Alte Schmach

Burg Meilingen in der Baronie Meilingen, Herzogtum Nordmarken
30. Rahja 1040 BF

Zögernd trat Yalagunde auf den Balkon hinaus, in die schwüle Hitze eines sterbenden Sommertags. Sie wusste nicht, ob es ein guter Zeitpunkt war, um das Gespräch mit ihrem Gatten zu suchen. Aber wenn nicht heute, wann dann? In der kommenden Woche würde sie sich bestimmt nicht auf Diskussionen mit ihm einlassen. Er war an normalen Tagen schon ein schwieriger Gesprächspartner – allzumal, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Welchen Sinn hätte es da gehabt, sich in der Zeit zwischen den Jahren mit ihm zu beharken? Den Tagen des Namenlosen, aus denen nichts Gutes erwuchs. Niemals!

Statt zu grüßen, näherte sie sich Emmeran wortlos – von hinten und damit unbemerkt. Er stand gegen die steinerne Brüstung gelehnt, den Blick auf das fette grüne Land gerichtet, das so viel lieblicher und fruchtbarer war als alles, worüber er in der Heldentrutz gebot. All dies wäre sein Erbe gewesen, wenn er nicht zugunsten seiner jüngsten Schwester Tsaja schon vor Jahr und Tag darauf verzichtet hätte. Und wenn er nicht einem Familientreffen im Peraine 1039 ferngeblieben wäre. Damals wurde das Erbe neu geregelt, weil Tsaja kinderlos geblieben und ihr Gemahl unerwartet verstorben war. Nicht, dass Emmeran keine Einladung erhalten hätte. Aber als er erfuhr, dass auch Wallbrord zugegen sein würde, war einer seiner berüchtigten Tobsuchtsanfälle über ihn gekommen. In namenlosem Zorn hatte Yalagundes Gemahl die Feste Reichsend zusammengebrüllt und den Brief seiner Schwester einen schlechten Witz geheißen. Ob sie wirklich glaube, dass er sich mit „dem dreckigen Verräter“ an einen Tisch setzen werde, um über sein Erbe zu verhandeln, hatte er gefragt.

Yalagunde wusste darauf keine Antwort, weil sie ihre Schwägerin nach 15 Jahren ohne direkten Kontakt kaum noch kannte. Der schwärende Konflikt zwischen den Brüdern hatte die Familie zerrissen und zog sie alle in Mitleidenschaft. Das war aber nicht der einzige Grund für ihr Schweigen gewesen. Sie hatte Emmeran auch deshalb keine Antwort gegeben, weil sein Zorn sie sprachlos machte. Nach all den Jahren brannte er noch genauso heiß wie ganz am Anfang. Das zeigte, wie tief die Wunden waren, die Wallbrord seinerzeit geschlagen hatte. Wie sehr es den Stolz und die Überzeugungen ihres Gatten verletzte, dass ausgerechnet sein kleiner Bruder Weiden nicht bloß im Stich gelassen hatte, sondern sogar noch einen Schritt weiter gegangen war.

Gleich wie: Das Antwortschreiben, das Emmeran seinerzeit verfasste, hatte Tsaja offenbar nie erreicht. Sie hatte also auch nie zur Kenntnis genommen, dass er nicht mit seinem jüngeren Bruder über Ansprüche zu verhandeln gedachte, die den „einen Scheißdreck“ angingen, und dass er stattdessen ein Vier-Augen-Gespräch mit ihr wünschte. So hatte der Familienrat 1039 in Emmerans Abwesenheit getagt, und er war ohne es zu wissen und ohne Kompensation aus der Erblinie gestrichen worden. Wallbrord hingegen hatte für seine freundliche Zurückhaltung ein Gestüt in Meilingen zugesprochen bekommen. Das stieß selbst Yalagunde übel auf. Sie verstand den Starrsinn ihres Mannes zwar nicht – und es tat ihr bisweilen ganz schön weh zu beobachten, wie er sich selbst im Weg stand –, gleichwohl war der Entschluss seiner Geschwister mehr als fragwürdig: Er war nicht rechtens.

Mit nachdenklicher Miene trat Yalagunde an Emmeran heran, lehnte sich ebenfalls an die Brüstung und sah schweigend auf das Land hinaus. Er würde nicht um die Baronie kämpfen, wie wertvoll sie auch sein mochte. Es machte ihm nichts aus, das Lehen an seine jüngste Schwester und deren Erbin abzutreten. Was ihm aber sehr wohl etwas ausmachte, war die Art, auf die die Verwandtschaft sich seiner entledigt hatte. Er würde das nicht auf sich beruhen lassen. So viel stand fest. Er würde nicht auf ein angemessenes Entgelt verzichten. Allein schon um seiner Kinder Willen, die eines Tages ein Auskommen brauchen und es hier sicher leichter finden würden als in der kargen Heldentrutz.

In seiner Mutter, der älteren Tsaja, hatte Emmeran unerwartet eine starke Fürsprecherin gefunden. Die Verhandlungen waren auf einem guten Weg gewesen, doch vor vier Tagen kamen sie schlagartig zum Erliegen – als die alte Dame verstarb. Trotz aller Zipperlein unerwartet und dann auch noch so kurz vor den Namenlosen Tagen, dass keine Zeit für eine anständige Bestattung blieb. Sie hatten Emmerans Mutter gestern unter die Erde gebracht. Im Beisein des Bisschens Trauergemeinde, das sich auf die Schnelle zusammenfand. Das war nicht schön, aber besser, als einen Leichnam über die unheilige Zeit aufzubahren und auf das Beste zu hoffen. Es würde im neuen Jahr noch einen großen Trauergötterdienst geben, wie es sich für eine einstige Baronin der Nordmarken geziemte.

„Sie hat es gewusst, oder?“, fragte Emmeran da plötzlich.

„Wie bitte?“, Yalagunde hob die Brauen und wandte ihm das Gesicht zu.

„Gwynna. Dieses verfluchte ... diese Hexe! Deshalb hat sie mich überhaupt nur hier haben wollen! Weil sie wusste, dass meine Mutter das Zeitliche segnet!“

„Hum“, Yalagunde seufzte. „Du hast den Start der Reise bald einen halben Götterlauf hinausgezögert, um Walpurga klarzumachen, wie wenig du von ihrer Aufforderung hältst. Glaubst du, dass Gwynna das für möglich gehalten und berücksichtigt hat?“

„Natürlich hat sie“, knurrte ihr Gatte. „Entweder sie selbst oder eine ihrer verlotterten Schwestern wird genau gewusst haben, was hier passiert. Und dann hat sie mich auf dem Spielfeld rumgeschoben wie eine Garadanfigur. Wie sie es immer macht, die Mistmade!“

„Ich weiß nicht“, log Yalagunde. Tatsächlich wusste sie genau, denn am gleichen Tag, an dem ihr Gatte Nachricht von Walpurga erhalten hatte, erreichte sie ein Brief Gwynnas. Die Ewige Prinzessin hatte ihr eine eigene Agenda verpasst. Darum gebeten, dass sie gewisse Dinge im Auge behielt. Dass sie ihren Gatten auf gewisse Bahnen lenkte. Yalagunde begriff sofort, wohin das führen sollte – und dass es zum Besten des Herzogtums war. Zum Besten des künftigen Herzogs vor allem. Also zögerte sie jetzt nicht, sondern waltete ihres Amtes.

„Angenommen, es stimmt, was du sagst“, meinte sie, „Wäre das denn wirklich so schlimm? Gwynna hat dafür gesorgt, dass du dich mit deiner Mutter aussprechen konntest, bevor die Götter sie zu sich holten. Ist das nicht etwas Gutes?“

„Ich kenne das Nordmärker Lumpenpack“, Emmeran schnaubte. „Gib ihm noch ein paar Tage und hier wird allenthalben die Mär gehen, dass meine Frau Mutter der Schlag getroffen hat, als sie mich sah. Es wird nicht lange dauern, bis sie mich mit Dreck bewerfen. So läuft das hierzulande. War schon immer so, wird sich nie ändern.“

„Oh, ihr guten Götter!“, Yalagunde rollte mit den Augen. „Schert es dich denn wirklich, was hier geredet wird? In ein paar Tagen sind wir wieder weg und du wirst vermutlich nie mehr zurückkehren. Also richte den Blick nicht auf die, sondern auf dich selbst! Und sag mir: War es nicht gut, noch einmal mit deiner Mutter gesprochen zu haben?“

„Hrumpf“, machte Emmeran und richtete den Blick nach vorn. Die Nase unzufrieden gekraust brummte er nach kurzem Zögern: „Ne, schert mich natürlich nicht. Wer in meinem Rücken redet, spricht zu meinem Arsch. Aber Menschen mit Anstand würden’s mir stattdessen ins Gesicht sagen, sodass ich vernünftig drauf reagieren könnte.“

Yalagunde seufzte leise und schüttelte den Kopf: „Hast du deinen Frieden mit der alten Dame gemacht?“

„Denke schon.“

„Erleichtert dich das nicht? Ist es nicht besser, als wenn sie all das Unausgesprochene mit ins Grab genommen hätte?“, wollte Yalagunde wissen.

„Doch“, meinte Emmeran nach einer langen Pause, trug dabei aber eine Miene zur Schau, als hätte er gerade einen Humpen Essig gestürzt. „Du hast recht. Es war besser so. Macht mein Herz leichter, hat ihres bestimmt auch leichter gemacht. Ich schätze, so konnte sie in Frieden gehen.“

„Ich hoffe es. Wenn meine Kinder sich derart zerstritten hätten ... es hätte mich verrückt gemacht.“

„Sie hätte sich für eine Seite entscheiden können. Dann wäre es einfacher gewesen.“

„Einfacher? Für eine Mutter? Einen Sohn zu verdammen? Weil der andere das will?“

„Wie schwer kann das sein, wenn einer von beiden ein Verräter ist? Ich hätte da nicht lange gezögert.“ Emmeran hob die Schultern: „Besser so, als diesen ewigen Eiertanz aufzuführen!“

„Der dürfte nun ja vorbei sein, oder nicht? Sie ist tot, er ist tot, bleibt nicht mehr viel, worüber du dich künftig noch erregen musst“, meinte Yalagunde.

„Von wegen!“, ihr Gemahl schob das Kinn vor und rümpfte die Nase. „Vorbei ist es, wenn der letzte Löwenhaupt-Berg verreckt. Solange dieser Name im Reich herumgeistert, wird es für meine Familie keine Ruhe geben! Es ist ein stetes ... ein Makel. Eine Schande, von der wir uns nicht reingewaschen haben, als es angezeigt war. Und das werden wir weiter bereuen.“

„Keine Ruhe für deine Familie? Oder keine Ruhe für dich?“, hakte Yalagunde nach.

Das führte immerhin dazu, dass Emmeran den Blick wieder von der Landschaft löste und sie stattdessen ins Auge fasste: „Auf keinen Fall Ruhe für mich! Und nicht für Firunian, der zu der Sache genau wie ich eine ganz klare Meinung hat. Außerdem habe ich zuletzt munkeln hören, dass Arlan ebenfalls alles andere als glücklich mit der Situation ist.“

Yalagunde nickte. Sie wusste aus zuverlässiger Quelle, dass dieses Gerücht der Wahrheit entsprach. Und sie war klug genug, um zu begreifen: Das stellte einen der Gründe für Gwynnas Brief dar. Die Hexe schob ihren Gatten tatsächlich wie eine Garadanfigur über das Feld. Sie wollte ihn, den Turm, vorm König in Stellung bringen. Um Unheil von Letzterem fernzuhalten. Besser der Graf der Heldentrutz machte sich bei dem Versuch unmöglich, seinem Neffen und seiner Nichte in einem vertraulichen Gespräch beizukommen, als dass der Herzog Weidens es späterhin in aller Öffentlichkeit tat.

„Und was wirst du nun tun?“, fragte sie ihren Gatten.

„Wie was tu ich?“, er starrte sie verständnislos an.

„Wenn die Sache dir nach so vielen Jahren immer noch keine Ruhe lässt, musst du handeln, oder nicht?“, erwiderte sie. „Du hältst dich zwar gewohnt bedeckt, aber gerade sagtest du, das Gespräch mit deiner Mutter hat dich erleichtert. Also warum nicht auch diese Angelegenheit aus der Welt schaffen? Bei allem Zorn, der in dir brodelt: Es ist Familie. Und in der Familie sollten solche Dinge bereinigt werden. Zum Besten aller Beteiligten.“

„Was? Bereinigt? Wie stellst du dir das vor?“, er schüttelte unwirsch den Kopf. „Du weißt, dass ich es seinerzeit versucht hab...“

„Du hast Wallbrord gesagt, dass du ihm den ehrlosen Schädel einschlägst, wenn er nicht auf den Namen Löwenhaupt verzichtet. Hältst du so was für einen tauglichen Versuch?“

„Ich hätt es tun sollen“, begehrte Emmeran auf. „Er hatte nichts Besseres verdient!“

„Ich weiß, dass du so denkst“, Yalagunde seufzte und legte ihre Hand beschwichtigend auf seine. „Ich weiß, dass du nach der Sache damals nicht mehr vernünftig mit ihm reden konntest. Aber nun ist er tot. Und wenn du reden willst, kannst du das mit seinen Kindern tun, die dein Gemüt kaum vergleichbar in Wallung bringen dürften.“

„Weiß nicht. Nach allem, was man hört, sind die genauso unbrauchbar wie er“, brummte ihr Gatte unwillig. „Oder sogar noch unbrauchbarer? Warum sonst hätte er einen Bastard zu seiner Erbin erklären und die ehelichen Kinder übergehen sollen? Wenn die noch nicht mal in seinen Augen bestanden haben, weiß ich wirklich nicht, ob ich sie überhaupt sehen will.“

„Um das beurteilen zu können, müsstest du schon einen Blick auf sie werfen.“

„Warum kommst du mir jetzt damit?“, wollte er wissen. „Der dumme Sack ist seit einem Götterlauf tot! Hättest du mich da nicht schon früher belatschern müssen?“

„Ich komme jetzt damit, weil ich es für den rechten Zeitpunkt halte.“ Yalagunde hatte sich in den vergangenen Monden eine kleine Rede zurechtgelegt, die sie nun auf den Dickschädel ihres Mannes abfeuerte: „Ein Götterlauf war eine angemessene Zeit, um die Kinder in Ruhe trauern zu lassen. Außerdem ist deine Mutter nicht mehr, und du musste keine Rücksicht auf sie nehmen. Du musst keine Angst haben, dass ihr das Manöver noch mehr Gram bereitet, als sie ohnehin schon ertragen musste.“ Sie überlegte kurz und tippte dann liebevoll gegen Emmerans Stirn: „Darüber hinaus hoffe ich, dass die jüngste Erfahrung dort oben etwas in Bewegung gesetzt hat und meine Worte auf fruchtbaren Boden fallen. Wir sind nun eh schon unterwegs. Warum nicht noch einen Abstecher nach Garetien machen? Zu meiner Familie? Und Wallbrords Kinder dort hin bestellen? Zu einem Gespräch, in dem eingeschlagene Schädel keine Rolle spielen?!“

Zu ihrer Überraschung widersprach Emmeran nicht, sondern starrte sie schweigend an. Oder vielmehr: durch sie hindurch. Sie hatte das Gefühl, dass er sie gar nicht sah, sondern seinen Blick auf etwas ganz anderes gerichtet hatte. Etwas, das nur in seinem sturen Kopf war – auf dem das Haar langsam lichter wurde und das Blond längst von einem hellen Grau verdrängt worden war.

„Wir werden alt, Emmeran“, murmelte sie und strich ihm über die Schläfe. „Es kann jederzeit vorbei sein, wie wir gerade mal wieder gesehen haben. Wenn du das Problem nicht auf die Schultern von Firunian oder dereinst gar von Arlan laden willst, solltest du dir nicht zu viel Zeit lassen. Wer weiß schon, wie oft du noch Gelegenheit haben wirst?“

„Mir träumte ...“, murmelte er, als sie schon fürchtete, keine Antwort mehr zu erhalten, und richtete seinen Fokus wieder auf ihr Gesicht. „Ich habe davon geträumt, Greiflein. Wusstest du das?“

„Nein, woher denn?“

„Die Sache verfolgt mich bis in den Schlaf. Zum ersten Mal seit vielen Wintern. Vielleicht hast du recht, und ich sollte mich kümmern“, brummte Emmeran. „Es war mein vermaledeiter Bruder. Es sind seine Kinder. Weder mein Sohn noch mein Vetter sollten sich mit dem Pack rumschlagen müssen. Und es wird Zeit. Langsam wird es wirklich Zeit, diesem Schwachsinn ein Ende zu bereiten.“

„Tatsächlich?“, Yalagunde konnte nicht fassen, dass er schon nachgab. Sie hatte mit viel mehr Gegenwehr gerechnet und noch gar nicht alle Pfeile verschossen, die in ihrem Köcher steckten.

„Tatsächlich!“

„Aber keine eingeschlagenen Schädel, hörst du?“, ermahnte sie ihren Gemahl noch einmal. „Und über den Gebrauch von Wörtern wie ‚Pack‘ und ‚Schwachsinn‘ unterhalten wir uns auch noch mal ...“