Der Liebesbrief

Burg Urkenfurt,  Baronie Urkentrutz, Hesinde 1046 BF

 

Lyssandra von Finsterborn saß im Thronsaal von Burg Urkenfurt am offenen Kaminfeuer und trank einen heißen Tee. Draußen tobte ein heftiger Schneesturm. Um die Burg vor dem heftigen Firunsatem zu beschützen, hatten die Bediensteten alle Fensteröffnungen mit Holzladen verrammelt und Strohsäcke in die Mauernischen gesteckt, damit die Wärme des Feuers im Saal blieb. Die Baronin war mit ihrem Sessel horasischer Herkunft nah an das prasselnde Feuer gerückt und bei ihr saß ihre älteste Tochter. Minerva hielt die Schultern hochgezogen, die Arme eng um den Körper geschlungen und die Hände unter die Achseln geklemmt.

“Hol dir doch was Wärmeres zum Drüberziehen oder einen Mantel. Das ist ja nicht mit anzusehen!”, schalt die Baronin ihre Älteste. “Und wenn du schon hinauf gehst, bring mir doch bitte das Schultertuch mit, das ich im letzten Götterlauf auf dem Textilmarkt in Hollergrund erstanden habe, ja?”

Minerva wusste, dass das nicht wirklich eine Bitte war, sondern ein Befehl. Ihre Mutter verpackte es nur diplomatischer. Mit provozierender Langsamkeit erhob sich die Neunzehnjährige und schlurfte von Dannen.
Sie erklomm die Stiege zum zweiten Stockwerk und ging den Gang entlang. Rechts das Gemach ihrer Mutter, daneben Danjes und Oberons Kemenate. Die Kammern der Kinder Lyssandras folgten am Ende des Korridors. Theodors und Eylins Schlafgemächer waren verwaist, nur Minerva lebte aktuell auf der Burg.

Die Knappin steuerte ihre Kammer an und warf sich einen alten Umhang über die Schultern. Der graue Wollstoff wärmte gut, auch wenn das Kleidungsstück schon bessere Tage gesehen hatte. Der Walkstoff war verschossen und Rußflecken zeigten an, dass er oft am Lagerfeuer getragen worden war.

Sie verließ ihre Kammer und begab sich zur Kemenate der Mutter. Die Baronin besaß mehrere Truhen für ihre Kleidung. Minerva wusste nicht genau, in welcher sie das Schultertuch finden würde. Sie öffnete den Deckel der ersten. Unterkleider, Unterwäsche, Bruchen, Beinlinge und diverse andere Unterkleidung für Kettenhemd und Rüstung füllten diese Truhe.

Minerva schloss den Deckel wieder. Die zweite Truhe enthielt Überkleider für den Sommer und Winter. Die edelsten Gewänder lagen fein säuberlich zusammengelegt in der dritten Truhe aus dem Nachlass ihrer Großmutter, Thalia ya Papilio. Auf den ersten Blick konnte Minerva in keiner der Truhen das gewünschte Schultertuch erkennen. Es war fein gearbeitet in weiß und blau, den Farben der Baronie Urkentrutz.

Sie vermutete es in der Truhe mit den einfacheren Sommer- und Wintergewändern. Also hob sie erneut den Truhendeckel und begann in den von Lyssandras Zofe Wigdis ordentlich zusammengelegten Kleidungsstücken zu suchen. Sie gab sich leidlich Mühe, nicht allzu viel Unordnung zu schaffen. Plötzlich hielt sie ein seidenes Tuch in der Hand, das beim Anfassen eigenartig knisterte. Neugierig geworden schlug die Neunzehnjährige das nach teurem Parfüm duftende Tuch auf. Das edle Seidengewebe zeigte einen Pfau in den Farben blau, grün und türkis. Im Inneren des Tuches stieß sie auf mehrere fein säuberlich gefaltete Briefbögen schönsten Papiers, ganz sicher horasicher Qualität.

Minerva faltete den ersten Brief auf und sah eine elegante Handschrift, an ihre Mutter adressiert. Die Anrede lautete: an meine hingebungsvoll verehrte Lyssandra

Minerva zog die Augenbrauen hoch.

Wer schrieb ihrer Mutter einen solchen Brief? Noch bevor sie den Rest des Schreibens las, suchte sie nach dem Namen des Verfassers. Ricardo della Carenio. Dazu ein Wappen in Gelb zwischen Blau, das auf dem gelben Längsbalken eine Distel zeigte, oben und unten begleitet von zwei roten Geldsäckchen. Ratlos, um wen es sich bei dem Verfasser handeln könnte, begann Minerva den Rest des Briefes zu lesen.

“Oh wie sehr vermisse ich dich, Lyssandra , Königin meines Herzens, Traumbild meiner unruhigen Nächte. Wie sehr blutet mein Herz, seit du mich so ohne Aussicht auf ein Wiedersehen verlassen hast. Die Liebholde fesselte mich mit ihren dornigen Kletterrosen, hämisch lacht sie, weil ich mich nach dir verzehre. Nacht für Nacht matert Rahja mich mit Träumen von dir. Ich schmelze vor Sehnsucht nach deinen Armen, die mich hielten, nach deiner duftenden Haut und deinen schönen Augen, die mir eine Hoffnung auf mehr als die Umarmung zum Abschied verhießen. Wohlige Schauer überfallen mich, wenn ich mir ausmale, was passieren könnte, wenn wir uns wiedersehen.

Wiedersehen! Wann? Wann, frage ich dich verzweifelt, werden wir uns wiedersehen? Darf ich hoffen auf eine Fortsetzung dieser einen, innigen Umarmung, die mir so viel Hoffnung gab?

Bitte, lass mich nicht so verzweifelt zurück! Gib mir den Funken einer Hoffnung auf ein Wiedersehen! Ich bitte dich aus tiefstem Herzen!

Schreib mir sogleich!

In verzweifelter Liebe,

Dein Ricardo della Carenio

 

Zwei weitere Briefe fand Minerva. Einer schwülstiger als der andere. Mal wurde ihre Mutter als schönste Blume Nordaventuriens bezeichnet,  mal als hellster Stern am Nachthimmel. Der Verfasser der Zeilen schien sich Hoffnung darauf zu machen, dass Lyssandra zu ihm zurückkehrte - ins Liebliche Feld.

Minerva atmete tief durch. Sie schwankte zwischen Wut auf den Verfasser für diese Dreistigkeit und Wut auf ihre Mutter, die sich offensichtlich auf ihrer Reise ins Reich des Horas mit einem Mann eingelassen hatte. Hatte sie das wirklich? Innige Umarmung stand da in jener schwungvollen Handschrift und der Briefeschreiber sprach von ihren Armen, die ihn gehalten hatten und vom Duft ihrer Haut. Wie weit war ihre Mutter gegangen? Hatte sie gar das Bett mit diesem Kerl geteilt?

Minerva ließ die Seiten sinken, faltete und verbarg sie erneut im Seidentuch.

Was sollte sie tun? Die Briefe vorzeigen? Die Mutter direkt darauf ansprechen? Oder abwarten, ob sie sich verriet? Doch bislang hatte sie diesen Ricardo della Carenio mit keiner Silbe erwähnt.

Minerva entschied sich, das Päckchen mit den Briefen zunächst wieder zu verstauen. Sie suchte weiter nach dem Schultertuch und fand es wenig später auch unter einem langen wollenen Rock. Das Schultertuch, das ihre Mutter im vergangenen Götterlauf in Hollergrund auf dem Textilmarkt erstanden hatte, war wunderschön. Verschiedene Blautöne mischten sich mit Weiß und ab. Die fein versponnenen Wollfäden waren so geschickt kombiniert, dass sich ein Farbverlauf wie bei einem Gemälde ergab. Bewundernd strich Minerva über die Handarbeit. Dann raffte sie sich auf und trug das Tuch in den Thronsaal. 

Lyssandra sah ihrer Tochter lächelnd entgegen. 

“Vielen Dank, Liebes!”, entgegnete sie und warf sich das Tuch sogleich über die Schultern. Empathisch wie nur eine Mutter sein konnte, hatte die Baronin am Blick und der zögernden Handbewegung mit der Minerva das Tuch an sie übergab, erkannt, wie sehr es ihrer Ältesten gefiel.

“Beim nächsten Textilmarkt kommst du mit, Minerva, und wir finden ein ebenso schönes Tuch für dich.”

Minerva spürte, dass die Wut auf die Mutter bereits verrauchte. Sie bemühte sich zu lächeln, nickte sogar.

Doch als sich die Mutter wieder dem prasselnden Feuer zuwandte, nahm sich die Neunzehnjährige ein Herz. Es musste einfach raus!

“Wer ist Ricardo della Carenio?”

 

Die Mutter fuhr herum. Ihre Augen spiegelten Überraschung, Unglauben und je länger sie Minerva ansahen, desto mehr Ärger mischte sich dazu.

“Woher kennst du diesen Namen?”, fragte die Baronin mit nur mühsam unterdrücktem Argwohn.

Die Thronfolgerin konnte sehen, wie es hinter der Stirn der Mutter arbeitete.

“Wer ist Ricardo della Carenio?”, fragte Minerva erneut, ohne auf die Gegenfrage Lyssandras einzugehen. Ihre Stimme klang hart und um ihr Nachdruck zu verleihen, stützte die junge Frau mit den dunkelbraunen Locken ihre Hände in die Hüften.

“Ein Bekannter aus dem Lieblichen Feld”, erwiderte die Baronin.  Sie versuchte, es so belanglos wie möglich klingen zu lassen. Dann drehte sie den Spieß um.

“Woher hast du diesen Namen und wer gibt dir das Recht mich so auszufragen? Habe ich etwas verbrochen?”

Lyssandras Stimme war schneidend, sie reckte das Kinn nach oben, um ihrer Ältesten zu verstehen zu geben, dass sie sich weit über die Grenzen des Anstands hinausbewegte.

Nun brach bei Minerva die nur mühsam bewahrte Ruhe in sich zusammen und das Temperament einer Neunzehnjährigen brach hervor.

“Du brauchst gar nicht so tun, Mutter! Ich weiß, dass du was mit dem Kerl hattest und jetzt will ich wenigstens wissen, wer der Verfasser dieser schwülstigen Liebesbriefe ist!”

Lyssandra holte tief Luft. Sie zwang sich nicht gleich loszubrüllen, zählte innerlich bis zehn.

“Ricardo della Carenio ist ein hochangesehener Justiziar aus dem Lieblichen Feld. Ein Bekannter von Tante Alisa und Onkel Garis ya Papilio. Er lebt in der Hafenstadt Sewamund.”

Minerva wartete darauf, ob noch weitere Informationen folgen würden, doch die Mutter schien zu glauben, dass diese dürftigen Sätze genügen würden. 

“Und weiter? Habt ihr ein Verhältnis?”, bohrte sie nach.

“Minerva!”, schalt die Mutter entrüstet. “Was erlaubst du dir? Unfassbar, dass du dich erdreistest, meine Korrespondenzen zu lesen. Die Briefe waren nicht für deine Augen gedacht und das weißt du genau! Welch Bodenlosigkeit in deinem Verhalten! Deiner Mutter nachzuspionieren, unmöglich! Und jetzt vergaloppierst du dich! Das geht dich nichts an!”

Minerva wusste, dass die Mutter recht hatte, wollte es aber weder zugeben noch nachlassen, bis sie eine konkrete Aussage erhalten hatte. Sie starrte die Mutter wütend an.

“Es gibt nichts was du wissen müsstest, Minerva und ich bin dir, bei der Eidmutter, auch keine Rechenschaft schuldig! Geh jetzt! Lass mich allein! Und sei froh, dass ich dich für diese Unverschämtheit und den Vertrauensbruch nicht bestrafe! Verdient hättest du es!”

Lyssandras Zeigefinger wies Minerva die Tür. Stumm und mit wütendem Aufstampfen verließ die junge Frau den Thronsaal. Die Angelegenheit war damit aber natürlich nicht vergessen.