Im Rahjatempel zu Aîlenstein

Baronie Teichenberg, Anfang Phex 1046 BF 

Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, saß Minerva auf ihrer Nordmähne Bazi. Lyssandra von Finsterborn beobachtete sorgenvoll ihre Ältetste. Sie konnte es ihrer Tochter nicht verübeln, dass die Ereignisse der vergangenen Tage sie durcheinandergebracht hatten. Die brutal geschlachteten Pferde der Heiligen Herde von Menzheim, die Sorge um die beiden überlebenden, von den Frevlern gestohlenen Rösser und die verwirrenden Ereignisse, die am Ende den Gemahl der Baronin von Teichenberg beinahe das Leben gekostet hätten. All das schien die Neunzehnjährige mehr mitgenommen zu haben, als die Mutter erwartet hatte. So in sich gekehrt hatte die Urkentrutzer Baronin ihre Tochter lange nicht gesehen.

Das Wetter hatte umgeschlagen, es war nasskalt und windig geworden. Die kleine Gruppe, bestehend aus Lyssandra, ihrer Tochter Minerva und Dienstritter Oberon von Uhlredder, dessen Knappin die Älteste der Baronin war, hatte ihre Reise fortgesetzt. Ursprünglich waren sie ja nach Menzheim geritten, um für Lyssandras neuen Elenviner Vollbluthengst El Abrego, einen repräsentativen Sattel und Zaumzeug zu kaufen. Doch es sollte ganz anders kommen. Nachdem sich die Ereignisse überschlagen hatten und sie Teil der Verfolgergruppe der Pferdemörder geworden waren, hatten sie die Spuren nach Teichenberg geführt, wo sie schließlich den Geweihten der Efferd- und der Rahja-Kirche halfen, in einem machtvollen Ritual den Baroninnengemahl Alardus Schwerterstreich von Brockingen zu retten. Dankbar hatte man ihnen auf Burg Fuchsstein zu Teichenberg ein Festbankett gegeben. Lyssandra und Oberon, die bei den Kämpfen mit den Widersachern Rahjas verletzt worden waren, mussten sich zwei Tage ausruhen und pflegen lassen. Dann aber wollten sie weiterreiten zu ihrem ursprünglichen Ziel - nach Menzheim.

Minerva versuchte sich den Widerstreit ihrer Gefühle nicht anmerken zu lassen. Wie verbissen und verkrampft sie sich bemühte, spiegelte sich in ihrem Gesicht und führte dazu, dass ihre Mutter die Ursache für das ungewöhnlich stille Verhalte ihrer Ältesten verkannte.

Aufregend waren die Tage in Teichenberg gewesen, in vielerlei Hinsicht. Die Tötung der Heiligen Herde hatte Minerva sehr schockiert und bis auf den heutigen Tag fragte sie sich, wie diese Scheusale den unschuldigen Tieren das antun konnten. Diese Pferde verkörperten die reinste Lebensfreude, alles, was der Liebholden heilig war. Wie abscheulich war ein derartiges Massaker an der Heiligen Herde!

Doch daneben hatte noch ein anderes Erlebnis Minerva durcheinandergebracht. Die Zeit in Aîlenstein, die sie gemeinsam mit Leonil Eichenstein von Brachfelde, dem Zweitgeborenen des Brachfelder Barons Gamhain, verbracht hatte. Hatte es an der rahjagefälligen Umgebung gelegen? Oder dem Pavillon der Heiteren Göttin, der in einem aufwändig gepflegten Garten mit Heckenlabyrinth der Junkerin Dylga lag? Der kleine Tempel der Berauschenden war exquisit ausgestaltet mit Fresken, Dekorationen und Malereien, die die Schönen Künste rahjagefällig zur Geltung brachten.

Oder hatte es eher an der Art und Weise gelegen, wie Leonil seine Lieder gespielt und gesungen hatte? Minerva bewunderte die Kreativität, mit der er mühelos die in den Bilderszenen des Tempels dargestellten Begebenheiten in Gedichte fügte. Und mindestens ebenso sehr begeisterte sie sein Spiel auf der Laute, an dem man seine Lehrmeister erkannte: seine Base Yolanda von Brachfelde hatte seine musikalische Gabe von Anfang an gefördert, am Bärwaldener Grafenhof hatte sich Meister Eisewyn des jungen Pagen angenommen und seit seinem vierzehnten Lebensjahr wurde er von Meistersinger Arve vom Ochsenwasser auf der Bärenburg unterrichtet, einem früheren Leiter des Hauses von Aldifreid dem Sänger. Was kümmerte es angesichts dieses Talents, dass er seine ritterliche Ausbildung - zum Leidwesen seiner rondrianischen Mutter – abgebrochen hatte?

Minerva begann eine der Melodien zu summen, die Leonil gesungen hatte. Ein Liebeslied über ein Brautbett aus Rosenblättern schlich sich auf ihre Lippen und dabei sah sie den knapp 3 Jahre älteren Leonil vor sich, sein verwuscheltes, blondes Haar und seine schön geformten Lippen, auf denen jedes Wort süßer klang als Honig. Seine grünen, warmen Augen, die sie immer wieder gefangen nahmen. Seine selbstsichere, aufmerksame Art, mit der er ihr so viele nette Worte zugeflüstert hatte. Und wie sie gemeinsam gescherzt und gelacht hatten, bis sich schließlich ihre Lippen begegneten. Ein unziemlicher, aber doch so wundervoller Moment. Minerva wünschte sich plötzlich nichts sehnlicher, als dass es ihr Brautbett wäre, das er so liebevoll ausgeschmückt besungen hatte. Ihr wurde heiß, die Wangen begannen zu glühen.

Minerva war weit entfernt in ihren Gedanken. Weit, so weit…. Wie weit war es eigentlich nach Trallop? Und was wusste sie über Brachfelde, außer dass die Baronie im Norden der Grafschaft Bärwalde lag und an das Nebelmoor grenzte, wo Olats Wacht Weiden gegen Unheil aller Art beschirmte? Die Brachfeldener schienen kaum Standesdünkel zu haben und zählten sogar Elfen zu ihren Freunden. Halscher Neuadel, ohne Tradition, wie manch einer despektierlich sagte. Ganz anders als das, was Minerva von der langen Geschichte der Finsterborns her kannte. 

 

Lyssandra warf erneut einen sorgenvollen Blick auf ihre Älteste. Das Gesicht Minervas war unnatürlich gerötet. Die Baronin vermeinte Schweißperlen zu entdecken. Und was war das? Brabbelte das Kind vor sich hin?

“Minerva? Liebes? Ist alles in Ordnung? Hast du Fieber?”, äußerte sie ihre Sorge.

Die Angesprochene fuhr hoch. Der Kopf schnellte nach oben, die Kapuze kippte in den Nacken. Ein erschrockener Blick traf Lyssandra. “Ich? Fieber? Nein! Wie kommst du darauf, Mutter?”

“Nun, du hast so rote Wangen und scheinst auch sonst nicht wohlauf zu sein. Oder täusche ich mich?”

Mütterliche Sorge war etwas, worauf die Neunzehnjährige schon von klein auf eher unwirsch reagierte. “Ach was! Wie kommst du darauf? Mir geht es gut!”

Lyssandras prüfender Blick verriet ihr, dass Minerva log. Oder zumindest nicht zugab, dass etwas nicht so war wie sonst. Denn das junge Mädchen wich dem Blick aus, starrte auf die Mähne ihres Reittieres und verschloss die Lippen zu einem schmalen Strich. Sie würde jetzt keine Antwort von ihrer Tochter erhalten, soviel war klar. Es blieb also nur die Hoffnung, irgendwann einen Moment zu erhaschen, in dem Minerva bereit war, ihr Innerstes mit der Mutter zu teilen. Und diese Augenblicke waren äußerst selten.

Lyssandra seufzte. Sie trieb ihren Hengst El Abrego an und setzte sich an die Spitze der kleinen Gruppe. Es galt Menzheim zu erreichen.

 

Einige Tage später auf der Bärenburg

Leonil fuhr aus seinem Bett hoch. Wieder klopfte es an der Tür: „Junger Herr, der Meister ruft Euch, Ihr seid zu spät“, vernahm er die besorgte Stimme eines Dieners.

„Ich komm‘ ja schon“, brummelte Leonil, gähnte und fuhr sich durchs wuschelige Haare, das noch mehr zerzaust war als sonst. Schlecht gelaunt rappelte sich der junge Brachfeldener hoch, spritzte sein Gesicht beherzt mit dem eiskalten Wasser aus der Waschschüssel ab und sprang hastig in sein Gewand.

Warum hatte man ihn nur aus diesem wunderbaren Traum gerissen? Er hatte sie so deutlich vor Augen gesehen, als befände er sich mit ihr wieder an diesem besonderen Ort: Im Rahjatempel zu Ailenstein mit all seinen kunstfertigen Fresken und Malereien, die mehr als Inspiration für ihn gewesen waren. Denn an diesem Ort hatte sein Herz begonnen, für Minerva von Finsterborn zu schlagen. Er war sich sicher, dass Rahja selbst es so gewollt hatte.

Als sie sich das erste Mal kennengelernt hatten, war die junge Knappin dem Brachfeldener gegenüber noch distanziert und ein wenig schroff. Doch die schrecklichen Ereignisse zu Menzheim, als Frevler die Heilige Herde abgeschlachtet hatten, führten dazu, dass Leonil und Minerva zu ihrem eigenen Schutz in Ailenstein zurückgelassen wurden. Minervas Mutter Lyssandra und Leonils Muhme Yolanda von Brachfelde hatten darauf bestanden, denn zu gefährlich erschien ihnen der weitere Weg auf den Spuren der Frevler.

Oh, wie hatte sich die sonst so stille Minerva aufgeregt! Leonil schmunzelte, als er sich an den Zorn der jungen, gertenschlanken Frau erinnerte. Wie ihre dunklen, langen Haare flogen und die blauen Augen blitzten – diese Leidenschaft! Mit tröstenden und verständnisvollen Worten war es Leonil gelungen, die junge Baroness von Urkentrutz wieder zu beruhigen. Dann nahm er sie an die Hand und führte sie durch das Heckenlabyrinth der Junkerin Dylga zu Ailenstein hinein in den schmucken Rahjatempel.

Dort begann er, ihr die Bilder und Symbole zu erläutern, die für die Schönen Künste standen. Fasziniert hing die junge Frau an seinen Lippen. Und so griff der junge Barde schließlich zu seiner Laute, die er stets dabei hatte, und begann, Melodien zu spielen, die ihm seine rahjafromme Muhme beigebracht hatte. Als er zu singen begann, bemerkte er, wie die Akustik des Tempelraums seine Stimme zu besonderer Geltung verhalf, was ihn umso mehr bestärkte, seine Begleitung zu beeindrucken.

Immer öfter begegneten sich die Blicke von Leonil und Minerva, immer länger schauten sie sich tief in die Augen. Etliche Zeit verbrachten die beiden jungen Leute damit, sich angeregt allerlei lustige und bemerkenswerte Begebenheit aus ihrem Leben zu erzählen. Dabei labten sie sich an den roten Äpfeln und dem leckeren Wein der Junkerin. Immer ausgelassener und fröhlicher waren sie gestimmt, denn sie verstanden sich prächtig. Immer näher beieinander saßen sie, bis sie sich schließlich eng umschlungen in einem feurigen Kuss verfingen. Aufgewühlt war Minerva aufgesprungen und aus dem Tempel gelaufen. Doch schon bald saßen wieder beisammen im Garten und unterhielten sich lange, bis die Junkerin sie mahnte, in ihre Betten zu gehen. Zärtlich begegneten sich ihre Hände zum Abschied, allein den Kuss scheuten sie zu wiederholen.

 

„Habe ich nun endlich deine Aufmerksamkeit?“ Leonil fuhr erschrocken aus seinem schwärmerischen Tagtraum hoch. Vor ihm hatte sich Meister Arve aufgebaut und blickte ihn mit strenger Miene an. „Wo bist du in letzter Zeit bloß immer mit deinem Kopf? Wenn das so weitergeht, lasse ich dich beim nächsten Bankett nicht vor der Herzogin spielen!“

Schuldbewusst griff Leonil zur Laute. Er seufzte und dachte an Minerva und an den Rahjatempel zu Ailenstein. Er wusste, dass er sie wiedersehen musste, je eher desto besser. All seine Gefühle für die Geliebte legte er nun in seinen Gesang.

Als er geendet hatte, sah er seinen Lehrmeister hochzufrieden nicken. „So soll das sein, mein Guter!“