkeit zu geben, darauf zu reagieren.

Dem sanften Lächeln des Abtes war zu entnehmen, dass er sich eine solche Gedenkstele gut vorstellen konnte. Die beiden Dienerinnen Golgaris nickten verstehend. Schwester Irmingard wandte sich an Coris. “Nun, ich könnte mir vorstellen, dass das höchste Plateau, das man erreicht, wenn man vom Südturm in der Außenmauer in den Schlehenhag hinabsteigt, sich geradezu perfekt anbietet. Die Fläche ist die längste Zeit des Tages in der Sonne. Sie ist ausreichend groß für einen geweihten Boronanger für diejenigen, die im Kampf gegen den Schwarzpelz zu Boron berufen wurden. Und man könnte auch gleich beim Eingang die Stele aufstellen, die Ihr Euch vorstellt. Vielleicht könnte man gar den Eingang vom Fußweg zum Plateau mit einem Torbogen hervorheben. Wie seht Ihr das, Hochwürden?” 

Eslamo Etiliano de las Dardas nickte.

“Grundsätzlich bin ich damit einverstanden. Das klingt sehr gut. Vielleicht müssen wir noch überlegen, ob der Platz ausreichend ist. Ich bin lange nicht dort gewesen, aber das könnte ich mir auch als einen geeigneten Platz vorstellen. Er überblickt förmlich die anderen, kleineren Plateaus, ähnlich wie es an der Nordseite mit dem Platz für die verstorbenen Geweihten ist. Wie seht Ihr das, Schwester Etiliane? Ihr seid doch häufig dort.” 

Coris nickte eifrig. “Das ist ein hervorragender Platz! Ich persönlich liebe diesen Ort! Darf ich Euch dorthin führen?” 

Firian war sich für einen kurzen Moment nicht ganz sicher, ob er gemeint war oder der Abt. Deshalb dauerte seine Antwort ein paar Herzschläge länger.

“Das hört sich recht vielversprechend an und ich würde es mir gerne einmal ansehen. Das Grab meines Bruders möchte ich aber auch noch besuchen und dann hoffe ich noch auf ein Vieraugengespräch mit dem Abt. Lassen die Pflichten der Klostergemeinschaft das alles zu?” 

Die Etilianerin sah den Klostervorsteher fragend am. Elsamo Etiliano de las Dardas nickte. “Solange Ihr mich außerhalb der Gebetszeiten aufsucht, bin ich ganz Ohr.”

Schwester Irmingard nickte ebenfalls. “Wenn es Euch nicht stört, würde ich mich gerne wieder um die Novizen kümmern. Schwester Etiliane wird sich Eurem Anliegen annehmen, Hochgeboren. Sie ist in diesen Dingen sehr kompetent und kennt sich hervorragend bei den Grabstätten und in der Umgebung Etiliengrunds aus. Außerdem hat sie die jüngeren Beine. Es geht durchaus steil bergab und später wieder bergauf.”

Aus dem letzten Satz konnte man erahnen, dass die ältere Schwester den Weg ins steile, unwegige Gelände mied. 

Firians Blick blieb zunächst auf dem Abt und nickte diesem als Antwort auf seine Aussage zu, verbunden mit einem leichten Lächeln und den Worten:

“Daran wird es sicherlich nicht scheitern. Wenn es so wäre, lehrt der Weiße Jäger seinen Jüngern auch Geduld zu haben.”

Danach wandte er sich an die beiden Frauen:

“Das passt für mich. Von mir aus können wir sofort los. Da ich das fragliche Plateau noch nicht kenne, übernehmt gerne die Führung und entscheidet ob wir erst meinen Bruder besuchen oder das neue Gelände, Schwester Etiliane.”

Coris nickte erfreut. “Dann würde ich das Plateau vorschlagen. Denn noch liegt es in der Sonne und wir können von dort aus weiter zu der Grablege Eures Bruders, Hochgeboren. Wenn Ihr mir bitte folgen wollt…”

 

***

 

Die schlanke Dienerin Golgaris nickte ihren Glaubensgeswistern in demütiger Geste zum Abschied schweigend zu und schob die Tür der Bibliothek auf und ließ den Baron vorangehen. Als sie außerhalb des Etilienturms ankamen, übernahm Coris die Führung. Sie schritt schweigend, mit in den weiten Ärmeln ihrer Robe ineinander verschränkten Armen. Mit dem Schneehager Baron im Schlepptaus verließ sie den inneren Mauerring über den Torturm, wandte sich nach Links und lief auf das südliche Türmchen zu. Dort wandte sie sich kurz zu Firian um.
“Ich hoffe eure Kleidung ist robust, denn die Schlehenbüsche haben Dornen und reißen manchmal unschöne Löcher in den Stoff.” 

Firian nickte Coris dankbar für die Warnung zu und legte seinen Wappenrock ab. Auch wenn dieser aus recht dickem Stoff bestand. Nun trug er, abgesehen von einem kurzen Stück zwischen Saum und Stiefeln, nur noch lederne Kleidung. Sein langärmliger und knielanger Lederharnisch war zweilagig und mit eingesetzten Metallplättchen zwischen den Schichten. Dagegen sollten die Dornen machtlos sein. 

Sie zückte einen Schlüsselbund und sperrte das hölzerne Tor in dem Türmchen auf. Der runde Raum war nicht groß, vielleicht drei Schritte im Durchmesser. Auf der Gegenseite befand sich ebenfalls eine Tür. Die Geweihte öffnete auch diese mit einem Schlüssel. Als sie nach draußen kamen, konnte man sofort den Niveauunterschied zwischen dem Innenraum der Klostermauern und dem Steilhang dahinter erkennen. Mehrere Stufen führten abwärts. Ein schmaler Fußweg führte durch das Schlehendickicht steil in Serpentinen abwärts. Die Borongeweihte raffte ihre Robe zusammen und hielt sie eng am Körper. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. An der ersten Wegbiegung blieb sie stehen und sah sich um, ob der Baron ihr folgen konnte. 

Dieser war beim Heraustreten aus dem Gebäude kurz stehen geblieben und hatte die so plötzlich vor ihm befindliche Natur begutachtet. Nach ein paar Herzschlägen folgte er Coris dann aber.

In der zweiten, sehr engen Kurve zweigte ein noch schmalerer Trampelpfad ab. Hier angelten die dornenbewehrten Zweige mit den blau-schwarzen Früchten nach den Kleidern der beiden. Mehrere Male musste Coris Zweige vorsichtig beiseite schieben und Firian in die Hand geben, damit sie nicht zurückschnellten und dabei Kleidung und Haut zerrissen. Die mehr als mannshohen Pflanzen ließen keinerlei Orientierung zu, doch Coris bewegte sich mit schlafwandlerischer Sicherheit durch das Gestrüpp. Urplötzlich wichen die Büsche zurück und sie betraten ein Plateau. Dünnes, kurzes Gras, Kies und der anstehende Fels des Krähensattels bildeten ein eigentümliches, natürlich gewachsenes Bodenmosaik. Rechts und links wurde das Plateau von den Schlehen gesäumt, die Südseite, die direkt vor Coris und Firian lag, ging in eine steile Felswand über. Die Dienerin Golgaris blieb stehen. Man konnte sehen, dass sie den Ausblick auf die Landschaft vor ihnen, die Senke zwischen dem Dorf Schneekrumme und dem erhöht liegenden Kloster, die dem Boronkloster den Namen gegeben hatte, genoss. Es schien fast, als habe sie vergessen, weshalb sie dorthin gegangen war. Nach einer kleinen Ewigkeit drehte sie sich zu Firian um. Sie beobachtete ihn genau, schien in seinem Gesicht lesen zu wollen, ob sich die Magie des Ortes auch auf ihn übertrug. 

Der Baron von Schneehag hatte sich ganz offensichtlich die Zeit nicht lang werden lassen, während Coris die Natur aufgenommen hatte. Auch er sah sich seelig um und man merkte ihm an, wie sehr er die Natur liebte. Dazu wusste er um den Wert eines solchen über viele Jahre gewachsenen Schlehendickichtes. Durch solch eine Verteidigung gab es nur ein sehr langsames und mühsames Durchkommen. Man konnte kaum eine Bresche in das buschige Pflanzenwerk mit Klingen oder Äxten schlagen und in Brand stecken war auch unheimlich schwierig. Die Büsche gediehen hier wirklich sehr gut und jede Pflanze, die sichtbar war, befand sich in einem guten Zustand. In dem Moment, als Coris sich umdrehte, war der Baron gerade auf ein Knie gegangen und hatte etwas Erde aufgehoben. An dieser roch er gerade, als Coris Blick ihn traf.

Die Borongeweihte erinnerte sich in diesem Moment an ein kurzes Brummen, was sie auf dem Weg hierher gehört hatte und erkannte nun die Ursache dafür. Einer der Zweige schien doch eine Lücke gefunden zu haben und ein langer Dorn hatte sich zwischen Firians Augenbraue und Ohr tief in die Haut gebohrt und war zu allem Überfluss anschließend abgebrochen. Keine schwere Verletzung, aber trotzdem sollte er nicht stecken bleiben. Ganz offensichtlich war der Dorn aber so unglücklich abgebrochen, dass man mit Fingern vermutlich scheitern würde. Firian ignorierte das Ganze aber vorerst. 

“Ein wirklich großartiger Platz für mein Vorhaben. Ich wäre froh, wenn ich selbst solch eine Ruhestatt bekäme, wenn es so weit ist. Lässt der Boden hier denn auch das Ausheben von Gräbern zu oder müsste man Steine oder Erde über die auf den Boden gelegten Leichen schichten?” 

Coris freute sich, dass dem Baron der Platz gefiel. Auf seine Frage antwortete sie ehrlich: “Nun, es ist nicht viel Humus über dem anstehenden Fels, aber diese Plateaus hier sind recht windgeschützte Stellen, an denen sich durchaus etwas Erdreich angetragen hat. Man könnte die Grablege für die im Kampf gegen den Schwarzpelz soweit wie möglich in den Boden eintiefen und darüber ein Beinhaus errichten. So könnten die Verstorbenen zunächst bestattet werden, bis ihr Fleisch vergangen ist, und danach die Knochen in das Beinhaus überführen. Ein solches Ossarium ist durchaus nichts Ungewöhnliches in Regionen mit derart felsigem und kargem Boden.” 

Neugierig, wie der Baron ihren Vorschlag aufnahm, sah die Etilianerin in Firans Gesicht. Für sie war der Umgang mit dem Tod, sowie den menschlichen Überresten eine alltägliche Angelegenheit. Mehr noch, Coris ganze Fürsorge galt den Todgeweihten, den Sterbenden und den Leichen, die sie auf ihren letzten Weg vorbereitete. 

Für Firian war der Tod zwar auch Alltag, wenn auch mehr anhand von Jagdwild. Aber mit Beerdigungsriten beschäftigte er sich weniger. Er war zwar nicht ganz so sehr von der Boronkirche und ihrer Nähe zum Tod abgeschreckt wie viele andere Weidener, aber allzu intensiv wollte er sich nicht mit der ganzen Sache beschäftigen, solange er nicht schon Golgaris Schwingen hörte.

“Dafür bist du hier…ich hab keine Ahnung was ein Ossorium ist und ob man hier sowas errichten kann. Wenn damit den Seelen der Toten aber geholfen ist und die Angehörigen, so es denn welche gibt, einen Ort zum Trauern haben, soll es so sein. Mir ist es wichtig, dass sie nicht irgendwo verscharrt werden, ohne ordentlichen Segen und dass am Ende noch ein Orkschamane kommt und sein Unwesen treibt.”

Für einen Moment schwieg Firian bevor er doch noch einmal anhob

“Das hört sich dann aber noch gehörig viel Arbeit an…oder ist so ein Ossorium nicht so aufwendig?”

Coris grübelte ein wenig. Ein Ossarium barg, weil es oberirdisch angelegt wurde, durchaus eine gewisse Gefahr, von Orkschamanen entweiht zu werden. Doch wenn es jemand darauf anlegte, würde ihn vermutlich wenig abhalten.
“Nun, ein geweihter Ort ist es allemal, wir werden die notwendigen Vorkehrungen treffen. Ich gehe davon aus, dass sich die Arbeit an dem geweihten Boronanger für die Gefallenen innerhalb weniger Tage abschließen lässt. Wir haben genügend Akoluthen und Helfer für ein Projekt, das dem Baron von Schneehag am Herzen liegt. Die Stele muss natürlich graviert werden. Doch auch dafür haben wir jemanden, der das erledigen kann. Wo wolltet Ihr sie positioniert haben?” 

Firian sah sich noch einmal um, sein Blick fixierte dann aber den Eingang zu dem kleinen Plateau.

“Ich denke, die Stele sollte direkt am Eingang stehen. Dann kann jeder zur Not auch dort beten, ohne den Anger selbst direkt zu betreten. Außerdem, denke ich, bietet sie dort auch eine Art Schutz. Von allen anderen Seiten wird der Anger ja von Dornenbüschen geschützt. Aber der Eingangsbereich hat ja kein Tor oder sowas.”

“Dann sollten wir uns Gedanken machen, wie viele Gefallene in der Grablege ihre letzte Ruhe finden sollen und welchen Standes die Verstorbenen haben werden. Wollt Ihr nur Kriegern, also Rittern, ihren Knappen und Gefolgsleuten eine Gedenk- und Ruhestätte bieten oder auch denjenigen, deren Dörfer vom Ork überfallen werden?”
Die Borongeweihte machte sich ganz praktische Gedanken. So viel Platz war nun auch nicht auf dem Plateau, vor allem wenn man sie nach Stand trennen musste. 

Diese Frage konnte Firian schnell beantworten.

“Ich möchte, dass hier Schneehager Verstorbene bestattet werden, die nicht von Stand sind. Diese haben in der Regel keine Familien, Geld und Besitz, mit dem sich um eine passende Beerdigung gekümmert wird. Dabei denke ich sowohl an diejenigen, die im Kampf gefallen sind, aber vor allem diejenigen, die bei Überfällen von den zwölfmal verfluchten Schwarzpelzen hingeschlachtet werden. So aus dem Leben gerissen, kann ich mir vorstellen, dass die größte Gefahr besteht, dass ihre Seelen keine Ruhe finden und umgehen. Dazu gehört auch, dass keine Angehörigen mehr da sind, um sie anständig zu bestatten oder schlicht nicht die Mittel dafür. Ihnen soll hier eine Ruhestätte gegeben werden und jemand da sein, der sich um ihre Seelen kümmert, sollten diese unruhig werden.” 

Die Dienerin Golgaris nickte. Der Schneehager Baron war erstaunlich boronfromm. Sie wusste um seine Firunfrömmigkeit, doch in den vergangenen Götterläufen hatte sie auch feststellen können, dass er dem Dunklen Vater mehr und mehr Verständnis entgegen brachte, je älter er wurde. Die Argumentation zu der geplanten Grablege hätte sie nicht besser formulieren können. Coris selbst war ein Opfer der Schwarzpelze. Ihre Eltern waren einst im dritten Orkensturm getötet worden. Die überlebenden Verwandten hatten sie schließlich als Waisenkind ins Boronkloster Etiliengrund gebracht. Ihren Weg zur Dienerin des Herrn der Toten hatte sie über die Fürsorge der Noioniten und die liebevolle Zuwendung der Etiliengrunder Geweihtenschaft gefunden. 

Firian sah sich um und versuchte einzuschätzen, wie viele Gräber wohl auf das Plateau passen würden. Er rang sich zu einer weiteren Frage durch: “Wie lange wird es wohl dauern, bis hier an diesem Ort das Fleisch vergangen ist und die Gebeine in das Ossarium gebracht werden können?”

“Nun, die Bedingungen hier sind günstig. Der Boden eher trocken. Nach ca. 2-3 Götterläufen sind fast alle Körper vergangen, wenn man sie nur in ein Tuch gehüllt in den Boden legt. Dann kann man die Knochen umbetten”, erwiderte die Borondienerin ungerührt und sachlich. 

Eine Arbeit, die Firian niemals freiwillig machen wollte, aber froh war, dass die Diener des Dunklen Vaters es übernehmen würden. Mit etwas düsterem Tonfall und Stimme sagte er: “Nun, dann hoffe ich, dass wir beide nicht erleben werden, dass die Schwarzpelze so viele Opfer fordern, dass es hier keinen Platz mehr gibt! Dann würde ich sagen, so soll es geschehen oder gibt es noch etwas?” 

Die Borongeweihte neigte leicht den Kopf. “Der Dunkle Vater möge es fügen”, erwiderte sie. Dann hob sie den Kopf wieder, um dem Baron zu antworten.
“Ihr wolltet das Grab Eures Bruders besuchen. Es gibt mehrere Möglichkeiten, dorthin zu gelangen. Über die Bergflanke, durch die schmalen, schlehengesäumten Wege, die sich zwischen den einzelnen Plateaus bergauf und bergab ziehen, oder wir gehen zurück und durch eine andere Pforte in der äußeren Wehrmauer. Was ist Euch lieber? Ich gebe zu bedenken, dass der letztere Weg der sicherere für Eure Kleidung ist.”

Firian schien sich gerade für den ersten Weg entscheiden zu wollen, als er sich noch einmal irritiert an den Kopf fasst.

“Ich denke es ist besser, wir nehmen den Weg durch das Kloster und können vielleicht vorher irgendwo anhalten, wo wir eine Nadel oder Ähnliches finden. Der Schlehendorn sitzt so tief, ich bekomme ihn mit den Fingern nicht raus und er scheint auf irgendwas zu drücken jedenfalls will sich ständig mein Auge schließen!”

Jetzt erst schien Coris den Dorn wahrzunehmen, der sich zwischen Augenbraue und Ohr in die Haut des Schneehager Barons gebohrt hatte, so dass sich eine blutige Spur über Firians Wange zog.

Erschrocken nickte sie. “Beim Unausweichlichen! Das sieht wahrlich nicht gut aus, Hochgeboren. Wir sollten unbedingt zunächst den Dorn herausziehen und Euch verbinden. Verzeiht meine Unachtsamkeit. Ich bin untröstlich, dass mir die Verletzung entgangen ist. Lasst uns gleich gehen!” 

Sie stieg zügig durch das Schlehendickicht aufwärts. Mit dem Baron im Schlepptau lief sie zum Noionitenturm. Sie wusste, dass Nikanor sich gut auf das Behandeln nicht nur seelischer Wunden verstand. 

Der Baron winkte ab, als es um das Verbinden ging. “Ein Kratzer für wahr keines großen Geweses wert…, aber der Dorn sollte raus das ist nicht gut sowas im Körper zu lassen!” 

Coris kommentierte diese Aussage nicht weiter. Sie begann vor Firian den Weg zurück zum Kloster zu erklimmen. Wenig später nahm sich der Noionit des Dorns an, der sich in die Wange des Barons gebohrt hatte. 

Firian ließ die kurze Behandlung wortlos über sich ergehen. Er verzichtete auf einen Verband oder Ähnliches und ließ lediglich den Heiler eine Daumennagel große Menge Salbe, die hauptsächlich aus dickflüssigen Honig bestand, auf die Einstichstelle geben. Firian bedankte sich kurz für die Hilfe.

 

Einige Zeit später machten sich die beiden erneut auf den Weg zu den ungewöhnlichen Boronangern, der sich auf den kleinen Terrassen zwischen den Schlehenbüschen ausbreiteten. Vom äußeren Mauerring ging es auf mehreren Terrassen, die umrahmt von den dornigen Schlehen geschützt vor dem Blick der profanen Besucher waren. Auf der obersten Terrasse lagen die Gräber der ehemaligen Äbte und Äbtissinnen, auf der Ebene darunter die Borondiener: die Geweihten, Novizen und Akoluthen. Und auf der untersten Ebene die Klosterbewohner, die im Dienst der Boroni gestanden hatten. Von der zweiten Ebene ging ein kleiner Weg, der wie Firan schmerzhaft feststellen musste, wohl nur selten begangen wurde. Schwester Etiliane ging langsam. Sie bog wieder und wieder die dornigen Äste beiseite, warnte den Baron vor den Dornen oder schnitt mit einer Sichel, die an ihrem Gürtel hin, widerspenstige Äste ab. Schließlich erreichten sie ein kleines Plateau auf dem eine steinerne Stele mit eingemeißelten Boronsrad die Grabstätte des Golgariten Derenald Scranor Böcklin von Buchsbart zu Schneehag anzeigte,
Die Dienerin Golgaris schlug das Boronsrad in die Luft und blieb am Rande des Begräbnisplatzes stehen, um Firian den Vortritt zu lassen.

 

Firian hatten den Weg schweigend hinter sich gebracht. Nachdem ihm die Spuren einer selten besuchten Grabstelle zunächst geschmerzt hatten, gewann nun langsam ein anderer Gedanke die Oberhand. Sein kleiner Bruder hatte hier die Ruhe gefunden, die er als großer Verehrer Borons und ehemaliger Golgarit wahrscheinlich gemocht hatte. Gleichzeitig gefiel Firian, dass er ein Grab hatte, das so nah an einer Beerdigung in der wilden Natur kam, wie es wohl auf einem betreuten Anger nur möglich war. Als sie das kleine Plateau erreichten, ließ Coris ihn vorbei. Firian konnte das Grab und die Stele sehen. Langsam ging er ein erstes und danach ein zweites Mal um das Grab herum und versuchte alles wahrzunehmen, was sich hier befand. Wieder bei der Stele und am Fuß des Grabes angekommen, ging Firian auf ein Knie und neigte den Kopf. Lautlos sprach er ein Gebet, Coris konnte lediglich sehen, dass sich die Lippen des Schneehager Barons ab und zu leicht bewegten. Während des Gebetes nahm Firian mehrfach etwas Erde vom Grab. Er roch daran, sprach etwas in die Faust voller Erde und verstreute sie dann wieder über dem Grab. Fast am Ende griff er in eine Tasche und holte sicherlich ein Dutzend getrocknete Wacholderbeeren hervor, die er ebenfalls über dem Grab verstreute. Schließlich erhob er sich und ging an das andere Ende des Grabes. Dort angekommen holte er aus seiner Umhängetasche zwei lange Reißzähne, die an der Basis ein kleines Loch hatten, durch die ein Lederriemen ging. Er legte diese Jagdtrophäe auf das Grab und verweilte erneut einen Weile. Dann erhob er sich und sah in Coris Richtung. Fast so als ob er sie fragen würde, ob sie auch noch etwas sagen wollte.

 

Die Borondienerin beobachtete zufrieden die Frömmigkeit des Barons. Es gefiel ihr, dass der Lehnsherr des Klosters sich derart tief ins Gebet versenken konnte. Sie vermeinte sogar, einen göttlichen Funken im spirituellen Handeln des Böcklin zu erkennen. Seinem jüngeren Bruder hätte dies gewiss gefallen. Als Firian sein Gebet mit einer Gabe beendet hatte, näherte sie sich ihm. Sie erkannte zwei Zähne eines Tieres, dass sie zwar als die Fangzähne eines großen Raubtieres erkannte, nicht aber einem bestimmten Raubtier zuordnen konnte. Sie wusste, dass eine solche Opfergabe im Firunkult üblich war, was schließlich auch zur tiefen Firunfrömmigkeit des Schneehager Barons passte.

Coris erwiderte den Blick des Barons und sprach leise, fast flüsternd zu ihm.
“Möchtet Ihr, dass die Gabe für Euren Bruder im Kloster aufbewahrt wird oder später im neu errichteten Ossarium einen angemessenen Platz bekommt? Wenn Ihr sie hier auf dem Grab liegen lasst werden gewiss die Finsterkammdohlen kommen und sie holen. Sie lieben solche Mitbringsel, um ihr Nest zu schmücken.”

 

Firian dachte tatsächlich eine ganze Weile nach, bevor er antwortete.

“Im Normalfall würde ich sagen, dass sich die Vögel diese Beute ruhig holen sollen, das ist der Lauf der Natur. Andererseits bin ich als Waidmann ja auch nicht gefeit darin, die Trophäen meiner Jagderfolge auszustellen…sie an die Wand zu hängen oder mir Dinge aus ihnen anzufertigen.”

Firians Blick schweifte kurz ab und seine Hand ging auf den Griff seines Eberfängers der aus einem Geweihstück gemacht worden war.

“Mein kleiner Bruder kann aber nicht mehr auf die Jagd gehen und neue Trophäen für sich erringen. Diese Zähne stammen von einem Wild, das wir beide, zusammen mit unserem Vater, kurz vor seiner Abreise errungen haben. Ich glaube das war das letzte Mal dass wir drei miteinander gesprochen haben. Kurz danach ging er zu seinem Orden und mein Vater zum Weißen Jäger. Beide habe ich nach diesem Tag nie wiedergesehen. Ich glaube, es würde mir gefallen, wenn ihr dafür sorgt, dass die Gabe nicht im Nest einer Dohle landen.”

Ganz der Pragmatiker holte er seine Geldkatze raus, klaubte ein paar Münzen heraus und warf sie in die Büsche.

“Die Dohlen sollten nun auch entschädigt sein!”

 

Coris nickte still und senkte ergeben das Haupt. “So sei es, Hochgeboren!”
Sie stellte sich direkt neben den Baron und segnete die Grablege mit einem Boronsrad. Dann sprach sie ein Gebet. Firian stellte erstaunt fest, dass sich die Stimme der sonst so leise sprechenden, eher zurückhaltenden Geweihten verwandelte, sobald sie im Namen ihres Gottes sprach. Auch ihre Haltung veränderte sich. Ihr Rücken straffte sich und sie wirkte plötzlich größer und selbstbewusster.
“Herr Boron, Licht im Dunkel, Trost im Moment der Trauer, Hoffnung der Lebenden, beruhigende Gewissheit der Toten, schenke deinem treuen Diener Derenald Scranor Böcklin von Buchsbart zu Schneehag den Frieden und die Gnade deiner Nähe. Mit dem Rabenschnabel und seinem Leben verteidigte er deine Gebote und die deiner göttlichen Geschwister gegen Andersgläubige, Frevler und Daimonenknechte. Nun hat er seinen Frieden in deinem Schlafgemach.”

Die schmale, blasse Dienerin Golgaris drehte sich zu Firian. Ihr Blick schien ihn jedoch nicht zu fixieren, eher blickten ihre dunklen Augen durch den Baron von Schneehag hindurch in andere Sphären.
“O Boron, Herr der Toten, Wächter des Schlafes, Hüter der Seelen, segne nun den Bruder Derenalds, Firian Asralion Böcklin, den Baron von Schneehag mit einem langen Leben! Treuer Golgari, demütiger Bote des Dunklen Vaters, sanfter Führer der Seelen, breite deine schützenden Schwingen über ihn und gewähre ihm am Ende seiner Tage einen sicheren Flug über das Nirgendmeer in die zwölfgöttlichen Paradiese!

Als sie geendet hatte, schien Coris wieder zu schrumpfen. Ihre Schultern sackten nach unten, der Kopf senkte sich. Die Entrückung verlieh ihr eine gewisse Verletzlichkeit. Sie wusste um die Wirkung und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr es sie anstrengte, dem Herrn die Stimme zu leihen. Deshalb blieb sie stehen, als wäre sie noch immer ins Gebet versunken und wartete darauf, dass der Baron den nächsten Schritt gehen würde.

 

Firian bedankte sich nach den Riten der Boronkirche, aber auch der Firunkirche, erst schweigend mit knappen Gesten und dann mit ein paar wenigen leisen Worten. Auch er blieb eine ganze Weile, nachdem das letzte Wort des Segens gesprochen worden war, stehen und war in seinen Gedanken versunken. Irgendwie fühlte es sich gerade so an, dass er nach langer Zeit eine wichtige Aufgabe beendet hatte. Sein Gemüt war schwer belastet mit allerlei Sorgen, allen voran die Bedrohung durch den Schwarzpelz. Nun aber, für diese Minuten fühlte er sich frei und dankbar. Die Seele seines Bruders war trotz seines schrecklichen Todes in dunklen Landen gut über das Nirgendmeer gekommen. Es gab jedenfalls kein einziges Anzeichen, daran zu zweifeln. Ebenso war er für den Moment ganz ein Bruder und Gläubiger und konnte für diese Zeit die Last der Verantwortung als Baron vergessen.

Es verging einiges an Zeit, doch neben den Gedanken, die Coris ja nicht kennen konnte, war der Baron von Schneehag eben auch ein ausdauernder Jäger, gewohnt, geduldig zu sein. Daher kamen keinerlei Anstalten von ihm, die momentane Position zu verlassen. Vielleicht auch ein kleines bisschen, in der Hoffnung, das Gefühl würde so noch länger währen.

 

Als Coris sich von der Entrückung ein wenig erholt hatte, nickte sie dem Schneehager Baron zu, drehte sich um und begann schweigend den schmalen, Schlehen gesäumten Weg zum Kloster zurückzugehen. Sie beobachtete die Finsterkammdohlen, auch um festzustellen, ob sie bereits ein Auge auf die Gabe des Böcklins an seinen Bruder geworfen hatten. Sobald sie den Baron beim Abt abgeliefert hatte, wollte sie zurückkehren und die beiden Raubtierzähne in Verwahrung nehmen, bis das Ossarium fertiggestellt worden war.

 

 

***

 

Rondrasil Firnbiss von Rhodenstein

 

Einige Zeit später erschien eine weitere Gruppe Reiter am Tor. Angeführt wurde sie von einem älteren Geweihten in der Tracht des Ordens zur Wahrung. Eine silberne Spange mit gekreuzten Schwertern war der einzige Schmuck, den er trug. In dem Schwertgehänge an seiner Seite war ein kunstvoll verziertes Langschwert. Der Rundbart, wie auch die zu einem Zopf geflochtenen Haupthaare, waren von einem dunklen Rotbraun, in das sich die ersten grauen Haare verirrt haben. Um seine grünen Augen fanden sich etliche Lachfalten.

“Rondra zum Gruß! Ich bin Rondrasil Firnbiss von Rhodenstein. Wir sind ein wenig spät dran.” Sein Blick fiel auf das Pferd eines der Waffenknechte in seiner Begleitung. “Eins der Pferde hat unterwegs ein Hufeisen verloren.”

Bei den anderen drei Reitern handelte es sich augenscheinlich um zwei Waffenknechte und einen Mann in einfacher weißen Robe und einem ebenfalls weißen Umhang. Dieser sah sich neugierig um, sprach aber kein Wort.

 

Custodes, der Torwächter, trat der Gruppe entgegen. Er verneigte sich vor dem Ordensmann. “Boron zum Gruße, Euer Gnaden!”, begrüßte er Rondrasil.
“Unser Stallmeister ist kein schlechter Hufschmied. Er wird sich des Rosses annehmen. Die anderen Reittiere werden Bertlund und Werinher in die Ställe führen. Es sei denn, Eure Begleiter möchten das selbst übernehmen. Ah, seht her! Da kommen die beiden bereits! Bertlund! Komm mal her! Eines der Rösser hat ein Eisen verloren. Kannst du dich bitte darum kümmern?”

 

Der Stallmeister nickte und ergriff die Zügel des Tieres, während der junge Werinher auf den Befehl wartete, die anderen Pferde in das Stallgebäude zu führen. 

 

“Das Angebot nehme ich gerne an, habt dank.” Der Geweihte nickte den beiden Waffenknechten zu.  “Edil, Heldor, folgt den Anweisungen von Werinher.” Sein Blick wanderte zu dem Mann in Robe. “Anshelm, ladet unsere Sachen schon mal ab.”

Rondrasil stieg nun aus dem Sattel und ließ seine Schultern rollen, um sie zu lockern. Die grünen Augen strahlten geradezu vor Tatendrang, als er sich nun wieder Custodes zuwandte. “Könnt Ihr mich zur Äbtissin führen? Ich möchte ihr meine Aufwartung machen.”

 

Custodes musste grinsen. “Wir haben keine Äbtissin, sondern einen Abt. Eslamo Etiliano de las Dardas. Kommt mit! Ich will sehen, ob er Euch gleich empfangen kann.”

Der Geweihte stutzte und blinzelte mehrmals, als er das hörte. “Ich hätte schwö…”, murmelte er leise und zog die Stirn kraus. Er schüttelte den Kopf und nickte dem Wächter zu. “Natürlich, ich meinte den Abt.”

Der Torwächter gab seinem Waffenbruder Korrik ein Zeichen, damit dieser die Wache am Tor übernahm und stapfte mit dem Ordensritter in den inneren Mauerring des Wehrklosters. Der Tempel erhob sich direkt vor ihnen. Der wuchtige Finsterwachtturm überragte das Hauptschiff an der Schmalseite. An die Außenwände des Tempels schmiegten sich kleine, erkerartige, zweistöckige Anbauten. Ebenso gab es an der Apsis einen Anbau. Wie Rondrasil später erfahren würde, waren dies die Privaträume des Abtes.
“Ihr wart also noch nie hier?” Die mehr rhetorische Frage stellte Costodes voran, bevor er mit einer Erklärung der Gebäude begann.

 

Rondrasil schüttelte den Kopf. “Leider nicht.”

“Nun, den Tempel werdet Ihr sicher später vom Abt gezeigt bekommen. Ich zeige Euch erstmal den Rest. Alle Türme des Wehrmauerrings werden von den Geweihten benutzt. Das dort hinten ist der Noionitenturm. Wie der Name schon vermuten lässt, leben dort einige der Unglücklichen, deren Sinne verwirrt sind. Unser Noionit Nikanor betreut die armen Seelen. Er und drei der Akoluthen wohnen im Dachgeschoß.
Der Ordensmann konnte sehen, dass der Eingang im Erdgeschoß zugemauert war. Die Schießscharten, die Licht in den Turm ließen, waren zu schmal, als dass sich ein Mensch durchzwängen konnte und fingen auch erst in 3m Höhe an. “Zugang in den Turm hat man über Türen vom Wehrgang aus. Diese sind stets verschlossen. Nur der Abt und Bruder Nikanor haben einen Schlüssel”, ergänzte der Wachmann.

Ronradsil blieb kurz stehen und betrachtete den Turm für einen langen Moment lang. Ein kurzes Räuspern folgte und dann wandte er sich wieder Custodes zu. “Lasst uns weitergehen.”

 

“Dort drüben der Turm ist der Etilianerturm, dort sind die Räume der Etilianer, einiger Novizen und Akoluthen und ein Gemeinschaftsraum, in dem auch Unterricht für die Novizen abgehalten wird.”

Curstodes umrundete den Tempel von der Apsis her, die zum Torturm hin ausgerichtet war, und steuerte auf einen weiteren Turm mit Anbau zu, der hinter dem Tempelbau lag.
“Das hier ist der Refektoriumsturm. In ihm ist neben dem Speisesaal auch die Küche des Klosters und im ersten Stock die Bibliothek, ein Lesesaal und eine Schreibstube. Wir haben einige gute Kopisten, die sich dort ihrer Arbeit widmen. Ich bringe Euch zunächst ins Refektorium. Dort könnt ihr etwas trinken, bis der Abt Zeit für Euch hat. Ich setzte ihn sogleich von Eurem Kommen in Kenntnis.”

 

Bei dem Wort ‘Bibliothek’ leuchteten die Augen Rondrasils auf. Was für Schätze dort womöglich auf ihn warten würden, mochte er sich kaum ausmalen. Dann rief er sich in Erinnerung, dass er nicht deswegen hierher gekommen war und seine Begeisterung verblasste ein wenig. Stattdessen nickte er seinem Begleiter zu. “Vielen Dank, Custodes”.  

 

Das Refektorium war ein spartanisch ausgestatteter Raum. Die Wände waren unverputz. Der anstehende Stein des Krähensattels hatte zur Herstellung der Natursteinmauer gedient. Ein offener Kamin an einer der Wände konnte sowohl für das Zubereiten von Speisen, als auch zum Heizen benutzt werden. Doch obwohl es schon kühl war, hatte man kein Feuer entfacht. Mehrere, lange Tische und Bänke aus dicken Holzbrettern, die offenbar aus mächtigen Eichen gefertigt waren, konnten den Klosterbewohner zu den Mahlzeiten ausreichend Platz bieten. Als Rondrasil eintrat, saßen eine junge Frau und zwei Männer, die anhand des Wappenrocks als Gefolgsleute des Schneehager Barons zu erkennen waren. Sie hatten Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit vor sich stehen. Eine hagere Akoluthin in einfacher, schwarzer Kutte wies Rondrasil schweigend an, bei den dreien Platz zu nehmen. Sie brachte auch ihm einen Becher und goss etwas von der heißen Flüssigkeit hinein. Dann entfernte sie sich ebenso schweigend, wie sie erschienen war.

 

Die beiden Männer waren mittleren Alters, vermutlich miteinander verwandt, vielleicht sogar Brüder und ziemlich sicher einfache Waffenknechte. Sie trugen einen knielangen, zweilagigen Lederharnisch, auf dessen Oberseite sich Rechtecke abzeichneten. Entweder war dort eine weitere Lederschicht aufgenäht oder vielleicht sogar eine dünne Metallschicht eingearbeitet worden. Möglich war beides, da die Oberfläche zwar aus Leder war, aber an den Ecken auch Nieten zu sehen waren. Dafür aber die sich abzeichnenden Rechtecke eher zu dünnen Metallplättchen passten.

Die junge Frau war sehr wahrscheinlich eine Knappin, wirkte recht unglücklich und schien nicht aus Weiden zu kommen.

Alle drei sahen neugierig zu dem Neuankömmling rüber.

 

Der Geweihte nickte der Akoluthin höflich zu, bevor sie sich zurückzog. Rondrasil ließ seinen Blick über die kleine Gruppe an dem Tisch gleiten, bevor er ihnen knapp zunickte. “Rondra zum Gruße.” Mit einem leisem Seufzen glitt er auf die Bank neben die Knappin. Mit seinen über 40 Sommern war er nicht mehr der Jüngste. “Rondrasil Firnbiss von Rodenstein, mit wem habe ich die Ehre? Ihr seht mir nicht nach den typischen Bewohnern dieses Klosters aus.” Seine strenge Miene wurde weicher und ein Lächeln umspielte seine Lippen.

Er bedachte den Becher in seiner Hand mit einer skeptischen Miene, bevor er die anderen am Tisch ansah. “Wie schmeckt es?”

 

Die drei gaben den Gruß zurück wobei die beiden offensichtlichen Waffenknechte ziemlich nuschelten. Kurz danach beantworteten sie mit einen leichten Kopfwiegen auf ihre Art die Frage nach dem Geschmack des heißen Getränkes.

Die junge Frau dagegen richtete sich dagegen auf und freute sich scheinbar auf einen neuen Gesprächspartner. Mit deutlichem garetischen Akzent sagte sie

“Helara von Köttelstein ist mein Name. Ich bin mit dem Gemahl meiner Schwertmutter hier. Baron Firian Asralion Böcklin von Buchsbart zu Schneehag.”

Der Blick der geschätzt 18 Winter alten Knappin ging auf das Getränk

“Ist schon in Ordnung, vor allem schön heiß!”

“Das stimmt wohl.” Rondrasil lachte leise. Er nahm einen vorsichtigen Schluck, verzog das Gesicht ein wenig und stellte den Becher dann vor sich ab. “Ich bin erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen. Dann ist der Baron also schon hier.” Ein tiefes Seufzen folgte. “Eigentlich wollte ich vor ihm da sein, aber es sollte wohl nicht sein.” Neugier flammte in seinen Augen auf und er musterte die Knappin noch einmal. “Wie kommt es, dass Ihr hier seid, wenn ich fragen darf? Ihr seid schließlich nicht die Knappin des Barons.”

Die Knappin schien ebenfalls von Neugier erfüllt zu sein, besann sich aber und beantwortete zunächst die Frage.

“Der Baron verfügt zur Zeit nur über eine Pagin. Seinem letzten Knappen, dem edlen Rondrasil von Brachfelde, gewährte er vor einiger Zeit die Schwertleite und hat bisher noch keinen neuen Knappen. Deshalb bin ich auf dieser Reise an seiner Seite, um ihn als Knappin zu dienen.”

Die Neugierde bahnte sich schließlich doch noch ihren Weg

“Warum wolltet ihr denn vor dem Baron hier sein?”

Der bärtige Geweihte lächelte vergnügt. "Nun ja, ich hatte zum einen gehofft, die Ankunft seiner Hochgeboren dokumentieren zu können, zum anderen, um noch ein wenig Zeit zu haben in der Bibliothek zu schmökern." Rondrasil beugte sich verschwörerisch zu der Knappin hinüber. "Mein persönliches Steckenpferd sind lokale Sagen und Legenden. Wie ihr vielleicht wisst, werden diese zumeist nur mündlich weitergegeben. Doch man weiß nie, welche folkloristischen Schätze in Bibliotheken schlummern." Er sah auch zu den beiden Waffenknechten hinüber. "Wenn Ihr ein paar Geschichten kennt und mit mir teilen mögt, bin ich gerne bereit, sie mir anzuhören."

“Ich weiß nicht, ob ihr schon öfter hier wart und ob es dort wirklich Sagen und Legenden hat. Ich weiß aber, dass hier im Kloster recht viel gesungen wird. Besonders für ein Kloster des Herren Boron will ich meinen. Vielleicht liegt es auch am Geplärre, dass die vielen Dohlen machen, dass es hier nicht so viel Ruhe hat wie man vermutet.

Ich bin leider sehr schlecht im Merken von solchen Geschichten und Erzählungen. Der Baron und meine Schwertmutter lieben es, aber reisende Barden auf Burg Firnhag für einige Tage, im Winter vielleicht auch länger Gastung zu gewähren. Da habe ich schon einige gehört.”

Die beiden Waffenknechte schienen entweder keine Geschichten zu kennen oder im Moment keine Lust zu haben, sie zu teilen.

Helara schien das Verhalten der beiden etwas peinlich zu sein. Sie beugte sich auch etwas vor und flüsterte halb.

“Die Katzbalger sind vom Baron handverlesen und er bevorzugt eher schweigsame Charaktere. Denkt also nicht, dass sie euch speziell wenig freundlich erscheinen…sie sind allgemein eher von der stillen Sorte.”

“Nun, deswegen will ich dort einmal nachsehen, um Gewissheit zu haben. Manchmal verbergen sich in solchen Horten des Wissens echte Schätze. Aber das ist alles nur ein Steckenpferd von mir.” Wieder nippte Rondrasil an dem heißen Trunk. “Wenn Ihr eines Tages mehr über die alten Sagen dieses Landes erfahren oder etwas über rondragefällige Taten und Schlachten lernen möchtet , kommt nach Rhodenstein und fragt nach mir.”

Die Knappin richtete sich stolz etwas auf

“Vielen Dank für die Einladung. Ich würde gerne einmal die Burg sehen. Auch wenn wir viel auf Reisen sind, überqueren wir den Fialgralwa leider nicht häufig…jedenfalls nicht um die Hollerheide zu betreten. Aber kennt ihr vielleicht den Knappen der Göttin Eckmar Triselawen von Rhodenstein? Der Hofgeweihte am Schneehager Baronshof ist eigentlich der Halbbruder des Barons und Geweihter des Weißen Jägers. Aber seit einiger Zeit, mehrere Winter inzwischen, weilt der genannter Geweihte der Sturmleuin nun schon an der Seite meines Barons. Ich kann mich an so manchen Abend erinnern, wo er spannende Geschichten erzählt hat.”

Rondrasil nickte. “In der Tat habe ich schon von ihm gehört. Schließlich haben wir ähnliche Interessengebiete. Doch wo mein Bruder im Glauben sich auf die rondrianischen Sagen und Mythen beschränkt, sammle ich alles, was man sich so in Weiden erzählt.” Der ältere Geweihte sah vergnügt aus. “Ich bin durch meine Aufgabe eh viel unterwegs, um die Liegenschaften des Ordens zu besuchen. So kann ich ganz nebenbei auch Geschichten sammeln.” Für einen kurzen Moment verfiel Rondrasil in Schweigen. Aus einer Tasche an seinem Gürtel holte er ein kleines Büchlein und ein kleines Lederfutteral. In dem Futteral steckte ein kleiner Zwicker, den der Geweihte sich auf die Nase setzte, bevor er im Buch zu blättern begann. “Ah ja, hier. Anfang des Jahres war ich zum Beispiel in Espen, weil der dortige Rondra-Tempel einen neuen Tempelvorsteher bekommen hat. Der junge Mann hatte auch einige interessante Geschichten zu erzählen, auch wenn er nicht aus Weiden stammt.”

 

“Tatsächlich..also nicht aus Weiden…wo stammt er denn her? Tatsächlich kenne ich noch gar nicht wirklich viele Geweihte der Sturmleuin die aus der Mittnacht kommen. Als kleines Mädchen habe ich immer gedacht, gerade in Weiden würde es davor nur so wimmeln. Aber das Werk des Schwerenschänders und so weiter hat ja viel Blut gefordert.”

Der Blick von Helara ging kurz in die Ferne. Auch sie schien in den schlimmen Zeiten der vergangenen Jahre jemanden verloren  zu haben.

“Zum Glück ist das aber ja jetzt vorbei…wobei mein Baron immer sagt, dass wir uns hier in der Mittnacht nun zu unserem wahren Todfeind wenden müssen. Wir ihn viel zu lange haben walten lassen…”

 

“Da spricht seine Hochgeboren ein wahres Wort,” pflichtete Rondrasil bei. “Vielleicht ist das auch der Grund für die Anwesenheit meines nordmärker Bruder im Glauben.” Er stockte kurz, lächelte dann und sprach weiter. “Jetzt habe ich mir selbst vorgegriffen. Er stammt aus den Nordmarken, war aber von seiner Pagenzeit an bis zu seiner Weihe in Tobrien. Danach ging er für einige Jahre zurück in die Nordmarken und jetzt ist er in Espen. Wenn Ihr einmal in Espen seid, redet mit ihm. Er hat viel zu erzählen.”

 

***

Pünktlich zur Firunsstunde rief die Glocke im Giebel des Finsterwachtturms, der an die Westseite des Tempels angebaut war, die Klosterbewohner zum Vespergötterdienst. Der Eingang zum Tempel lag in der Mitte des Längsschiffes. Ein Akoluth hielt den Besuchern des Götterdienstes schweigend die schwere Eichentür auf. Die Geweihten und Novizen hatten ihre Plätze im Chor bereits eingenommen und begrüßten die Gläubigen mit einem Choral zu Ehren des Herrn Boron.
Der langgestreckte Tempelraum enthielt keine Säulen. Das Gestein des Fußbodens wirkte stumpf. Im sanften Licht der wenigen Laternen konnte man sich kaum orientieren. Einzig der Altar in der Apsis schien im Licht der Feuerschale, die direkt davor auf dem Boden stand, zu leuchten. Seine glattpolierte Oberfläche glänzte unendlich schwarz. Auf dem Altar qualmte Räucherwerk in zwei silbernen Räucherschalen. Wie dichter Nebel waberte der balsamisch duftende Rauch durch das Langhaus des Tempels. Das züngelnde Licht der Feuerschale traf die Statue des Raben, die im Zentrum der Apsis stand. Sie verlieh ihm eine ungeahnte Lebendigkeit. Die lebensecht wirkende Darstellung Golgaris mit ausgebreiteten Schwingen, deren Detailgenauigkeit jede Feder erkennen ließ, war das Meisterwerk eines Handwerksmeisters aus Lowangen. 

Klosterbewohner und Gäste sowie einige Gläubige aus dem nahegelegenen Dorf Etiliengrund hatten sich zum abendlichen Götterdienst eingefunden. Einige knieten bereits auf flachen Kissen, andere, vor allem die Älteren und Gehbehinderten, saßen in den wenigen einfachen Bänken, die keinerlei Komfort boten. Für die Akoluthen und die Gäste waren die ersten beiden Bankreihen reserviert.

 

Firian hatte nun schon mehrfach an den Götterdiensten hier im Kloster teilgenommen und war daher recht gut orientiert. Den ihn begleitenden Katzbalgern und anderem Gefolge, hatte er freigestellt, ob sie an dem Götterdienst teilnehmen wollten. Zwei aus dem Gefolge hatten sich tatsächlich im hinteren Bereich bei den Dorfbewohnern eingefunden. Die Katzbalger aber waren auf den Krähenbecher, den Wehrturm, der zur Klosteranlage gehörte aber gleichzeitig Teil der Finsterwachtturmkette war, gegangen, um dem dort Wache Haltenden Gesellschaft zu leisten. Firian war mit dem ihm innewohnenden Selbstverständnis durch die Reihen getreten, gefolgt von seiner Knappin und hatte schließlich selbst in der ersten Bankreihe Platz genommen. Helara nahm hinter ihm in der zweiten Reihe einen Platz ein. Bevor Firian sich in ein Gebet vertiefen würde, sah er sich noch einmal mit leichter Kopfdrehung um. Obwohl noch jemand kommen würde?  

Mit einem leisen Klirren seines Kettenhemdes blieb Rondrasil vor dem Baron stehen und verbeugte sich. “Boron zum Gruße, Euer Hochgeboren,” meinte der Geweihte leise, bevor er der Knappin zunickte und sich neben den Baron auf die Bank setzte. Seine Begleiter hatten sich ebenfalls unter die Dorfbewohner gemischt und warteten andächtig auf den Beginn der Messe. Auch für ihn war es nicht der erste Boronsdienst an dem er teilnahm. Doch wie immer fühlte Rondrasil sich ein wenig unwohl dabei. Warum dies so war, hatte der Geweihte bis heute nicht ergründen können. Vielleicht wegen einem Ereignis in seiner Kindheit… VERDAMMT! Er war schon wieder in seine eigenen Gedanken versunken, anstatt auf sein Gegenüber zu achten. “Ich hatte heute noch nicht das Vergnügen Euch zu treffen. Nur mit der Knappin in Eurer Begleitung konnte ich vorhin etwas plaudern.”

Firian sah den Geweihten der Stumleuin zunächst mit einem … nun man könnte sagen firungefälligen Grimm im Blick an erwiderte dann aber die Begrüßung in halbwegs freundlichen Ton.

“Boron zum Gruß…,Euer Gnaden.”

Er musterte ihn einen kleinen Moment während der Geweihte sich setzte und von der Begegnung mit der Knappin berichtete.”

"Nun, sie hatte vermutlich noch nicht die Gelegenheit, davon zu berichten. Mir scheint es allerdings so zu sein, dass wir beide uns nicht nur heute noch nicht begegnet sind, sondern allgemein das erste Mal sehen. Ich meine, ich will nicht behaupten, jeden Wahrer zu kennen, die ihr vielleicht schon viele Winter im Orden dienen, aber haben wir uns schon einmal getroffen?”

Rondrasil verneinte dies, bevor die beiden aber noch weiter sprechen konnten, bemerkten sie, dass dieses Gespräch wohl dem Chor unrecht tun würde und sie hörten weiter zu.

 

Der Choral, welcher den Herrn Boron als “Schnitter Tod” besang, neigte sich dem Ende.


“Ob König, Kaiser, Fürst und Herr
Fürchtet all den Schnitter sehr!
Der ewige Richter
Die Mächtigen bricht er
Genau wie die Armen
Für Sie ist´s Erbarmen.
Hüt´ dich, schöns Blümelein!

 

Nach zwei weiteren Strophen, getragen von den volltönenden hohen wie tiefen Stimmen der Geweihten, Novizen und Akoluthen des Klosters, die es verstanden den Götterdienstbesuchern eine Gänsehaut auf die Arme zu zaubern, verklang der Choral.
Die Akoluthin neben Firian und Rondrasil räusperte sich, um dem Baron und dem Glaubensbruder zu verstehen zu geben, dass sie nun bitte die borongefällige Stille einhalten mögen. Schwer schien das minutenlange Schweigen auf den Besuchern des Götterdienstes zu lasten. Wer nicht mit den Gepflogenheiten der Boronkirche vertraut war, empfand für gewöhnlich das ausdauernde Schweigen als übermäßig lang. Die Diener der Kirche hingegen genossen es.

Der Baron von Schneehag, der sowohl den Choral zugehört hatte, aber eben auch ein Gespräch mit dem Wahrer geführt hatte, verstummte. Er genoss die Stille tatsächlich eher…für einen Moment, denn dann wanderten seine Gedanken in die Wildnis der Natur und auch wenn diese nicht laut war, so war sie doch sehr weit davon entfernt, vollkommen still zu sein. Firian vertiefte sich sehr in seine Gedanken und nahm an dem Gottesdienst so aktiv teil. Wobei vermutlich nur er selbst und die beiden Götter merkten, dass seine Gedanken mehr beim Weißen Jäger als beim Dunklen Vater waren. Doch auch nicht vollkommen, denn schließlich war dies hier ein Haus Borons und er wollte niemanden erzürnen.

Der ein oder andere hob schon mal den Kopf, um zu sehen, ob denn der Abt endlich den Tempel betreten würde, doch lange Zeit geschah nichts. Dann jedoch hörte man das Klacken des Schlosses der Sakristei. Beinahe zerriss das Geräusch die angespannte Stille. Die schwere Tür schwang auf und Eslamo Etiliano de las Dardas, der Abt des Klosters, trat gemessenen Schrittes vor den Altar. Sein Diener Borgol schloss die Sakristeitür wieder und lehnte sich an.

 

Lange, sehr lange, musterte der Deuter Bishdariels die Götterdienstgemeinde. Seine Augen streiften die Reihen, verweilten auf den Schneehager Baron, wanderten weiter zum Ordensmann des Bundes des Wahren Glaubens und dann wieder in die Ferne. Fast schien es als sehe er bis über das Nirgendmeer, den Blick fest auf die zwölfgöttlichen Paradiese gerichtet.

Firian wartete, mit geschlossenen Augen, darauf etwas zu hören. Aus Gewohnheit wohl eher etwas aus der Natur, was er dann als Worte Firuns interpretieren würde. Aber natürlich erwartete sein Geist eher die Worte des Abtes.

Eslamo Etiliano de las Dardas hatte eine tiefe, wohlklingende Stimme. Die Akustik des Tempelbaus trug sie bis in die hintersten Reihen.
“Wie vielleicht nicht alle Anwesenden wissen, werden die meisten unserer Götterdienste nicht von einer Predigt begleitet. Die Stille, das Schweigen ist die Sprache der Seele. Im Reich des Schweigsamen braucht es keine Worte.”
Die Augen des Abtes suchten die beiden Gäste. Der gebürtige Almadaner verstummte, verweilte mit seinem durchdringenden Blick im Gesicht des Schneehager Barons. Dann wanderten seine dunklen Augen zu Rondrasil und auch ihn bedachte der Abt mit einem langen, vielsagenden Augenkontakt.
“Im Anfang war Stille. Sie wurde zerbrochen durch Los´ Geschöpfe. Ihr Lärm verwehrte den Sterblichen die Ruhe. Lärm, laute Stimmen, unablässiges Geplapper, all das vernebelt die Sinne, führt die Seelen weit fort von ihrem ersehnten Ziel: der ewigen Ruhe. Da sprach Boron das Wort, das endlich die Stille, die Seelenruhe, gewährte: Tod! Mit dem Tod, kamen der Frieden und die Ruhe in die Welt, Dunkelheit breitete sich über die lauten Geschöpfe Deres und Stille umfing sie wie ein schützender Mantel. Boron gefiel die Stille.”
Der Abt schwieg, ließ seine Worte lange wirken. Er schloss die Augen, versenkte sich in eine tief Andacht. Lange geschah nichts. Die Anwesenden spürten die Macht der Stille beinahe körperlich. Als de las Dardas endlich wieder seine tiefe Stimme erklingen ließ, rissen manche beinahe erschrocken die Augen auf.
“Doch der Dunkle Vater schenkte uns noch mehr! Er gewährte uns die Gnade des Schlafes. Die Ruhephase im Praioslauf, die Stille in der Bewegtheit der zweimal zwölf Götterstunden. Nie wissen wir, wenn wir unser Haupt niederlegen, ob der Unausweichliche uns wieder wecken wird. Und das ist gut so. Nur so erkennen wir in Demut die Macht des Herrn des Schlafes und des Herrn des Todes. Der Schlaf - ebenso wie der Tod - heilt die Schmerzen und gibt uns Frieden. Diejenigen, die erwachen, setzen ihr Leben fort, erfrischt und erholt von der Gnade des Schlafes. Diejenigen, denen der Gebieter der Nacht die Gunst des Todes schenkt, erleben die Gnade des endlosen Schlafes, der ewigen Ruhe. Dann erquickt die köstliche Stille in Borons Schlafgemach den müden Geist und der Schlaf des Schweigenden ist des erschöpften Wanderers nie endende Erholung. Lasst uns in Stille gemeinsam beten.”

Eine weitere Schweigephase folgte, in der jeder über die wohlgesetzten Worte meditierte. Der Abt hielt seine Arme weit ausgebreitet, die Handflächen zum über ihm schwebenden Raben gerichtet. Sein Körper schwankte leicht vor und zurück. Schließlich durchbrach eine hohe, zarte Stimme die Stille. Eine der Novizinnen hatte den Anfang des folgenden Abschlusschorals angestimmt. Alle Augen öffneten sich und suchten die Person, zu der die zauberhafte Stimme gehörte. Schon stimmten die tiefen Stimmen der männlichen Borondiener ein und verliehen dem Lobgesang die ihm innewohnende, mysthische Verklärung. Andächtig lauschte die Götterdienstgemeinde bis auch der letzte Klang des Chorals verklungen war. Ein abschließender Choral wurde angestimmt und, während die Geweihten des Ewigen ihn sangen, öffneten zwei Akoluthen bereits die Flügeltore des Tempels, um den Götterdienstbesuchern den Weg zum Abendmahl im Refektorium zu weisen. Unter den immer leiser werdenden Klängen der Diener des Unausweichlichen leerte sich der Tempel.

 

Firian wartete auch noch eine ganze Weile, mindestens bis die letzte Stimme des Chorals verstummt war. Der Gottesdienst hatte ihm sehr gut gefallen und für den Moment, er war gespannt, wie lange dies anhalten würde, hatte er ein Gefühl des Friedens ob der Aussicht auf sein eigenes Ende. Wann auch immer dieses sein würde.

 

Im Refektorium waren die langen einfachen Holztische mit Holzschüsselchen gedeckt. Über dem offenen Feuer hing ein Kupferkessel, in dem eine Suppe vor sich hin köchelte. Der Koch des Klosters stand daneben und rührte mit einem langstieligen Löffel um. Eine Akoluthin wies den Gästen schweigend ihre Plätze zu. Die Klosterbewohner bewegten sich ebenso still wie würdevoll durch die Tischreihen. Doch niemand setzte sich. Schweigend, die Hände im Schoß übereinandergelegt und den Kopf gesenkt standen die weltlichen wie klerikalen Bewohner Etiliengrunds vor ihren leeren Schüsseln. Als endlich der Abt mit seinem Leibdiener den Saal betreten und man hinter ihnen die Tür geschlossen hatte, durften sich die Klosterbewohner und Gäste hinsetzen. Nun stand an jedem Tisch ein Akoluth oder Novize auf und reichte dem Koch Teller für Teller. Das gefüllte Holzschüsselchen mit dampfender Suppe wanderte dann durch die Bankreihen bis zum Ende des Tisches. Schweigend wiederholte sich der Vorgang, bis alle am Tisch eine gefüllte Schüssel vor sich stehen hatten. Und auch die Ausgabe des Brotes hatte etwas Rituelles. Jeder nahm das Brot von seinem Nebensitzenden, brach sich ein Stück ab und reichte es weiter. Als alle versorgt waren, stand der Abt auf, malte das Boronsrad in die Luft und setzte sich wieder. Das einzige Geräusch, das nun zu vernehmen war, war das Schlürfen und Schmatzen der sich an der Rübensuppe labenden Klostergemeinschaft und das leise Klappern der Holzlöffel am Rand der Suppenschüsseln. 
Eslamo Etiliano de las Dardas wartete, bis alle Geräusche verstummt waren. Er blieb sogar noch eine ganze Weile lang darüber hinaus still auf seiner Bank sitzen. Die Hände im Schoß verschränkt, das Kinn nach unten geneigt. Als das Schweigen beinahe unerträglich geworden war, hob er zunächst den Kopf und dann seinen Körper von der Bank. Erst als er mit seinem Diener das Refektorium verlassen hatte, ließ sich als nächste Schwester Irmingard von einem Novizen aufhelfen. Das schien das Signal für den Aufbruch zu sein, denn nun kam Leben in die still auf den Bänken verharrende Klostergemeinschaft. Man hörte das Knarzen der Holzbänke, das Rascheln der Roben und das Schlurfen der Schritte als sich die schweigende Gemeinde nach draußen bewegte.
Auf Rondrasil Firnbiss von Rhodenstein und den Baron von Schneehag wartete Bruder Nazir vor der Tür des Refektoriums. Er bot beiden die Gelegenheit zu einer Privataudienz beim Abt des Klosters an und wies sie darauf hin, dass es um Mitternacht noch eine Schweigende Andacht geben würde, falls sie sich dafür interessierten.

 

Beim Etiliengrunder Hüter des Rabens 

Es war bereits dunkel, als Bruder Nazir Nocturnus Heldor den Schneehager Baron zum erneuten Gespräch mit dem Abt abholte. Sie überquerten den Innenhof und wanderten an der Tempelmauer entlang, die den Etiliengrunder Totentanz zeigte. Im flackernden Fackelschein schienen sich die Skelette und Figuren an der Wand grotesk im Tanz zu bewegen. 

Firian hatte die Zeit bis zum Gespräch mit dem Abt sinnvoll genutzt. Er hatte sich lange mit dem Schutzritter des Kloster unterhalten. Der Turm, den er besetzte, war ja zusätzlich auch noch Teil der Finsterwacht. Sie sprachen über diese und jene Ausbesserungsarbeit und ob und wie noch 1-2 weitere Bewaffnete möglich wären. Auch hatten sie sich gemeinsam die Mauern des Klosters angesehen.

Nun aber auf dem Weg zum Abt ging Firian in Gedanken noch einmal seine Punkte für das kommende Gespräch durch. Was ihm neben der Vorbereitung auf das Gespräch auch Gelegenheit gab den Totentanz nicht zu sehr auf sich wirken zu lassen. Dieser hatte für ihn eine gewisse Faszination aber gleichzeitig war er auch irgendwie unheimlich, ja sogar schon ein bisschen bedrohlich. Er kam halt wesentlich besser mit dem Tod in Form eines auf ihn zu stürmenden Bären oder eines Schwarzpelzes klar als mit sowas.

Die knapp hinter ihm gehende Knappin, die umständlich eine Dokumentenrolle hielt, fast so, als ob sie rohe Eier enthielt, stellten sich gar die. Nackenhaare auf, wenn sie zum Totentanz blickte. 

Wieder betraten sie die Privatgemächer des Abtes über den Tempel und die Sakristei. Bogol öffnete schweigend die Tür und ließ Firian gleich ins Privatgemach von Eslamo Etiliano de las Dardas weitergehen. Er schloss hinter dem Baron die Tür und lehnte sich wie ein Schatten an die Wand daneben. Der Abt erhob sich und wies schweigend auf einen der schönen Stühle. Auf dem Tisch standen ein Krug und zwei Becher.
“Willkommen im Namen des Dunklen Vaters, Hochgeboren. Hier steht Wasser bereit. Möchtet Ihr Wein oder Bier stattdessen?” 

Bei seinen bisherigen Besuchen hatte Firian in diesen Momenten stets Bier gewählt. Heute aber entschied er sich anders. Er bedeutete seiner Knappin ihrer Pflicht nachzukommen und ihm Wasser einzuschenken und, falls sie damit Borgol nicht die Aufgabe nahm, dem Abt ebenso. Danach sah Firian sie an und sagte kurz angebunden:

“Leg die Dokumentenrolle hier ab…danach darfst du dich entfernen und bist für den heutigen Tag freigestellt.”

Firian wartete offensichtlich, bis die junge Frau den Raum verlassen hatte, bevor er fortfuhr.


Abt Eslamo Etiliano de las Dardas nickte Borgol zu und dieser verließ mit einem unterwürfigen Kopfsenken ebenfalls den Raum. Der gebürtige Almadaner blickte nun neugierig auf die Dokumentenrolle, die nun vor dem Schneehager Baron auf dem Tisch lag. 

Firian trank zunächst einen Schluck Wasser und räusperte sich. Dann fing er an, die Dokumentenrolle zu öffnen. Er holte mehrere Pergamente,  Schreibzeug und eine Siegelwachskerze heraus.

“Ich möchte zunächst, …sagen wir mal, zum "geschäftlichen" Teil kommen und erst danach mit euch ein theologisches Gespräch führen. In diesem soll es um das eigene Ende gehen.”

Firian breitete die Pergamente vor sich aus und sah sich um, ob eine brennende Kerze vorhanden und in seiner Nähe war.

Der Abt wirkte interessiert und zugleich irritiert über die Ankündigungen des Barons. Doch Eslamo Etiliano de las Dardas war es gewöhnt, dass Menschen angesichts der Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit im Hause des Unausweichlichen damit begannen, ihre letzten Dinge zu regeln, alte Schulden zu begleichen, nicht vollendete Vorhaben beenden zu wollen, die Hinterlassenschaften zu regeln oder Schenkungen zu machen. Er folgte also dem Blick des Adeligen, rückte die Kerze in dessen Nähe, faltete mit einem milden Lächeln auf den Lippen seine Hände und legte sie vor sich auf den Tisch. Dann gab er Firian mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass er ganz Ohr war. 

“Wie ihr ja wisst, ist die Unterstützung der Kirche Borons in der Mittnacht sehr … begrenzt. Ebenso der Anteil, den sie am Tempelzehnt erhält.”
Der Abt nickte mit einem leidvollen Gesichtsausdruck.
Firian fuhr fort: “Aus diesem Grund habe ich ja schon vor längerer Zeit auch den eigentlich mir als Lehnsherren zustehenden Zehnt aus der Gemarkung des Dorfes Schneekrumme an das Kloster übertragen. Diese… Vereinbarung beruht, wie Ihr wisst, auf meiner Entscheidung und ist leicht, was auch immer die Zukunft bringt, zu widerrufen. Früher oder später wird der Tag kommen an dem ich nicht mehr bin und die Zeichen, die ich im Moment sehe, deuten eher auf ein Früher als ein Später hin. Aus diesem Grund möchte ich heute das Ganze auch über meine Lebenszeit hinaus absichern. Vielleicht nicht vollkommen sicher, aber sicher vor einem willkürlichen Federstreich.” 

Eine stille Freude breitete sich auf dem runden Gesicht des Klostervorstehers aus und man konnte erkennen, dass er den weiteren Ausführungen des Barons mit größerer Gelassenheit, um nicht zu sagen Zufriedenheit, lauschte.
“Aus diesem Grund habe ich hier zwei Pergamente mit jeweils zwei Kopien, die wir gleich beide unterzeichnen und die ich anschließend siegeln werde. Sie enthalten zwei Erlasse von mir als Baron Schneehags. In dem einen steht, dass das Kloster Etiliengrund für Zwölf mal Zwölf Jahre aus dem Dorf Schneekrumme auch den Zehnt erhält, der eigentlich dem Lehnsherren zusteht. Da auch der Abt des Klosters ein neuer werden wird im Laufe dieser Jahre, und niemand von uns dessen Ansichten kennt, erhält es noch den Zusatz, dass die Mittel aus diesem Zehnt dafür zu verwenden sind die Wehranlagen, Bauten des Klosters und vor allem des Finsterwachtturms Krähenbecher  instand zu halten und zu unterhalten.

Das zweite Pergament sichert dem Kloster Etiliengrund, ebenfalls für Zwölf mal Zwölf Jahre, den Tempelzehnt aus allen Siedlungen und Wohnstätten der Baronie Schneehag nördlich der Baronsburg Firnhag zu. Also nicht nur dem Dorf Schneekrumme sondern z.B. auch aus den Hofstellen der Wolfenkuppen oder der Siedlung Ottersberg. Hier erfolgt kein Zusatz, wie diese Mittel zu verwenden sind. Wer auch immer in der Zukunft Abt des Klosters sein wird, wird diese Mittel im Sinne der Kirche Borons einsetzen.”
Der Hüter des Raben nickte bestätigend, um dem Baron zu versichern, dass jeder Abt Etiliengrunds die Mittel selbstredend im Sinne der Boronkirche einsetzen würde.

“Je eine der Kopien soll hier in Etiliengrund und auf der Baronsburg aufbewahrt werden. Das Original würde ich an einen möglichst sicheren, dritten Ort bringen lassen. Meine erste Idee wäre der Tempel des Götterfürsten in Trallop. Vielleicht aber auch an einen Ort außerhalb der Mittnacht, falls ihr da einen Vorschlag habt, so äußert ihn frei.”

Hier schüttelte Eslamo Etiliano de las Dardas bedächtig den Kopf. “Es steht Euch frei, das Original dem Tempel des Götterfürsten in Trallop zu überantworten, Hochgeboren. Das ist in meinen Augen auch der richtige Ort für ein solches Dokument.”

Der Baron von Schneehag schien zufrieden mit der Antwort zu sein. “Ich bin kein Advokat und weiß nicht, ob im genannten Zeitraum nicht irgendwer versuchen wird, diese Erlasse vor Ablauf der Zeit zu streichen. Aber damit sollte es wenigstens schwer werden, dies zu tun und Euch und euren Nachfolgenden mehr Sicherheit geben, das Werk fortzusetzen.”

Der stämmige Abt des Klosters wartete geduldig, bis der Baron geendet hatte. Als er sicher war, dass keine weiteren Ankündigungen kamen, erwiderte er mit der ihm eigenen, tiefen und sonoren Stimme.
“Die Kirche des Ewigen und allen voran ich, als Hüter des Klosters Etiliengrund, stehen tief in Eurer Schuld, Baron! Eine solche Verfügung nimmt eine große Last und Sorge nicht nur von mir, sondern, so hoffen wir beide, auch von meinen Nachfolgern und Nachfolgerinnen. Ein Kloster wie dieses, mit seinen weltlichen wie spirituellen Bewohnern zu führen und zugleich die Aufgabe der Verteidigung gegen den allseits dräuenden Ork zu gewährleisten, ist nicht einfach. Eure Weitsicht und Vorsorge sind beeindruckend und das vorzeitige Vermächtnis erfüllt mich mit Demut und Dankbarkeit. Der Herr der Letzten Dinge wird es Euch dereinst im Angesicht der Unbestechlichkeit Rethons in die Waagschale legen.” 

Firian wandt sich ein wenig, fast so als ob er mit Lob für sein Tun nicht so gut umgehen konnte. Er wirkte aber gleichzeitig, ob der Worte des Abtes, auch zufrieden.

“Ich hoffe, damit ist eine stabile Grundlage gebildet, um dem Kloster und seinen Bewohnern ihr borongefälliges Tun zu ermöglichen. Auch für die Zeit, wo ich selbst nicht mehr da bin. Ich will aber auch nicht verhehlen, dass es mich beruhigt, wenn dieses Handeln im Leben dazu führen könnte, dass Rethon etwas Gewicht in der für mich günstigen Waagschale erhält!”

Der Baron von Schneehag machte eine kurze Pause und entzündete die Siegelwachskerze.

“Dann soll es so sein!”

Er träufelte etwas von dem Siegelwachs auf jedes der Pergamente und drückte danach seinen barönlichen Siegelring in das noch weiche Wachs. Anschließend öffnete er das kleine, tönerne Tintenfaß und unterschrieb jedes Pergament noch einmal zusätzlich.

“Der Vollständigkeit halber solltet ihr auch jeweils unterschreiben.”

Eslamo Etiliano de las Dardas nahm mit bedeutungsvollen Gestus die Feder, die ihm der Baron entgegenstreckte und setzte seine schwungvolle Unterschrift darunter. Dann löste er den Siegelring vom Finger, der das Boronsrad zeigte und drückte ihn in das Siegelwachs neben seiner Unterschrift.
Er stand auf und trat vor den Baron in der Erwartung, dass sich auch jener erheben würde. Dem Hüter des Rabens war nach mehr als einem schnöden Dank zumute. Dieses Vertragswerk hatte nachhaltige Auswirkungen auf das Kloster Etiliengrund und würde Eingang in die Klosterchronik finden. Und damit auch sein Name. Womöglich würden noch nachfolgende Generationen von Borondienern darüber sprechen, wie wichtig dieses Schriftstück war, das er unterzeichnet und gesiegelt hatte. 

Firian beobachtete Eslamo bei seinem Part und als dieser sich erhob und kurz verharrte, stand er auch auf. Gespannt, was nun kommen würde, sah er den Abt an.

Schweigend, ohne eine weitere Regung, nahm der Hüter des Raben Firian in seine Arme und drückte ihn an seine Brust. Es war eine Geste, die dem Schneehager Baron bewusst machen musste, wie wichtig das eben unterzeichnete Pergament für das Kloster war. Die Umarmung währte nicht ungebührlich lang, sondern schon bald ließ der Abt den Baron wieder los und ging zu einer Truhe. Er legte zum einen das zusammengerollte, von beiden unterschriebene und gesiegelte Dokument hinein, zum anderen nahm er eine kleine Amphore hervor. Der Almadaner ging zum Regal daneben, holte zwei Silberbecher und stellte sie auf den Tisch.
“Ich denke, das ist der Augenblick, gemeinsam ein Gläschen besten Weines aus meiner Heimat Almada zu genießen. Der Name des guten Tröpfchens sollte dem Anlass entsprechen. Es ist ein “Mescher Heiligmacher”. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Abtes, bevor er, wie es seiner Position gebührte, wieder ernst wurde. Er goss Firian eine kleine, rote Pfütze in den Silberbecher und dann genehmigte er sich ebenfalls eine kleine Menge des edlen Getränks.
“Auf eine erfolgreiche Arbeit der Etiliengrunder Diener des Ewigen zum Wohle der Schneehager, heute und in Zukunft!”

 

Firian war für einen kurzen Moment überrascht von der Umarmung, ließ sie dann aber widerstandslos gewähren. Der Abt spürte, dass der Baron die Umarmung nach ein paar Herzschlägen sogar erwiderte. Firian empfand in diesem Moment große Dankbarkeit. Dafür dass er für seine Taten so deutliches Lob und Zuspruch bekam und zusätzlich dass dies unter vier Augen geschah. Er war das Erste alles andere als gewohnt und konnte mit etwas anderem als dem Zweiten nicht so gut umgehen. Wohl auch weil es so selten vorkam.

Er war kein großer Weintrinker und definitiv kein Kenner, aber er nahm die Geste ebenfalls dankbar an. Er erhob seinen Silberbecher und erwiderte den Prost…ergänzte ihn noch um:

“Und möge wenigstens ein Teil der Mittnacht dem Beispiel folgen und ebenfalls sicher von Dienern des Ewigen versorgt sein!”

Der Wein schmeckte wirklich großartig und sehr intensiv. Man spürte förmlich die Qualität und Intensität dieses Getränks. Nichts zum einfach runterschlucken und Firian behielt ihn so noch etwas länger im Mund. Er würde sich hüten zu versuchen, irgendwelche Nuancen und spezielle Geschmäcker zu vermuten, aber er war sehr, sehr gut.

 

Eine kurze Weile schwiegen beide Männer bis schließlich Firian seinen leeren Becher abstellte und so fast schon förmliche das nächste Thema einläutete:

“Als gegürteter Ritter, Mitglied der Familie Böcklin, die seit der Zeit Olat des Bogners hier am Finsterkamm lebt und herrscht, ist das eigene Ende kein neues Thema. Schon von klein auf wurde mir beigebracht und bewusst gemacht, dass das eigene Leben hier sehr schnell ein Ende finden kann. Viele Jahre bescherte mir dies auch kein großes Kopfzerbrechen. Es war und ist eine unabänderliche Tatsache und diese ändern zu wollen ist Zeitverschwendung. Doch in den letzten Jahren hat sich bei mir etwas verändert. Das Verhalten vieler meiner Standesgenossen auf den Thronen anderer Baronien der Mittnacht hat dazu beigetragen. Aber auch meine eigene Sicht auf die Dinge, die mir wichtig sind. Wo ich früher als junger Mann und frisch gegürteter Ritter, einem ruhmvollen Tod im Kampf und Rondras Glorie begeistert entgegen geblickt habe, ist dies inzwischen vollkommen verflogen. In meinen Träumen sehe ich mich inzwischen viel mehr als ein alter Mann, der alle seine Kinder hat aufwachsen sehen und erlebt hat, wie sie selbst Familien gründen. Der den Wunsch hat, seinen Enkeln beim Herumtollen zusehen zu können und der dazu auf sein blühendes Land blicken kann. Sieht, wie es gedeiht und nicht darnieder liegt voller Leid, Hunger und voller Ruinen von gebrandschatzten Hofstellen und Gräbern. Ich wünsche mir vielmehr, dass meine Kinder ebenfalls so ein Leben führen können und nicht ständig Angst um ihre Familie haben müssen. Der Gedanke meine Frau nie wieder sehen zu können, weil entweder sie oder ich im Kampf gegen den Schwarzpelz gefallen ist, macht mir Angst.

Das alles hat schon vor längerem dazu geführt, dass ich mich von der Art zu kämpfen, wie es die Kirche der Sturmleuin lehrt, abgewendet habe. Jedenfalls im Kampf mit dem Schwarzpelz… Die Lehren des Weißen Jägers sind in der Lage, in der wir Menschen uns hier am Finsterkamm befinden, viel… sinnvoller.

Das hat eine ganze Weile geholfen und mir und meiner Seele Beruhigung gebracht. Doch ich merke, wie ich immer mehr verbittere ob der bevorstehenden Zukunft. Jedenfalls, von der ich glaube, dass sie eintreffen wird durch die Zeichen, die ich sehe oder die Handlungen anderer. Ihr könnt an der Existenz der Schwarzpelze nichts ändern und auch am Handeln meiner Standesgenossen. Trotzdem stehe ich nun als Bittsteller vor euch. Ich bin also nun heute hier um von euch Hilfe zu erbitten, um meinen Glauben zu stärken und dem eigenen Tod wenigstens ein wenig das Grauen zu nehmen. Mir helft nicht weiter zu verbittern oder gar auf einen falschen Weg zu geraten und blind um mich zu schlagen. Etwas, was mir bereits heute von einigen vorgeworfen wird. Dass ich damit zu euch komme, ist die “Schuld” meiner Frau. Sie las mir vor einiger Zeit einen Text vor. Er passt nicht vollkommen, aber beschäftigt mich doch sehr, seitdem ich ihn hörte. Ich will fast sagen, ich habe seitdem eine Melodie dazu im Ohr. Ich lausche seitdem oft nach einer Antwort, wenn ich irgendwo bin, wo es still ist. Weder in dem Text noch bei meinen Beobachtungen gibt es aber eine Antwort. Ich hoffe nun ihr könnt mich erhellen, denn die gestellten Fragen im Text sind auch die Meinen. Aber bevor ich weiter rede, möchte ich es euch zunächst vortragen.

 

Wartend stehe ich am Strand

Aus der Ferne kommt ein Schiff

Halt ein Bündel in meiner Hand

Mit allem, was mir wichtig ist

 

Ich sehe dich und stelle dir die Frage die in mir brennt

Sag mir wie es ist von hier fort zu geh'n

Als eine Handvoll Asche mit dem Wind zu weh'n

 

Ich wollte dich nicht kennen

Wollt' nicht wissеn wer du bist

Hab gehofft, du lässt mich geh'n

Doch da war еs längst zu spät

 

Sag mir wie es ist von hier fort zu geh'n

Als eine Handvoll Asche mit dem Wind zu weh'n

 

Ich dreh mich nochmal um

Hinter mir Heimatland

Steige langsam in das Meer

Verlasse still den schwarzen Strand

 

Sag mir wie es ist wenn man seine Augen schließt

Und man für die Ewigkeit mit den Wellen fließt

Mit dem Wind zu weh'n

 

Sag mir wie es ist wenn man seine Augen schließt

Und man für die Ewigkeit mit den Wellen fließt

Mit dem Wind zu weh'n

 

Firian hätte noch mehr sagen können, doch war er der Meinung, dass gerade gegenüber einem Boroni nun genug Worte gefallen waren und er dem Abt zumindest die Möglichkeit einer Antwort geben sollte. Hoffte dazu, dass sein Standpunkt bis hierhin klar geworden war.

 

Eslamo Etiliano de las Dardas hörte still zu. Die Seelsorge war eine seiner wichtigsten Aufgaben und auch wenn er sie lange nicht mehr so oft ausübte wie einst, bevor er Hüter des Rabens in Etiliengrund wurde, wusste er doch, dass man den Strom der Worte, die aus den Tiefen der Seele nach oben sprudelten nicht unterbrechen sollte. Hier kamen die tiefsten Beweggründe der Hilfesuchenden nach oben an die Oberfläche. Hier sprach die Seele eines einfachen Mannes aus dem Mund des Hochadeligen. Die Zeilen, die der Baron rezitierte, waren ebenso lyrisch wie tiefsinnig. Sie widerspiegelten die so häufig an ihn und seine Glaubensbrüder und -Schwestern herangetragene Frage nach dem Ende des Lebens. Der Abt ließ sich Zeit mit der Antwort. Er ließ die Stille des Boronklosters auf Firian wirken. Dann hob er leise an zu sprechen.
“Glaubt mir, Hochgeboren, die Frage nach dem “wie es ist, wenn man endgültig seine Augen schließt”, kann ich Euch nicht beantworten. Niemand kann sie Euch beantworten, außer dem Einen. Denn dieser Moment ist gewiss für jede und jeden anders. So wie wir alle Individuen sind, jede und jeder einzigartig und unverwechselbar, durch all das, was uns in unserem Leben geprägt hat, so ist auch der Letzte Moment in diesem derischen Dasein, ein individueller Abschied.”

Der Abt hielt inne. Sein Blick ging in die Ferne, ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel. “Aber vielleicht ermöglicht der Herr der Letzte Dinge Euch eine Vision von Eurem ganz individuellen letzten Augenblick? Wenn Ihr möchtet, könnt Ihr diese Nacht in der “Halle des Todes” verbringen. Es ist ein Ort in dem sich unser Dunkler Vater den Schläfern offenbart, ihnen Träume und Visionen schickt oder die Gnade der Seelenruhe und des Vergessens gewährt. Es steht Euch offen, diese Gelegenheit zu nutzen.” 

Firian schien für einen kurzen Moment enttäuscht, als der Abt seine Antwort begann. Doch da dieser es damit nicht bewenden ließ, sondern weiter ausführte und ein Angebot machte, verschwand Firians Enttäuschung gleich wieder. Allerdings nicht ohne dass ein gewisser Respekt vor dem Vorgeschlagenen an die Stelle der Enttäuschung trat. Auch wenn er für einen Weidener wesentlich weniger Berührungskontakte mit der Boronkirche hatte, war das was der Abt andeutete doch eine Stufe. Mit vielleicht sogar etwas Unsicherheit in der Stimme antwortete er:

“Also es ist weniger eine Frage des Möchtens, denn wie ich glaube ich deutlich gemacht habe, treibt mich diese Frage und die damit zusammenhängenden Gedanken sehr um. Aber ich muss vorher erwähnen, dass ich, als Kind der Mittnacht, nur sehr rudimentär in den Riten und Gebeten der Boronkirche geübt bin. Das meiste davon habe ich hier gehört. Ich habe gar keinen Schimmer, wie ich mich in so einer Halle und einem offenbar heiligen Ort zu verhalten habe?” 

Der Abt lächelte. “Es gibt keine Riten und Regeln, an die Ihr Euch halten müsstet. Den Ritus vollziehen wir. Eure Aufgabe ist es lediglich zu schlafen. Ich denke, darin solltet Ihr erfahren sein.” Der Schalk umspielte die Augen des Almadaners. “Wenn es also euer Wunsch ist, dann werde ich Euch persönlich nach der Mitternachtsandacht in die “Halle des Todes” geleiten. Den Rest könnt Ihr getrost mir überlassen.” 

Firian nickte zustimmend. Die Vorstellung war ihm zwar immer noch nicht ganz geheuer, doch das verbarg er nun vollkommen. Die Hoffnung, für dieses “Risiko” wenigstens einen Teil der Antworten auf seine Fragen und Sorgen zu bekommen, war es sicherlich wert. 

Eslamo Etiliano de las Dardas schien sich über die Zustimmung des Schneehager Barons zu freuen. “Keine Sorge, Hochgeboren! Es wird eine besondere Erfahrung für Euch sein. Nicht jedem wird diese zuteil und der Dunkle Vater selbst entscheidet, was er Euch an Bildern schickt. Ich freue mich, dass Ihr Euch dafür entschieden habt. Borgol wird Euch nun zu Eurer Kammer geleiten und später sehen wir uns bei der Mitternachtsandacht. Bis dahin gehabt Euch wohl!”

In der “Halle des Todes”


Die Mitternachtsandacht fand in vollkommener Stille statt. Der Gebetsraum des Tempels war von wenigen Kerzen in ein mystisches Licht getaucht. Auf dem Altar stand eine Räucherschale, neben dieser zwei Kandelaber mit je drei Kerzen. Um den Altar bildeten weitere Kerzen das gebrochene Boronsrad. In den Bänken hatten bereits einige der älteren Akoluthen und Geweihten Platz genommen, im Altarraum im Halbkreis um das Boronsrad aus Kerzen lagen einige Kissen, auf denen sich vor allem die jüngeren Borondiener niedergelassen hatten. Von den Gästen des Klosters nahm außer dem Baron niemand an der Mitternachtsandacht teil.
Der Abt kam wie immer zuletzt aus der Sakristeitür. Er nahm auf einem Hochlehner mit schön geschnitzten Rabenschwingen Platz. Sein lautloser Segen, das Boronsrad, das über den Anwesenden in die Luft gezeichnet wurde, gab das Signal für den Beginn der Andacht.

Die spirituelle Kraft der gemeinsamen Meditation ergriff nach wenigen Atemzügen auch Firian. Getragen von dem tiefen Glauben der Geweihtenschaft verlor er jegliches Zeitgefühl. 

Anders als beim letzten Gottesdienst gab Firian sich redlich Mühe, nicht in vertrauten Bahnen zu denken. Er versuchte und suchte nicht nach dem Frieden der Natur und den Weisheiten und Geboten des Weißen Jägers. Er dachte an alles, was er über den Dunklen Vater wusste und an das, was ihn im Moment so belastete und zur Domäne des Gottes gehörte. 

Nach einer gefühlten Ewigkeit vernahm der Baron von Schneehag das leise Rascheln der Robe des Abtes. Eslamo Etiliano de las Dardas hatte sich erhoben. Als Firian aufblickte sah er, dass die Geweihten ebenfalls aufstanden. Ein letzter, stiller Boronsegen, dann verließen der Hüter des Raben und seine Geweihtenschaft so leise wie möglich den Tempel. Ein Akoluth blieb zurück um die Kerzen zu löschen. Als Firian ebenfalls den Tempel verlassen wollte, hielt der Akoluth ihn am Ärmel zurück.  Er schüttelte schweigend den Kopf und bedeutete ihm zu bleiben. Mit dem Verlöschen der letzten Kerze stand der Baron in vollkommener Finsternis.


Das Knarren der Tür zur Sakristei, und der daraus hervorkommende Lichtschein, ließen Firian aufblicken. Der Abt des Klosters trat in den Tempel. Er hielt eine Kerze in der Hand. Die Flamme sorgsam vor Luftzug schützend trat der Almadaner auf seinen Lehnsherrn zu. Er bedeutete ihm mit einem Kopfnicken ihm zu folgen. Direkt neben dem Zugang zur Sakristei fand sich eine schmale, niedrige Tür. Der Abt öffnete sie und ging voraus, die Kerze vor sich haltend. Eine Wendeltreppe führe nach unten.

Firian atmete noch einmal tief ein, bevor er mit in die Tiefe ging. Auf den Stufen nach unten dachte er kurz darüber nach, was er wohl für ein Mensch sein würde, wenn er diese Stufen wieder hochgehen würde. Beruhigte sich dann aber damit, dass die Borondiener dies ja häufiger taten und auch nicht jedes Mal in den Grundfesten verändert wurden.

Unten angekommen, öffnete sich ein Raum, der von einem Kreuzgewölbe gedeckt war. Vier einfache Liegen standen in der dunklen, quadratischen Halle. Schwarze Decken und Kissen warteten auf die Schläfer, die hier die Nacht verbringen sollten. Neben jeder Liege fand sich ein kleiner Tisch, auf einem davon sah man eine Kerze und ein Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit und in der Mitte der Halle stand ein Säulenpodest, auf dem sich eine Räucherschale mit glühender Kohle befand.

Eslamo Etiliano de las Dardas wies Firian die Liege zu, auf deren Tischchen die Kerze und der Becher stand. Er bat ihn, sich zu setzen und entzündete die Kerze mit seiner Kerze.
“Vor Boron sind alle Menschen gleich”, begann er, ohne den Baron mit dem ihm gebührenden Titel anzusprechen. “In dem Gefäß befindet sich ein Tee mit schlaffördernden Kräutern. Keine Sorge, es ist nichts dabei, das Nebenwirkungen hat. Ich werde gleich einige traumfördernde Räucherkräuter in die Glut legen. Dann verlasse ich Euch. Versenkt Euch in die Betrachtung des Kerzenlichts und formuliert in Euren Gedanken die Frage, die Euch umtreibt. Richtet diese stille Frage an den Unergründlichen. Dann löscht das Licht und legt Euch schlafen.”

Der Abt wartete, ob Firian Fragen hatte. 

Firian nickte mehrfach zustimmend, stellte aber keine Frage mehr. Er fand einfach, dass hier im Allerheiligsten, er vermutete jedenfalls, dass dies das Allerheiligste des Tempels war, jedes gesprochene Wort eigentlich eines zu viel war. Er setzte sich auf die ihm zugewiesene Liege und wartete auf das, was nun folgte.

Mit bedeutungsvoller Geste segnete er den Baron von Schneehag und sprach ein Gebet:

“Herr Boron, der Mann, der sich hier in deine Hände begibt, wünscht sich von dir Antworten auf seine Fragen. Prüfe ihn und gewähre ihm, was ihm gebührt und zuträglich ist. Bishdariel, begleite seinen Schlaf und halte schützend seine Schwingen über ihn! Herr Boron schenke ihm die süße Gnade des Schlafes und des Träumens!” 

Mit diesen Worten trat der Hüter des Raben von der Liege zurück, griff in eine Tonurne und streute eine Handvoll Räucherkräuter auf die Glut. Rausch stieg auf, kräuselte sich und senkte sich dann gleichmäßig auf alle vier Liegen hinab. Ein balsamischer Duft nach Weihrauch, Salbei, Mohn und Lotus breitete sich aus. Ohne ein weiteres Wort drehte sich Eslamo Etiliano de las Dardas um und verließ die “Halle des Todes”.

 

Firian blieb alleine zurück. Zunächst atmete er einige Male ein und aus. Nicht so tief wie es ging, aber tief genug, um einiges von dem Duft der Räucherkräuter aufzunehmen. Noch immer auf dem Rand der Liege sitzend, wedelte er sich dann ein, zweimal mit beiden Händen etwas Rauch zu und führte seine Hände über den Kopf wieder nach vorne. Er versuchte, sich weiter zu beruhigen und seine Atmung zu verlangsamen. Anschließend nahm er sich den Becher mit der Flüssigkeit und trank zunächst vorsichtig, um sich nicht eventuell an dem zu heißen Getränk den Mund zu verbrennen. Doch das Getränk war nicht mehr so heiß und er nahm noch zwei weitere, nun kräftige Schlücke. Er merkte, wie er langsam schläfrig wurde und legte sich nun hin. Einen kurzen Augenblick ordnete er Kissen und Decke und fand eine gute Schlafposition auf der Seite. Seine Augen fixierten das Kerzenlicht genauso wie ihm geheißen wurde und sein Geist kreiste um die Frage, die ihn umtrieb, als er die Flamme auslöschte. Den Moment des Einschlafens bekam er nicht mehr mit.

 

Das Knarren der Tür weckte den Baron von Schneehag. Eslamo Etiliano de las Dardas sah, wie er von der Liege hochschreckte. Die brennende Kerze in der Hand näherte er sich vorsichtig und wünschte dem Böcklin einen guten Morgen. In der Hand trug der Hüter des Raben eine Wachstafel, die er gemeinsam mit einem Stilus auf das Tischchen neben der Liege legte. “Falls Ihr Euch Notizen über die Traumbilder machen möchtet”, sagte er sparsam. “Oben im Refektorium wartet ein Frühstück auf Euch. Ich werde zunächst die Morgenandacht leiten, danach können wir uns in meinem Gemach treffen und Eure Traumbilder analysieren.”

Der Abt wartete nicht ab, ob Firian etwas aufschreiben oder ihm gleich folgen wollte. Er entzündete die Kerze auf dem Tischchen neben der Liege, drehte sich um und verließ die “Halle des Todes”. 

Firian nickte dem Abt dankend zu und war noch ganz gefangen in dem, was er geträumt hatte. Tatsächlich nahm Firian die Wachstafel und den Stilus zwar bereitwillig entgegen, schrieb aber zunächst nichts auf. Ihm fehlte unheimlich die frische Luft der Natur, auch wenn es hier ja keineswegs modrig roch oder dergleichen. Nachdem er noch einen Moment abgewartet hatte, ging er sogleich ebenfalls nach oben. Sein Weg führte ihn zunächst direkt nach draußen und als er unter freiem Himmel stand, atmete er die Luft ein und lauschte den Geräuschen der Welt. Erst danach ging er ins Refektorium und frühstückte eine Kleinigkeit. Hauptsächlich trank er einen heißen Tee und schrieb dann auch einiges auf die Wachstafel, was ihm jetzt noch frisch in Erinnerung war. Er ließ sich Zeit dabei und dachte immer wieder länger nach. Seine Stirn war allerdings recht kraus, sodass ein Beobachter wohl denken würde, dass dem Baron nicht wirklich deutlich war, was er dort niederschrieb. Gespannt wartete er, bis die Andacht vorbei war und er abgeholt wurde.

 

Nazir Nocturnus Heldor, Deuter Bishdariels, holte den Baron zum Zwiegespräch mit dem Hüter des Raben ab. Neugierig fragte er Firian, wie es ihm in der Nacht in der Halle des Todes ergangen sei. “Die Erfahrungen unserer Gäste sind ja sehr unterschiedlich. Manche machen kein Auge zu, einige brechen die Visionssuche sogar frühzeitig ab. Andere sind wie beseelt nach einer Nacht so nah am Meister der Rätsel und Mysterien. Wie erging es Euch?” 

Firian antwortete nicht sofort, wahrscheinlich war Nazir kurz davor zu vermuten, er würde keine Antwort bekommen.

“Mir fällt es noch schwer, das einzuordnen und ich hoffe, der Abt kann mir bei der Deutung helfen. Ich kann jedenfalls soviel sagen, dass ich glaube, sehr schnell eingeschlafen zu sein und dass ich sehr intensiv geträumt habe. Ob ich mich beseelt fühle und das das richtige Wort dafür ist weiß ich nicht. Die Nacht hat für mich einiges an Rätseln und Mysterien gehabt. Ich kann aber nicht sagen, ob diese Träume als Vision gewertet werden können…Ihr müsst wissen, dass ich recht häufig Träume. Was würdet ihr sagen, ist es ein gutes oder schlechtes Zeichen, dass mir so oft im Schlaf Träume geschickt werden?” 

Der Borongeweihte lächelte. “Ein gutes Zeichen, Hochgeboren! Einer von Borons wichtigsten Alveraniaren, der Traumbote Bishdariel, ist Euch gewogen!”

Sie hatten die Privaträume des Abtes erreicht. “Ich bin sicher, der Hüter des Rabens wird Euch helfen, die Bilder zu analysieren und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Das Angebot steht auch in Zukunft, auf die Fähigkeiten eines Deuters Bishdariels zurückzugreifen, wenn Ihr ein Traumgesicht hattet, das Euch verunsichert und sich nicht ohne Hilfe analysieren lässt. Hier in Etiliengrund werdet Ihr immer Hilfe finden.”

Nazir klopfte an die Türe und übergab den Baron von Schneehag an Borgol, der diesen sogleich in das Privatgemach des Abtes weitergeleitete. 

Firian nickte erleichtert nach den Worten von Nazir. Gut, dass es schon mal etwas gab, mit dem man arbeiten konnte. Auch das Angebot freute ihn, auch wenn er irgendwie ein Gefühl bekam, als ob die Gelegenheit dazu nicht mehr kommen würde. Fast hätte er den Geweihten gefragt, ob bei ihm vielleicht eine Versetzung anstand, aber da waren sie schon bei der Tür zu den Räumen des Abtes angekommen.

“Boron mit euch”, verabschiedete er Nazir vorerst und folgte Borgol.

Beim Abt angekommen, gelang es ihm nicht, Geduld zu wahren. Er sprach den Abt was direkt an:

“Wie geht es jetzt weiter und vonstatten? Was muss ich tun? Soll ich euch meine Träume gleich komplett erzählen oder wollt ihr euch sie mit einzelnen Fragen erschließen? Ich brenne darauf, eure Interpretation dazu zu erfahren und ob ihr es überhaupt für eine Vision haltet!” 

Eslamo Etiliano de las Dardas lächelte milde. “Gemach, gemacht, mein Bester! Ich bin sehr wohl an Eurem gesamten Traum interessiert. Die Fragen ergeben sich dann daraus. Und die Interpretation folgt dann, wenn wir uns gemeinsam dazu Gedanken gemacht haben.”

Er schob Firian einen Becher mit dampfendem Tee hinüber. Dann legte er die Hände in den Schoß und wartete.

 

Firian nahm sich den Becher und trank noch einen Schluck vom Tee, bevor er begann zu berichten.

"Ja, wie beginne ich… vielleicht zunächst einmal damit, wie mich der Traum zurückgelassen hat. Trotz allem, was ich da Widersprüchliches oder Unverständliches wahrgenommen habe, kann ich jetzt schon sagen, dass sich bis zu einem gewissen Grad eine Besserung eingestellt hat. Ich würde sagen, die Befürchtungen über eine düstere Zukunft mit schmerzhaften Verlusten hat sich verringert. Wie wahrscheinlich üblich begann der Traum nicht an einem konkreten Punkt und auch die Handlung war nicht wirklich stringent. Ich fand mich, als Beobachter, die ganze Zeit nicht innerhalb meines Körpers, sondern überblickte das Geschehen aus der Perspektive eines Vogels oder vielleicht eines Tieres, das hoch im Baum sitzt. Ich sah eine Person, die nicht wirklich so aussieht wie ich, aber es fühlte sich schon so an, als ob ich mich selbst beobachten würde. Zu Beginn befand ich mich definitiv in Weiden…Schneehag wahrscheinlich aber nicht. Die Berge waren rauer und höher und der Wald lichter. Es war eine sehr bedrohliche Stimmung und ich spürte eine große Bedrohung. Ich sah immer wieder Kämpfe zwischen Schwarzpelzen auf der einen Seite und Menschen und Elfen auf der anderen Seite. Ich konnte niemanden direkt erkennen, aber ich glaube schon, dass es mein Aufgebot war. Es endete sehr düster und wäre ich wohl in diesem Moment aufgewacht, wäre mein Herz wohl sehr schwer gewesen. Doch im dunkelsten Moment, gerade hörte ich deutlich die Schwingen eines Vogels und Rabenkrächzen, nahm ich plötzlich der Schrei einer Eule wahr. Danach eine lange Zeit wie im Winterschlaf. Ich sah Bilder einer Höhle…einen Bären, Wölfe, Hirsche und andere Tiere. Ich…also die Person, die ich die ganze Zeit aus der Höhe sah… verbrachte eine lange Zeit in der Wildnis… sie jagte, baute sich eine einfache Hütte und sprach immer wieder mit verschiedenen Tieren. Wäre ich in diesem Moment aufgewacht, hätte ich euch wahrscheinlich gesagt, ich vermute meinen Tod gesehen zu haben und dass ich im Firuns Jagdgründen bis zur Ewigkeit als Jäger verbringen würde. Es hatte etwas durchaus Beruhigendes und Friedliches. Aber dann…, im Traum und auch jetzt noch, spürte ich den Stich des Verlustes. Meine Frau, meine Kinder, meine Familie und dergleichen. Der Traum hatte noch einen letzten kurzen Part, der sehr undeutlich war und mich voller Fragen zurücklässt. Da war eine Landschaft, Schneehag nicht unähnlich, und ich flog gleich einem Adler sicher 1000 Schritt oder höher über diese hinweg. Aber es war nicht Schneehag! Der Fluss war viel größer als der Fialgralwa und hatte eine enge Biegung. Das Land war viel reicher als Schneehag. Sei es an Wäldern, fruchtbaren Auen als auch an Wild und Menschen. Die Berge waren höher, aber nicht so düster wie der Finsterkamm. Das Allerwichtigste aber, ich spürte und sah keine Anzeichen von Schwarzpelzen! Ich verspürte ein starkes Gefühl von Heimat… und wachte dann auf….”

 

Der Abt hörte still und ernst zu. Er unterbrach Firian nicht. Als der Baron geendet hatte, schloss er für eine Weile die Augen. Es war nicht zu erkennen, ob er betete, innere Rücksprache mit Bishdariel hielt oder einfach einen Moment der Sammlung brauchte. Als er die Augen wieder öffnete, schenkte er dem Baron einen langen, intensiven Blick in dessen Augen. Es schien, als forschte er, als könnte er in seinem Gegenüber lesen wie in einem Buch.

“Der Dunkle Vater und sein Alveraniar Bishdariel scheinen dir äußerst gewogen, sie beschenken dich mit einem ungewöhnlich klaren Traum. So ist es dir bereits gelungen, einen großen Teil davon selbst zu entschlüsseln.”

Er hielt inne, wartete auf das bestätigende Kopfnicken des Böcklin und fuhr dann fort. “Den ersten Teil des Traumes muss ich, so entnehme ich es Eurer Aussage, nicht weiter erläutern.  Der Kampf gegen den Schwarzpelz ist, so kann man wohl sagen, ein verhassten, aber nicht unbekannter Teil Eures bisherigen Lebens. Und gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr das Rauschen von Golgaris Schwingen auch nicht das erste Mal vernahmt?”

Firian hatte bei den Wortes des Abtes ein-zweimal mit dem Kopf hin und hergewogen. Ihm fiel es schwer den Unterschied zwischen willkürlichen Traumbildern und eventuellen Zeichen für die Zukunft zu unterscheiden. Die konkrete Frage dagegen konnte er sehr schnell beantworten. Fast wie von alleine gingen seine Finger zu der auffälligen Narbe die an seinem linken, äußeren Augenwinkel begann und über Schläfe bis weit hinter sein linkes Ohr ging. Sie war nicht die einzige aber doch die markanteste Narbe die er trug und die ihn beständig an die eigene Sterblichkeit erinnerte seitdem er sie sich im Kampf mit Haderlumpen rund um die Hochzeit der Gräfin von Bärwalde im Travia 1043 BF zugezogen hatte.

"Nein, ganz recht…schon häufiger…deshalb kam mir ihr Klang auch irgendwie vertraut vor!”

“Was dann folgt, ist interessant. Die Bilder der Tiere, der Höhle… das dazugehörige Gefühl des Friedens, das Euch beruhigte. Ich frage Euch: Macht es in diesem Moment einen Unterschied, ob diese Szene sich auf Dere oder in den ewigen Jagdgründen des Weißen Jägers abspielte? Gibt Euch das dazugehörige Gefühl des Friedens und der Ruhe nicht die Sicherheit, dass es keine Rolle spielt, ob diese Bilder ein Leben vor oder nach dem Flug über das Nirgendmeer darstellen?”

Eslamo Etiliano de las Dardas’ dunkelbraune Augen suchten in denen des Barons nach der Antwort.  Schon bevor sich die Lippen seines Gegenübers öffneten, wusste er, was der Ratsuchende antworten würde. Er kannte dessen Diesseitsliebe, sowie die den meisten Weidenern innewohnende Scheu vor dem Unvermeidlichen und der letzten Konsequenz des derischen Daseins. 

Firian überraschte den Abt vielleicht ein kleines bisschen, da er etwas länger brauchte um zu antworten. Die Antwort selbst war dagegen schon eher nach seinen Erwartungen.

“Nun zum einen habt ihr Recht dass, sollte das so gewesen sein, es eine durchaus angenehme Aussicht auf ein “Leben” nach dem Tod war. Doch würde ich bevorzugen, diese Jagdgründe erst als steinalter Mann zu sehen und war ich dort ja auch alleine. Was ist mit den Meinen in diesem Moment? Leiden sie Verlust und Schmerz…finden sie gerade wohlmöglich einen grauenhaften Tod durch die Hand der verdammten Orks während ich es mir gut gehen lasse?” 

Der Abt lächelte milde. “Ja, die Sorge um die Angehörigen. Es ehrt Euch, dass Ihr Euch um die Eurigen sorgt. Doch darauf gibt Euer Traumbild der letzten Sequenz auch keine Antwort. Denn Eure Bilder zeichnen eine fruchtbare Landschaft, aber sie lassen Euch im Ungewissen über den Verbleib Eurer Lieben. Wir können nur vermuten, dass angesichts des guten Gefühls, das nach der Vision zurückblieb, einen Hinweis darauf gibt, dass diejenigen,  die Euch wichtig und wertvoll sind, wohlauf sind.”

Der Abt beobachtete den Baron genau. “Es gibt oft mehr als eine Deutung solcher Träume, Hochgeboren. Und auch ich kann Euch die perfekte Lösung nicht bieten, aber seid versichert,  wenn der Traumbote Euch mit einem guten Gefühl zurücklässt, habt Ihr die Gewissheit,  dass der Ewige Euch noch einige Götterläufe auf Dere gewähren wird.”

Firian sah eine Weile auf den Boden und fast könnte man glauben er wäre leicht verlegen als er sagte:

“Ehrt mich nicht zu sehr…die Sorge um meine Angehörigen beinhaltet ja auch ein ganzes Stück Eigennutz. Oder besser gesagt, sie werden mich sehr wahrscheinlich auch vermissen, ich sie aber in jedem Fall! Mir wäre die Vorstellung eines Lebens in Sicherheit und gut versorgt, zusammen mit dem Wissen, dass sie leiden oder gestorben sind, ein Graus. Aber ich gebe euch natürlich Recht…der Traum gibt, was das angeht, keine klare Aussicht. Würde der Traumbote mir denn so ein Gefühl vermitteln, wenn er weiß, wie furchtbar ich es empfände, wenn nur ich alleine in Sicherheit wäre? Ist er an dieser Stelle vielleicht seinem Bruder Firun ähnlich?”

Der Abt schüttelte den Kopf. “Nein, das Gefühl trügt nicht!”, sagte er mit Bestimmtheit.

“Es war ein äußerst bedeutungsvoller Traum für Euch, Hochgeboren! Es erfüllt mich mit Genugtuung,  dass wir Euch dazu verhelfen konnten. Möge der Ewige noch lange seine schützende Hand über Euch halten!”

Elsamo Etiliano de las Dardas stand auf. Er segnete den Baron noch einmal,  dann entließ er ihn in den Tag.