Getreue Feinde ist eine kleine Briefspielaktion, die sich ausgehend vom folgenden Fantholi-Artikel entwickelt hat. Obgleich schon etliche Jahre alt, wirkt diese Begebenheit bis ins Briefspiel nach ...
(Autoren: Jens-Arne, Daniel, Nics und Katja)
Fantholi Nummer 29:
Praiosmissionierung in Weiden schreitet weiter fort
Salthel. Am 23. Travia kam es in Salthel nicht nur zu einem schrecklichen Mord, sondern es wurde auch etwas Erfreuliches begangen: die Eröffnung des neuen Praiostempels. Anders als zu früheren Zeiten ist er zwar kleiner als andere am Götterplatz stehende Gebäude der Zwölf, übertrifft diese an Prunk und Pracht jedoch um ein Vielfaches – nicht zuletzt durch die beiden drei Schritt großen, auf einem 155 Schritt hohen Sockel stehenden Statuen des Hohen Drachen Branibor und des Marschalls der Greifen Garafan, die beide mit Blattgold überzogen sind.
Der zuvor angereiste Hochgeweihte von Trallop, Dolgon vom Hohenweiden, ließ zu Sonnenaufgang eine Prozession durch die Stadt ziehen, an deren Spitze ein Lakai alle zwölf Schritte einen vor ihm hergetragenen Gong schlug. Ihm nach folgte ein Gurvaniat*, der die für diesen Anlass geschriebenen Choräle vorsang. Begleitet wurde er von einem Chor, bestehend aus zwölf Mädchen und zwölf Jungen – allesamt zwölf Götterläufe alt –, die in weiß-goldene Laienornate gekleidet waren. Eine offene goldene Sänfte, getragen von sechs in weiße Tuniken gehüllte Männer und Frauen, über die ein goldenes Sonnensymbol ragte, folgte. Dolgon von Hohenweiden ließ sich mit ausgebreiteten Armen von den Bürgern huldigen** und in seinem Großmut schenkte er dem einen oder anderen ein Lächeln. Hinter der Sänfte schritt der neue Hochgeweihte von Salthel – noch barfuß und in ein einfaches Gewand gehüllt – einher, demütig das Haupt gesenkt. Ihm folgten in gestrenger Formation noch einige Bannstrahler, die die Prozession abschlossen.
Auf dem Götterplatz angekommen segnete Dolgon von Hohenweiden den Praiostempel in einer auf Bosporano abgehaltenen Zeremonie ein und führte die Gläubigen hinein. In einer würdigen Andacht, in Folge derer der neue Hochgeweihte mit seinen Insignien und passendem Ornat versehen wurde, übergab Dolgon von Hohenweiden das Praioshaus in die Obhut von Hensgar Preisepraios von Salthel, der in der Sichelwacht bis dahin vor allem als Wanderprediger bekannt war. Dieser ließ gleich alle Anwesenden wissen, was von ihm zu erwarten ist, denn er hielt – ebenfalls auf Bosporano – eine flammende Predigt, die den weit verbreiteten Rondraglauben zum Thema hatte, den er für eine irregeleitete Glaubensrichtung hält. (jak)
*Die Gurvaniaten beschäftigen sich mit der Rekonstruktion verloren geglaubter Choräle des heiligen Gurvan, schreiben aber auch neue – im Stil den Originalen sehr ähnlich.
**Aufgrund der kritischen Haltung in Salthel gegenüber der Praioskirche war das einfache Volk nicht so zahlreich erschienen, wie von der Kirche erhofft. Allerdings waren viele Adlige und Schaulustige anwesend
Antrittsbesuch
Salthel, Boron 1029 BF
Gemächlichen Schrittes spazierte Alinja Leuenklinge von Norburg durch die engen Gassen der Grafenstadt, an ihrer Seite ihre mausgesichtige Novizin Lanzelind von Rauheneck. Jene zumindest blickte sich neugierig und mit einem begeisterten Funkeln in den Augen um, derweil ihre Schwertmutter den Trubel nicht recht wahrzunehmen schien – ebenso wenig den Umstand, dass man ihnen respektvoll Platz machte, sobald man des weiß-roten Ornats ansichtig wurde, der heuer nur noch so selten zu bewundern war. Der Praiostempel kam in Sicht und einen Augenblick verhielt die Hochgeweihte, musterte das Gebäude abschätzend und kurz zuckte einer ihrer Mundwinkel. Vielleicht der Ansatz eines Lächelns, überlegte Lanzelind, doch ehe sie sich entschieden hatte, setzte sich Alinja wieder in Gang, zielstrebiger nun und direkt auf den Tempel zu.
„Ich fürchte, es wird kein angenehmer Besuch, Lanzelind.“ Alinja blickte zu ihrer Novizin hinab und lächelte nun erkennbar. Ein seltsamer Glanz lag in ihrem Auge. „Ich möchte, dass du gut zuhörst und alles im Auge behältst. Aber – und das werde ich nur einmal sagen, Skutigera – ich möchte nicht, dass du das Wort ergreifst. Du wirst vielleicht Dinge hören, die die Flammen des Zorns in dir auflodern lassen, oder Dinge, die dich erstaunen. Wie auch immer: Ich möchte, dass du schweigst. Später wirst du sprechen können, wenn wir wieder im Haus der Herrin sind. Bis dahin rede nur, wenn du gefragt wirst.“ Sie sprach fast sanft, aber mit Nachdruck. „Und nun werden wir dem Götterfürsten unsere Reverenz erweisen.“
Damit betrat sie den Tempel, blieb stehen und wartete mit gesenktem Kopf, bis ihr Auge sich an das hier herrschende Licht gewöhnt hatte. Dann erst sah sie sich um und strebte dem Altar zu. Auf halber Strecke beugte sie aus dem Schritt heraus das Knie. Die Hand auf dem Schwertknauf beugte sie erneut das Haupt und versenkte sich in ein langes Gebet. Wesentlich weniger determiniert folgte Lanzelind und nach kurzem Zögern, sank auch sie hinter ihrer Schwertmutter auf nur ein Knie. Als Alinja sich endlich erhob, war Lanzelind schon unruhig hin- und hergerutscht und heilfroh, sich endlich wieder bewegen zu können. Suchend sah sich die Schwertschwester um, sah aber niemanden außer einem Mann der in ein tiefes Gebet versunken war.
Die beiden Rondradienerinnen ließen ihre Blicke über die über mannsgroßen Heiligenfiguren schweifen, die zumindest mit Blattgold überzogen, wenn nicht gar aus reinem Gold gefertigt waren. Ihre Blicke schweiften über die mit Goldblech überzogenen Wände, die Darstellungen diverser heiliger Ereignisse zeigten. Einige noch kahle Stellen ließen vermuten, dass hier später noch überdimensionale Bilder oder Gobelins aufgehängt werden sollten. Beeindruckend, wie auch die beiden Rondrianerinnen zugeben mussten, war die kristallene Kuppel die von bleiernen Querverstrebungen an Ort und Stelle gehalten wurde. Absoluter Blickfang aber war der Sonnenalter, der aus massivem Gold zu sein schien. Unweigerlich stellten die beiden sich die Frage, woher die Praioskirche eine solch immense Menge Gold nahm. Sollte es wahr sein, was einige Gerüchte besagten, nämlich dass die Praioskirche plante, ganz Weiden zu bekehren?
Ein Mann, der ins Gebet versunken war, stand von der harten Bank auf und ging zum Ausgang. Als er an den beiden Rondiranerinnen vorüber kam, nickte er ihnen höflich und ehrerbietig zu. Sodann waren sie allein. Aber war da nicht leiser Gesang der aus der Sakristei drang, immer wieder unterbrochen von einer tiefen Männerstimme?
Alinja atmete betont ein. „Nun, ich fürchte wir müssen seine Hochwürden bei einer Unterweisung stören, wollen wir nicht unverrichteter Dinge wieder abziehen. Und nein, das wollen wir nicht.“ Sie schmunzelte kurz. „Wobei, sag’ an Lanzelind, hast du dem Götterfürsten schon einmal ein Opfer dargebracht?“
Das Mädchen schüttelte stumm den Kopf. All die Pracht, der überwältigende Reichtum hatten ihr die Sprache verschlagen, Alinja erkannte es in ihren Augen und ihr Lächeln vertiefte sich. „Gut, dann werden wir die Zeit nutzen. Ich muss Hochwürden ja nicht den ganzen Beutel geben.“ Elegant warf sie ihren weiten Kapuzenmantel zurück und öffnete ihre, mit lilienförmigen Nieten verzierte Gürteltasche um darin herumzukramen. „Hier, Tochter, ein Bernstein, der heilige Stein des Herrn Praios. Eigentlich werden sie in besonderen Liturgien verbrannt, aber ich finde, wir können heute eine Ausnahme machen. Wiewohl es schon etwas Besonderes ist, wenn du dem Herrn dein erstes Opfer darbringst, eh?! Komm, ich leite dich an.“
Sie strebten einem ebenfalls güldenen Kohlebecken zu und Alinja überreichte Lanzelind einen recht ansehnlichen Bernstein. „Halte ihn an die Kohlen, bis er glimmt und Rauch aufsteigt, dann legst du ihn in die Schale inmitten der Kohlen. Ich werde ein Gebet rezitieren und du wirst es wiederholen.“
Lanzelind tat, wie geheißen, blickte fasziniert auf das Schauspiel, das ein vermeintlich brennender Stein bot und entließ den Bernstein erst, als Alinja sich leise räusperte. Die Hochgeweihte drehte sich dem Sonnenalter zu und begann mit ihrer wohlklingenden, predigt-gewohnten Stimme zu beten:
„Praios der Herr, er sei gelobt,
Fürst der Götter, Gott der Fürsten.
Sein ist die Gerechtigkeit.
Er spendet die heilige Ordnung.
Sein Bannstrahl verbrennt das Unrecht.
Er erhellt die Welt mit seinem Licht und macht die Finsternis offenbar.
Er ist es, der uns führt und leitet,
von seiner Schwester Tsa erstem Hauch,
durch den Kampf in der göttlichen Leuin Namen,
in die ewigen Arme seines Bruders Boron.
Möge sein Licht uns erleuchten und uns Gerechtigkeit widerfahren.
Aiwah!“
Getreulich wiederholte Lanzelind jeden Satz, wenngleich deutlich leiser. Der Rauch aus dem Kohlebecken umgarnte ihre Nase und sie sog den fremden Duft genüsslich ein. Alinja musterte sie interessiert und lächelte dann zufrieden. „Merk es dir, es ist ein starkes Gebet. Und nun müssen wir Hochwürden wohl doch stören.“
Lanzelind zweifelte daran, dass sie nicht längst bemerkt worden waren. Die Stimme ihrer Schwertmutter hatte den Tempel mühelos ausgefüllt und vermutlich war genau das auch ihre Absicht gewesen. Trotzdem strebten sie der Tür zu, hinter der sie vorhin den Gesang vernommen hatten. Alinja zog ihren Schwertgurt zurecht und den mit weißem Pelz verbrämten Wappenrock aus feiner Wolle, den sie unter dem Mantel trug, glatt. Sie waren beide in Gewänder gekleidet, die dem ersten Anschein nach schlicht und dennoch von bester Güte waren. Die Kirche Rondras hatte es nicht nötig zu protzen, hatte Alinja gesagt. Sie ist, was sie ist und so treten wir auch auf. Nun klopfte sie einmal an und trat dann einen Schritt zurück. Irgendwie wirkte sie dabei, als erwarte sie einen Kampf.
Die Tür wurde geradezu aufgerissen. Alinja und Lanzelind hatten Schwierigkeiten das Gleichgewicht zu wahren, als plötzlich eine Schar Kinder auf sie einstürmte und sich zwischen ihnen hindurch drängelte. Alinja fuhr der Schreck fürwahr in die Glieder, mit drei schnellen Schritten bewegte sie sich aus dem Reigen der Kinder heraus und ehe sie es wehren konnte, hatte ihre Hand erneut nach Leuenklinges Knauf gegriffen. Die Kinder nahmen es zwar nicht wahr, aber von einem Moment zum anderen war Alinja zu einer sprungbereiten Kämpferin geworden, die sich – das war offenkundig – in der Enge wähnte.
Den Kindern folgte ein etwa 30-jähriger Mann, in praioranischer Ordenstracht. Er lächelte die unerwarteten Gäste entschuldigend an, ging dann aber an ihnen vorbei, denn am Tempelausgang wartete voller Ungeduld die Kinderhorde. Der Mann legte seine Hand auf das Haupt jedes Kindes und sprach einen Segen, woraufhin die Kleinen johlend nach draußen stürmten. Lächelnd sah er ihnen noch einen Augenblick nach, ehe er sich umwandte und sich Alinja und Lanzelind näherte.
„Verzeiht, dass ich mich nicht sofort euch zuwandte, doch Kinder stehen an Wichtigkeit wesentlich höher als jeder Erwachsene. Sind sie es doch, die fürderhin den rechten Glauben in die Welt tragen. Doch nun seid willkommen im Haus des allwissenden Götterfürsten. Womit kann ich meinen Schwestern der Rondrakirche behilflich sein?“ Seine Stimme klang kein bisschen arrogant, wie die beiden Frauen vielleicht erwartet hatten, sondern war voller Güte und Freundlichkeit.
Die Kinder brausten vorüber und die Augenblicke, da sie den Segen empfingen, nutzte Alinja um sich zu sammeln. Ein wenig fahrig wischte sie sich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht und schöpfte tief Atem. Als der Geweihte – Alinja war sich dessen nicht sicher – sie ansprach, erwiderte sie sein Lächeln. „Praios zum Gruße und Dank für Euer warmes Willkommen“, sie verbeugte sich leicht und sprach mit angenehmer, ja, wohlklingender Stimme, aus der noch immer ein Anklang ihres bornischen Zungenschlags herausklang. „Ich bin Alinja Leuenklinge von Norburg, Schwertschwester Lohenharschs zu Baliho und Legatin ihrer Eminenz Aldare VIII. Donnerhall von Donnerbach. Die ist meine Schwerttochter Lanzelind von Rauheneck. Ich möchte um ein Gespräch mit dem Vorsteher dieser Halle ersuchen.“
Auf das freundliche Gesicht des Praioraners legte sich ein Schatten des Bedauerns. „Leider müsst Ihr Euch etwas gedulden. Der Herr Tempelvorsteher ist derzeit auf Burg Aarkopf, wo er sich mit dem neuen Grafen berät. Wir erwarten ihn aber jeden Moment zurück. Ich heiße Alburn von Hasselbrinck und ich würde mich freuen, wenn ich Euch vielleicht helfen könnte? In welcher Angelegenheit wünscht Ihr ihn denn zu sprechen?“
„Nein, ich fürchte, ich muss seine Hochwürden persönlich sprechen, dennoch danke für Euer Angebot.“ Alinja seufzte leise, dann musterte sie Alburt etwas genauer. „Euer Habit ist mir derzeit nicht geläufig. Seid Ihr Geweihter?“
Alinjas Gegenüber nickte in einer Art und Weise, als ob er eine solche Antwort erwartet hätte. Auf ihre Frage flog ein fast schon entschuldigendes Lächeln über sein Gesicht.
„Oh, aber ja. Ich gehöre dem Orden der Gurvaniaten an. Hier in Weiden ist unsere Gemeinschaft bislang klein. Wir beschäftigen uns mit der Rekonstruktion verschollener oder vielmehr verschollen geglaubter Choräle des heiligen Gurvan. Und ganz in seiner Tradition werden von uns auch neue Choräle geschrieben. Kurz bevor ihr kamt, studierte ich mit den Knaben und Mädchen den Choral ‚Oh, Praios Lobgesang über allen Dächern‘ ein. Das ist ein Choral, der von mir geschrieben wurde.“ Bei dem letzten Satz schwang ein gewisser Stolz in seiner Stimme mit, und doch kam nicht der Eindruck von Überheblichkeit auf. „Vielleicht möchten die hochachtbaren Damen auf den bequemen Stühlen Platz nehmen, während sie warten?“
Alburn von Hasselbrinck wies auf eine, von den harten Bänken durch einen Zaun abgetrennte, Sitzgruppe, die ganz den Anschein erweckte, dass dort die Adligen und hochgestellten Persönlichkeiten während der Gottesdienste Platz nehmen durften. Die Stühle waren gut gepolstert und sahen reichlich bequem aus.
„Ah“, war zunächst Alinjas einzige Reaktion, derweil sie Alburn fest in die Augen sah. „Gurvaniaten, ja, dieser Orden ist mir bekannt. Nur gesehen habe ich noch keinen der Euren, Eurer Gnaden. Ein löbliches Tun, dem Ihr Euch verschrieben habt und wieder einmal bringt das Weidenland einen Orden von Bewahrenden und Suchenden hervor. Sehr schön, fürwahr.“ Die Hochgeweihte schmunzelte leicht.
Sie folgte Alburns Handbewegung und nickte leicht. „Gern, gesellt Ihr Euch zu uns? Natürlich nur, wenn Ihr die Zeit erübrigen könnt. Ich würde es nämlich sehr zu schätzen wissen, wenn Ihr meiner Schwerttochter etwas über die Gurvanischen Choräle erzählen würdet. Sie ist erst seit Kurzem in meiner Obhut und ich lege Wert auf eine breit gefächerte Bildung. Wer wäre berufener als Ihr, Lanzelind diese näher zu bringen?!“
Der Gurvaniat nickte freundlich und setzte sich zu den Damen. In der nächsten halben Stunde erklärte er der Novizin die Aufgaben der Gurvaniaten. Er war noch nicht zum Schluss gekommen, als sich im Portal eine fröhlich pfeifende Gestalt zeigte. „Euer Gesprächspartner“, meinte Alburn und verabschiedete sich.
Unwillkommen
Selber Ort, selber Tag
Der Tempelvorsteher schlenderte gut gelaunt in den Tempel, verharrte jedoch, als er die beiden Rondrianerinnen erblickte. Sein Pfeifen verstummte, seine ganze Haltung spannte sich an. Es schien so, als wollte er an ihnen vorbeigehen und schnurstracks in der Sakristei verschwinden.
Alinja erhob sich ohne Hast, schlug den weiten Mantel zurück und trat dem Custos Lumini entgegen. „Praios zum Gruße, Euer Hochwürden.“ Elegant verbeugte sie sich, ohne ihr Auge aus denen Hensgars zu nehmen. „Erlaubt, dass ich mich vorstelle: Alinja Leuenklinge von Norburg, Schwertschwester des Balihoer Tempels der Alveransleuin und Legatin ihrer Eminenz Aldare VIII Donnerhall von Donnerbach. Ich möchte Euch um eine Unterredung bitten.“
Nicht ganz so würdevoll beeilte sich Lanzelind zu ihrer Schwertmutter aufzuschließen und dennoch einen respektvollen Abstand zu wahren. Sie ahmte Alinjas Begrüßungsgeste – die nur locker geschlossene Schwertfaust über dem Herzen – eilfertig nach und verbeugte sich ehrerbietig.
In Hensgars linker Gesichtshälfte zuckte unkontrolliert ein Muskel, während er die beiden Frauen abschätzig musterte. „Es erübrigt sich wohl, mich vorzustellen, da Ihr mich schon zu kennen scheint!“ Die Stimme erklang befehlsgewohnt. „Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen, Legatin. Ebenfalls erfüllt es mein Herz mit Freude, dass Eure Schritte Euch in das Haus des Götterfürsten lenkte, damit Ihr IHM Eure Aufwartung machen könnt, wie jedermann es IHM schuldet. Fühlt Euch durch mich daran nicht gehindert. Sodann werde ich mir anhören was Ihr zu sagen wünscht.“
Bestätigend beugte Alinja das Haupt, lächelte aber fein. „Und mich freut es, dass Euch unsre Aufwartung mit Freude erfüllt. Wir“, sie deutete auf Lanzelind, „ah, ich vergaß Euch meine Schwerttochter vorzustellen: Lanzelind von Rauheneck, Euer Hochwürden. Nun, wir warten bereits eine geraume Zeit auf Euch und haben dem Götterfürsten natürlich schon längst unsere Reverenz erwiesen, so wie es sich gehört. Aus diesem Grund würde ich es sehr zu schätzen wissen, wenn wir unser Gespräch unmittelbar und vielleicht in der Sakristei beginnen könnten?!“
„Ein Gespräch in der Sakristei ist nicht angebracht. In diesem Hause kann nichts vor IHM verheimlicht werden und nichts wird vor IHM verheimlicht! Wenn Ihr mich zu sprechen wünscht, dann direkt vor dem Sonnenaltar!“ Hensgar deutete auf die harten Bänke die vor dem Altar standen. „Doch einen Augenblick werdet Ihr mich noch entschuldigen müssen.“ Nach diesen Worten ließ er die beiden Frauen stehen und verschwand in der Sakristei.
Alinja zischte etwas in der gutturalen Sprache, die sie Urtulamidya nannte und die Lanzelind alsbald auch erlernen sollte. Sacht fuhr sie über ihren Nacken und kurz sah Lanzelind die kunstvolle Schlangentätowierung unter den dunklen Locken aufblitzen.
„Mich deucht, der Herre würde uns hören, flüsterten wir in der tiefsten Höhle des Ehernen Schwertes und was meint er mit verheimlichen, eh?“, brummte die Hochgeweihte. Doch dann fiel ihr Blick auf Lanzelind und ihre Lippen kräuselten sich in spöttischem Lächeln. „Hör nicht so genau hin, Tochter, ich wappne mich nur.“ Doch ehe Lanzelind, der durchaus etwas auf der Zunge lag, darauf erwidern konnte, kehrte der Praetor zurück und schien bereit sich anzuhören, was die Rondrianerinnen von ihm wollten.
Alinja stand noch immer und ihre Novizin hütete sich, es anders zu halten. Stolz und aufrecht stand die Schwertschwester da und fing den Blick Hensgars, sobald er nahe genug heran war.
„Ihr seid im Namen Eures Herrn Gastgeber und so bestimmt Ihr den Ort, Hochwürden. Also vor dem Altar. Für jeden, der uns zuhören mag, wohl vernehmlich. Es ist mir recht, denn Heimlichkeit ist der Herrin zuwider und mir als ihrer Dienerin ebenso.“ Eine Hand auf den Rücken gelegt, die andere locker auf dem Schwertknauf, fuhr Alinja fort und befleißigte sich eines fast sanften Tonfalls. „In medias res, denn keiner von uns hat Zeit zu verschenken. Es geht das Wort, dass Ihr von Eurer Kanzel den Glauben an die Herrin Rondra als einen irrigen bezeichnet habt, ja sogar so weit gegangen seid, die Kirche der Herrin der Häresie zu bezichtigen. Dessenthalben bin ich hier und ich frage Euch also gerade heraus, wie Ihr es sicher schätzt: Habt Ihr das gepredigt?“
„Ich dachte es mir, dass Ihr nicht aus reiner Höflichkeit hier seid. Tatsächlich hat es länger gedauert als vermutet, bis die Kirche der Leuin ihre Macht zu demonstrieren versucht.“ Hensgar strich sich über den spitzen Bart und schien zu überlegen. Dabei richtete er seine Augen zur Kristallkuppel, ließ sie über die Skulpturen der Heiligen und den Sonnenaltar schweifen und blickte sodann mit festem Blick direkt ins Auge Alinjas.
„Ich sah Euch nicht bei der Predigt, auf die Ihr vermutlich anspielt. Ihr gebt offenbar viel auf reines Hörensagen, da Ihr Euch gleich selbst hierher begebt, anstatt einen Boten zu schicken, für diese simple Frage, bei der Ihr Direktheit mit Unhöflichkeit zu verwechseln scheint, Legatin. Doch will ich nicht vorschnell urteilen und Euch zugutehalten, dass Ihr erschöpft sein müsst aufgrund der langen Reise und daher wohl versehentlich Eure Wortwahl nicht die trefflichste war. Ich halte es für angeraten, dass Ihr Euch etwas Ruhe gönnt, ehe Ihr etwas sagt, das Euch leidtun könnte. Um nun aber nicht meinerseits mit Unhöflichkeit zu kontern, sei Eure Frage dennoch beantwortet. So höret genau hin: Nein. Euer geheimer Zuträger hat in der Predigt wohl eher geschlafen, als seine Ohren aufgesperrt. Alburn, zeige ihnen Häuser in denen sie nächtigen können. Solltet Ihr morgen noch Gesprächsbedarf haben, gewähre ich Euch gern eine Audienz. Praios mit Euch!“
„So schnell nicht, Hochwürden“, erwiderte Alinja ohne Zögern. „Diese Frage ist nicht so diffizil, dass wir sie vertagen müssten, ich bin auch nicht ermüdet von meiner Reise, die mich bereits gestern hierher führte, ebenso wenig bedarf ich eines Gasthauses, denn auch dafür habe ich bereits Sorge getragen.“ Äußerlich vollkommen ungerührt hatte sie die Litanei des Praioten über sich ergehen lassen, war aber weit davon entfernt, sich einfach so wegschicken zu lassen. „Und nun in aller Ruhe und Systematik, werter Bruder“, tatsächlich lächelte sie freundlich und sprach betont ruhig. „Zunächst und zufürderst bin ich nicht hier, um Macht zu demonstrieren. Ihr kennt die Kirche der Leuin schlecht, wenn Ihr solches annehmt. Ja, ich war nicht hier, als Ihr diese Predigt hieltet, ich war nicht einmal in Weiden, sondern weilte in Perricum. Und daran, dass ich mich selbst hierher bemühe, könnt Ihr leicht ersehen, wie wenig ich auf Hörensagen gebe, denn wäre es anders, würde ich Euch nicht um eine Stellungnahme ersuchen, sondern selbstgerecht annehmen, ich wüsste auch ohne Rücksprache genau, was und wie es sich zugetragen hat.“
Ihr Lächeln vertiefte sich und trat in krassen Widerstreit zu dem kalten Ausdruck in ihrem Auge. „Ich bin Euch auch nicht unhöflich begegnet, im Gegensatz hierzu beliebt Ihr allerdings beharrlich die Etikette zu brechen, Hochwürden. Doch einerlei, solche kleinen Nickeligkeiten fechten mich nicht an. Ich bin hier, um in Erfahrung zu bringen, was sich zugetragen hat und geheime Zuträger habe ich nicht, achtet also auf Eure Worte, sie kratzen an meiner Ehre!“ Noch immer lächelte Alinja. Ruhig, beinahe gleichmütig fuhr sie fort. „Der Kirche Rondras ist daran gelegen, einen gedeihlichen Dialog mit ihren Schwesterkirchen zu führen. Mit etwas gutem Willen Eurerseits könnte mein Erscheinen hier Euch das beweisen. Es freut und erleichtert mich, wenn die Gerüchte falsch sind, doch würde ich gern genauer erfahren, wie es zu einem solchen Missverständnis kommen konnte, es gibt also immer noch Gesprächsbedarf, Hochwürden, und ich würde ihn gern jetzt und hier stillen!“
„Ihr wart nicht hier, gebt nichts auf Hörensagen, habt keinen geheimen Zuträger und wollt keine Macht demonstrieren – und doch seid Ihr nun hier und konfrontiert mich mit Vorwürfen zu Aussagen, die ich nicht getätigt habe. Ist das der Stil der Rondrakirche? Wilde Behauptungen aufzustellen und andere damit belästigen? Oder ist das nur Euer Stil? Ich will höflich zu Euch sein. Obwohl meiner viel wichtigere Aufgaben harren, bin ich Euch gern dabei behilflich, Euren Gesprächsbedarf zu befriedigen. Ihr fragt, wie es zu solch einem Missverständnis kommen konnte? Ich frage Euch, wie ihr überhaupt darauf kommt, mir zu unterstellen, dass ich die Rondrakirche als Häresie bezeichnet haben soll? Beantwortet diese Frage und möglicherweise erkennt Ihr dann auch die Antwort auf die Eure.“
Alinja legte den Kopf schief und betrachtete Hensgar einige Augenblicke, dann nickte sie langsam. „Nein“, summte sie, „ich muss Euch enttäuschen, keine meiner Fragen wird durch ein solches Vorgehen beantwortet, aber ich werde nochmals und dann ausführlich darüber meditieren, sobald ich Zeit finde.“ Sie trat einen halben Schritt zurück. "Doch es liegt mir fern, Eure kostbare Zeit zu stehlen, Hochwürden, oder Euch gar … wie drücktet Ihr Euch doch gleich aus? Ah ja: Euch zu belästigen. Mich deucht, ich habe erfahren, was ich wollte. Eure Fragen möchte ich allerdings trotzdem nicht unbeantwortet lassen, denn jede verdient eine Antwort. Es ist mein Stil, Fragen zu stellen, wenn ich etwas nicht verstehe. Ich spreche hier und in Weiden für die Senne Nord und ja, Ihr habt Recht, für die ganze Kirche Rondras, also könnte man annehmen, dass es in diesem Fall ebenso der Stil der Kirche ist.“ Langsam hoben sich ihre Augenbrauen, so hoch, dass selbst die sonst von der hellgrauen Augenklappe bedeckte, nun sichtbar wurde.
„Indessen befremdet es mich doch gehörig, dass meine Fragen Euch als Vorwürfe erscheinen, denn als solche möchte ich sie nicht verstanden wissen und ich denke auch nicht, dass ich sie so formuliert habe. Dennoch bitte ich um Verzeihung, sollte ich Euch zu sehr bedrängt haben, direkte Konfrontation ist nicht jedermanns Sache und ich wollte Euch nicht in Zugzwang bringen. Wie auch immer, Ihr habt meine Frage beantwortet und mir ausdrücklich und bezeugt von Eurem Geweihten und meiner Novizin erklärt, dass Ihr die Kirche Rondras nicht der Häresie zeiht, noch sie für einen Irrglauben haltet. Wie ich bereits sagte, freut mich das und ich bin sicher, auch ihre Eminenz und ihre Erhabenheit werden meinen Bericht mit großer Erleichterung lesen. Nun denn, es wäre jetzt wohl angebracht, Euch von unsrer ungeliebten Anwesenheit zu befreien, Hochwürden. Doch zuvor möchte ich Euch noch, als Zeichen meiner Wertschätzung und zugleich als Geschenk zu Eurer Erhebung in den Stand eines Tempelvorstehers dies hier überreichen.“
Damit bedeutete sie Lanzelind, den hellen Lederbeutel, mit gelb-roten Stickereien, in die immer wieder kostbare Goldfäden eingezogen waren und die praiotische Symbole zeigten, an den Hochgeweihten zu übergeben. Der Beutel war von beträchtlicher Größe. „Bernstein, aus meiner Heimat.“ Erklärte Alinja sachlich. „Ich hoffe, Ihr erweist mir die Ehre, diese Gabe in genau dem Geist anzunehmen, in dem ich sie Euch darbringe.“
Hensgar war verblüfft. Damit hatte er nicht gerechnet. Weder mit einem Geschenk, noch mit der schnellen Aufgabe der beiden Frauen. Kurz schoss es ihm durch den Kopf, dass dies auch ein Trick sein könnte und ganz konnte und wollte er den Gedanken nicht verdrängen – dazu war er einfach zu misstrauisch. Dennoch dauerte es einige Augenblicke, bis er fähig war, sich wieder zu rühren. Fast zögerlich streckte er die Hand aus, um den Beutel entgegenzunehmen.
„Seid dessen gewiss“, war alles was er hervorbrachte, dazu in einer ausdruckslosen Stimme die alle ihre bisherige Schärfe verloren hatte. Er räusperte sich, wodurch er in sein altes Rollenschema zurückzufallen schien. „Nein, ich unterstelle der Kirche der Leuin keine Häresie, noch ist sie ein Irrglaube. Wer das behauptet, sollte sich hüten, denn er rührt an der zwölfgöttlichen Ordnung. Aber hier in Weiden ist sie auf dem besten Weg sich der Häresie zu nähern und alleine diesen Weg empfinde ich als einen irregeleiteten!“
„Ich habe Eure Befürchtungen sehr wohl vernommen und weiß Eure Worte zu deuten, Hochwürden. Seid versichert, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, die Ordnung in diesem Land aufrechtzuerhalten. In diesem Sinne: Praios mit Euch!“ Alinja verbeugte sich knapp und ohne den Kopf vor Hensgar zu beugen, dann trat sie einen Schritt rückwärts und neigte das Haupt deutlich in Richtung des Sonnenaltars. Zackig wandte sie sich auf den Hacken um und verließ den Tempel energischen Schrittes. Lanzelind beeilte sich, ihr auf den Fersen zu bleiben.
Hensgar sah den beiden noch kurz mit abschätzigem Blick hinterher. „Alburn“, rief er dann.
„Euer Hochwürden?“
„Verwahrt den Beutel. Der Inhalt wird so genutzt ... ach, Ihr habt es ja gehört.“
„Sehr wohl.“
„Rorrick!“ Aus der Sakristei trat ein Bannstrahler. Wortlos gesellte er sich zu dem Custos Lumini. „Ihr habt alles gehört?“ Der Bannstrahler neigte stumm sein Haupt. „Findet heraus, wer der geheime Zuträger der beiden Weiber war. Ich will wissen wer solch falsch Zeugnis tratscht. Der Keller ist jedoch nur die allerletzte Möglichkeit. Verstanden?!“
„Natürlich, Euer Hochwürden.“
„Unfassbar, dass sie mir verheimlichen wollten, woher sie ihr falsches Wissen haben.“
„Euer Hochwürden?“
„Was ist noch, Alburn?“
„Es besteht die Möglichkeit ... es könnte sein...“
„Nun redet doch, Mann!“
„Vor einigen Wochen wollte ich Euch einen Artikel aus dieser Zeitung aus Trallop zeigen. Ihr wiest darauf hin, dass es irrelevant sei ...“
„Natürlich! Man kann seine Zeit besser nutzen, als die wirren Fantastereien idiotischer Schreiberlinge zu lesen, die ihrer kranken Ideen in einem schlecht gemachten Pamphlet verbreiten wollen.“
„Ihr habt ganz recht. Und dennoch war da eine Formulierung ...“
„Du hast den Schund gelesen? Nun, das ist der Grund, weshalb Du nur einfacher Geweihter bist, während ich zu Höherem bestimmt bin!“
„Gewiss.“
„Nun rede schon! Was stand da drin?“
„Dort stand, dass Ihr bezogen auf den Rondraglauben von einem irregeleiteten Weg spracht.“
Hensgar blickte mit fast ausdruckslosem Gesicht auf sein Gegenüber. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit war er verblüfft. Tonlos drehte er sich um und ging mit ausgreifenden Schritten in die Sakristei.
Gereizt
Selber Tag, selber Ort
Unterdessen folgte Lanzelind ihrer Schwertmutter schweigend aus dem Tempelgebäude. Anders als Alinja besaß sie nicht die Willenskraft, sich einen letzten sichernden Blick über die Schulter zu verkneifen, während sie sich vom Altar entfernte – und von dem hochgradig arroganten Schnösel, der noch immer davor stand. Zu unglaublich erschien ihr das, was sie sich im letzten halben Wassermaß hatte anhören müssen ... und was sie zu sehen bekommen hatte. Sichtbar erleichtert trat die mausgesichtige Novizin schließlich über die Schwelle des funkelniegelnagelneuen Tempels, schloss ihre Augen und holte ein paar Mal tief Luft. Den kurzen Moment der Einkehr beendete sie mit einem energischen Kopfschütteln und mühte sich dann, wieder zur Legatin aufzuschließen. Dabei schwankte ihr Gesichtsausdruck irgendwo zwischen Zorn, Fassungslosigkeit und Verachtung.
Bedachte man, was sich gerade in den ach so ehrwürdigen Hallen des Saltheler Praiostempels abgespielt hatte, dann wirkte Hochwürden erstaunlich gelassen. Viel zu gelassen für Lanzelinds Geschmack. Wäre es nach ihr gegangen, dann hätten sie diesen eitlen Pfaffen ... hätte ihn ... ja ... ! Nun ja ... . Sie räusperte sich unwillig und schüttelte abermals den Kopf. Obwohl die junge Rauheneck selbst nicht gerade der besten Kinderstube entstammte, war ihr sofort klar gewesen, dass das Betragen dieses speziellen Praioten weit über das zu erwartende Maß an Unfreundlichkeit und Gedankenlosigkeit hinausging. Er war schlichtweg unverschämt gewesen.
Und dennoch ... Lanzelind war nun wieder an der Seite ihrer Schwertmutter, sie warf einen nachdenklichen Blick in deren Gesicht ... und dennoch schien Alinja Leuenklinge von Norburg vollkommen ungerührt. Aus irgendeinem Grund hatte sie den aufgeblasenen Kerl nicht einmal auf das Maß zurechtgestutzt, das ihm eigentlich gebührt hätte. Das musste sie hoffentlich nicht verstehen. Damit senkte die Novizin ihren Blick wieder und stapfte weiter schweigend neben der Prätorin des Balihoer Rondratempels einher.
Alinja warf Lanzelind einen Blick zu und lächelte. „Ich kann mir denken, was Du fühlst, Sktuigera, und ich kann es nachempfinden. Es mag schwer sein, das zu verstehen, aber nicht wir haben in diesem Tempel eine Niederlage erlitten. Wir wissen jetzt, womit wir es zu tun haben und können entsprechend vorgehen. Glaub mir, mein Bruder im Amte wird die Quittung bekommen und sie wird ihm nicht schmecken. Zuweilen ist es klüger, nachgiebig zu erscheinen, denn worauf es ankommt, ist in diesem Fall das Ergebnis.“ Voller Zuneigung legte sie kurz eine Hand auf Lanzelinds Schulter. „Und ich finde, wir haben uns jetzt ein ordentliches Abendessen und einen Becher Honigwein verdient!“
„Hum, natürlich. Wenn Ihr das sagt, wird es schon stimmen, Hochwürden.“ Lanzelind starrte nach wie vor verbissen geradeaus. Dennoch war es Alinja ein Leichtes, die steile Falte auszumachen, die sich auf der Stirn des Mädchens gebildet hatte. Die halb trotzige, halb resignierte Energie zu deuten, mit der es einen Fuß vor den anderen setzte sowie das kaum merkliche Zucken seiner Mundwinkel. Nein, ihre Novizin war wahrlich keine Meisterin der Verstellung – und schließlich scheiterte sie gar in dem Bemühen, ihren Ärger unkommentiert verrauchen zu lassen. Stattdessen hielt sie mitten in der Bewegung inne, wandte ihr Gesicht der Legatin zu und maß diese mit einem beinahe schon anklagenden Blick.
„Andererseits hat meine Großmutter stets gesagt: ‚Der Klügere gibt solange nach, bis er der Dümmere ist.‘ Das meint halt, dass der Klügere gerade weil er nachgegeben hat, irgendwann ganz plötzlich zum ...“, in eben jenem Moment schien der jungen Rauheneck mit einem Male bewusst zu werden, was sie da gerade sagte und sie riss erschrocken die Augen auf, „Entschuldigt, Hochwürden. Ich bitte vielmals um Verzeihung. Ich wollte damit nicht sagen, dass Ihr dumm seid. Was ich sagen wollte war bloß, dass ... ich wollte sagen, dass... . Na ... dass ich hier die Dumme bin!“
Verlegen senkte sie den Kopf und Alinja glaubte eigentlich, dass nichts mehr von ihr kommen würde, dass sie demütig ihrer Antwort harrte. Doch gerade als die Legatin tatsächlich zu einer Erwiderung ansetzen wollte, fuhr Lanzelind erneut auf. Sie suchte den Blick ihres Gegenübers und setzte ihre Rede mit bebender Stimme fort. „Aber was ist, wenn es hier außer Euch nur dumme Leute gibt? Was, wenn niemand versteht, dass es keine Niederlage war? Was, wenn alle Euer Verhalten falsch einordnen? Und was, wenn die sich gar nicht für das Ergebnis interessieren, weil sie nicht weiter als bis zu ihrer Nasenspitze gucken können? Dann stehen wir morgen ziemlich blöd da. Denn dieser ... dieser Mann gehört ganz bestimmt nicht zu jenen, die verstehen und er wird seinen Sieg gewisslich feiern wollen.“
Trotzig schob die kleine Novizin ihr Kinn vor. „Naja, was mich betrifft, so kann ich vor allem eins nicht verstehen: Warum tun die so was? Warum tun sie es immer wieder? Warum behandeln sie ihre Mitmenschen so respektlos, wo sie doch andererseits mit viel Eifer darauf pochen, dass ein jeder im Umgang mit ihnen stets respektvoll sein sollte? Warum trampeln die auf den Gefühlen und dem Stolz ihrer Mitmenschen herum? Ist es die Gewissheit allein dem Höchsten der Zwölf zu dienen, die sie so überheblich macht? Und ist das schließlich auch der Grund, warum man ihnen so was immer wieder nachsieht?“
Lanzelind fuhr sich mit einer zornigen Geste über die Wange und wandte sich dann rasch von ihrer Schwertmutter ab. „Aber all diese Fragen sind am Ende gar nicht so wichtig...“, mit flinken Fingern zupfte sie ihren Wappenrock zurecht und straffte ihre Haltung, „Ich will im Grunde nur eines wissen, Hochwürden. Bitte sagt mir, dass ... wenn sie nicht gerade ein wichtigeres Ziel verfolgen würde, dann müsste eine Geweihte der Herrin Rondra sich solcherlei doch nicht gefallen lassen, oder? Auch von einem Diener des Götterfürsten nicht?!“
Alinja starrte Lanzelind verblüfft an, blinzelte einmal, als Lanzelind schon längst wieder schwieg, und atmete langsam ein. Diese hier war anders, schoss es ihr durch den Kopf, nicht so still und duldsam wie Fiana, die ertragen hatte, stumm und stoisch und bei der es sie viel Mühe gekostet hatte, in ihr nur einen Bruchteil der Lebendigkeit und des Stolzes zu wecken, der ihr soeben entgegen geschwappt war. Diese hier war mehr wie – die Hochgeweihte runzelte ungläubig die Stirn, als sie sich ihrer eigenen Ausbildung erinnerte und diesen eben entstandenen Gedanken bestätigt sah – mehr wie sie selbst einst gewesen war. Fiana war mehr wie die Frau, die sie jetzt war, doch Lanzelind, ähnelte einer jungen, temperamentvollen und stolzen Alinja. Dieser Gedanke lenkte sie für den Moment so ab, dass sie ihr Auge schloss, um Rondra für diese Erkenntnis zu danken und sich still daran zu erfreuen, dass die Wege der Herrin unergründlich und doch immer gut und richtig waren – und so schön, wenn man dies erkannte.
Als sie ihr Auge wieder öffnete, lächelte sie warm und nickte anerkennend. Dann aber richtete sie sich auf und sah sich um. In der Tür des Praiostempels war ein Bannstrahler erschienen und verächtlich kräuselte sich die Oberlippe der Schwertschwester als sich ihre Blicke kreuzten. „Eine gute Rede, Tochter. Eine, die eine ausführliche Antwort verdient. Doch nicht hier, wo unerwünschte Ohren aufschnappen könnten, was nicht für sie gedacht ist. Unser Bruder im Tempel …“, sie schmunzelte, „... im Rondratempel, sollte ich präzisieren, hat mir ein Gasthaus genannt, in dem man gut speisen kann und seine Ruhe hat. Lass uns dort hingehen.“
Lanzelind folgte dem Blick ihrer Schwertmutter und rümpfte zum Ausdruck einer ähnlichen Verachtung ihre Nase. „Wird sicher besser sein, wenn wir das tun“, murmelte sie dann leise und schloss sich Alinja an, die eben im Begriff war den Praiostempel und all die verirrten Seelen, die er beherbergte, hinter sich zu lassen, um endlich zum angenehmen Teil des Tages überzugehen.
Einsichten und Absichten
Selber Tag, selber Ort
Sie betraten die Schenke und zu Lanzelinds Zufriedenheit wurden sie mit gebührendem Respekt, ja sogar Eifer, in Empfang genommen. Alinja hatte sich suchend umgeblickt und ihr Mund sich unzufrieden verzogen, als an dem von ihr präferierten Tisch schon jemand saß. Der Tisch stand an derselben Wand, in der die Haustür war, die Bank stand unmittelbar vor der Wand. Linkerhand war ein kleines Butzenglasfenster und die Bank auf der anderen Tischseite war mit einer Hohen Lehne versehen. Von dort hatte man den ganzen Schankraum im Blick und konnte sicher sein, dass sich niemand unbemerkt näherte.
Der Wirt hatte ihren Blick bemerkt und war sofort zu der Frau getreten, die dort saß und einige Pergamentrollen miteinander verglich, derweil sie wohl auf ihr Essen wartete. Sie führten eine geraunte Unterhaltung und die Frau räumte den Tisch mit einer ehrerbietigen Verbeugung vor Alinja und einem freundlichen Nicken für Lanzelind.
Die Schwertschwester dankte dem Wirt und auch der Frau und nahm das Angebot gern an. Sie bestellte zwei große Humpen heißen Würzweins, einen Krug Wasser und von dem Braten aus der Rinderschulter mit Schmorgemüse und frischem Brot, den der Wirt so ausführlich anpries. Alinja hatte sich noch nicht ihres Namensschwerts entledigt, um es griffbereit neben sich zu stellen, da war der Würzwein schon da und auch das frische Brot nebst Schmalztiegel und einer winzigen Schüssel voller Salz. Der Braten würde noch etwas dauern, entschuldigte sich der Wirt und das mache auch gar nichts, entgegnete Alinja, man habe ohnehin noch etwas zu besprechen. Sie setzten sich und Alinja umschloss den irdenen Becher mit beiden Händen.
„Nein, müssen sie nicht“, antwortete sie auf die vor gut einem Viertel Wassermaß gestellte Frage Lanzelinds. „Eine Rondrageweihte muss und darf nichts dulden, was sie beleidigt, die Ehre der Herrin oder die ihre angreift. Wenn du dich – sobald du die Weihe hast – von einem Bruder in Praios beleidigt fühlst, musst du dir das nicht gefallen lassen“, erklärte sie bedächtig und sah Lanzelind dabei ernst in die Augen.
„Warum also habe ich dem Praioraner erlaubt, so mit mir zu sprechen? Ganz einfach, Lanzelind: Ich selbst kenne den Wert meiner Ehre. NUR ich selbst und Rondra und so kann auch nur ich selbst entscheiden, ob sie besudelt wurde oder nicht. Kennst Du den Lehrsatz, wonach es die Eiche nicht schert, wenn eine Sau sich an ihr schubbert?“ Alinja lächelte andeutungsweise. „Meine Ehre ist diese Eiche und alles andere kannst du dir denken, nicht wahr? Ich weiß, dass es schwer sein muss, das jetzt anzunehmen. Ich weiß, dass die Empörung, das Gefühl der erlittenen Ungerechtigkeit heiß in dir brennt und Recht so. Es ist dieses Feuer, das dich wachsen lässt und das auch in mir brennt es, aber stetiger und ruhiger, nun.“
Vorsichtig nippte sie an ihrem Wein und leiser fuhr sie fort. „Dieser Hensgar ist ein Fanatiker, Lanzelind, und nicht der Erste, dem ich begegne. Fanatiker sind wie Bullen, die gereizt wurden, nur mit dem Unterschied, dass sie es immer sind, dass sie nie vernünftig werden, sie Argumenten der Vernunft nie folgen können. Einmal in Rage geraten, bringt einen Bullen nichts von seinem Ziel ab, er rennt sich eher den Schädel ein, als nachzugeben und so sind Fanatiker, so argumentieren und verdrehen sie. Hast du es nicht gehört, wie er meine Worte verdreht hat? Oh, glaube mir, ich hätte diesem Kerl einiges zu sagen gehabt, doch nur zu dem Nutzen, dass jedes meiner Widerworte weitere, größere Beleidigungen gezeitigt hätte. Solche, die selbst mich aus der Fassung gebracht hätten und dann?“
Alinja betrachtete Lanzelind. „Er ist nicht satisfaktionsfähig, ein Kampf nach den Regeln der Ehre nicht möglich, weil er mir nicht gewachsen ist. Wie also hätten wir herausfinden sollen – für alle sichtbar – wer von uns im Recht ist? Er hätte einen Stellvertreter benennen können, was ich wiederum hätte ablehnen müssen, weil es nicht akzeptabel ist. Ich hätte mich anpassen und ebenfalls brüllen können oder etwas in der Art.“ Kurz sann sie nach und schüttelte dann entschieden den Kopf.
„Das ist nicht mein Weg, das ist etwas für Dummköpfe, die den Mangel an Recht mit Lautstärke kompensieren, das habe ich nicht nötig. Als wie hierher kamen, hatte ich ein Ziel, Lanzelind. Ich wollte Antworten und die habe ich erhalten. Hensgar, so eifrig darum bemüht, mich aus der Reserve zu locken, hat mir mehr enthüllt, als er vermutet. Ich kenne seine Einstellung nun und darum kann ich agieren und meine Züge setzen. Das da im Praiostempel war nichts als ein Duell, Tochter, eins mit Worten und ja, ich habe defensiv gekämpft, um seine Lücken zu erspüren. Das habe ich und ich werde die Erkenntnis so nutzen, dass selbst der dümmste Sichelwachter, der dümmste und fanatischste Praiot das verstehen wird. Denn“, sie lächelte und zeigte ihre Zähne, „der Sinnspruch deiner Großmutter ist mir wohlbekannt und ich würde es mir nie verzeihen, wenn nicht auch der Blödeste den Sinn hinter meinem Tun erkennen könnte. Zumindest in dem, was ich nun vorhabe.“
Sie hielt kurz inne und meinte dann: „So lass ihn doch feiern, diesen kleinen Mann, es gibt kaum ein befriedigenderes Gefühl, als einem Gegner eine Siegesfeier zu verderben. Soll er sich noch eine Weile in der vermeintlichen Gewissheit sonnen, es einer Rondrianerin so richtig gezeigt zu haben. Er wird bemerken, dass er seinem Ziel, uns auf den uns gebührenden zweiten Platz zu verweisen, keinen Schritt näher gekommen ist, im Gegenteil. Er wird erkennen müssen, dass selbst die geschwächte Kirche Rondras besser in der Lage ist, ihre Vorherrschaft in Weiden zu behaupten als die Kirche des Lichts mit all ihren Reichtümern, die ihr doch nicht dabei helfen, uns diesen prominenten Platz streitig zu machen. Er wird es bemerken. Bald, Lanzelind, und dann werde ich feiern, im Geiste und mit einem Tanz zu Rondras Ehren. Denn noch etwas hat dieser Praiot vergessen: Demut und dafür wird er bezahlen, eher früher als später.“
Nachdem Alinja geendet hatte, hing Lanzelind eine ganze Weile lang schweigend ihren Gedanken nach. Hinter der Stirn des Mädchens schien ein wahrer Sturm zu toben. Die Legatin meinte genau erkennen zu können, wie ihre Schwerttochter die vernünftigen und gelassenen Worte mit dem in Einklang zu bringen versuchte, was sie empfand, und wie sie an dieser Aufgabe scheiterte – vorerst jedenfalls. Leise seufzend griff Lanzelind schließlich nach ihrem Becher, spülte mit einem großen Schluck ihren Zorn herunter und richtete den Blick dann wieder auf Alinja.
„Ich fürchte meine Ehre ist nicht groß genug, als dass sie sich an einer Sau nicht stören würde“, mit einer unsicheren Geste strich sie sich ein paar tiefschwarze Haarsträhnen aus der Stirn und räusperte sich leise. „Ich hätt ja sogar Angst, dass die Sau sie ganz umknickt, wenn sie sich nur mit vollem Gewicht dagegen lehnt. Noch dazu bin ich wohl eher wie einer von diesen Stiere, die Ihr erwähnt habt. Wenn man mich reizt, dann renn ich mir den Schädel ein. Und ich bin schnell gereizt. Das ist wohl der Fluch meines Blutes ... . Nachgeben ist nicht grad die Stärke der Rauhenecks.“ Sie bedachte Alinja mit einem verlegenen Lächeln und kratzte sich dann noch einmal am Kopf.
„Wär ich Ihr gewesen, dann hätt ich diesem Fanatiker ganz bestimmt meine Meinung gegeigt und dabei alles nur noch schlimmer gemacht. Vielleicht nicht, indem ich rumgebrüllt hätte ... nicht in dem Tempel da. Aber ich hätt das alles nicht auf mir sitzen lassen. Ich kanns nicht ertragen, wenn mich jemand ... respektlos ... behandelt. Ich glaub nämlich eigentlich nicht, dass ich das verdient habe. Und Ihr schon mal gar nicht. Und weil ich’s nicht ertragen kann, geh ich immer gleich in die Luft. Ich fürchte, ich hab nicht Eure Geduld und ganz bestimmt auch nicht die gleiche Weitsicht wie Ihr.“ Sie seufzte resigniert und trank dann noch ein paar große Schlucke von dem Würzwein.
Die Bornische lachte leise. „Das ist den Jahren geschuldet, die uns trennen, Lanzelind. Das Leben lehrt einen Geduld und mit der Erfahrung kommt die Weitsicht, die die Gelassenheit am Zügel führt.“ Sie musterte ihr Gegenüber und wurde wieder ernst. „Man sollte nur bekämpfen, was man kennt. Und je besser man es kennt desto klüger kann man streiten. Darum war ich hier und bin nun klüger. Genau darum kannst du auch den Fluch deines Blutes wehren oder damit beginnen, dich gegen ihn aufzulehnen. Es ist dein Ziel, Herrin deiner selbst zu sein, nicht nur als Kämpferin mit dem Schwert, nein auch – oder vor allem – im Geiste. Du musst lernen, dich zu beherrschen und damit auch die Wut in dir. Oder zumindest lernen zu erkennen, wann du dich der Wut hingeben darfst und wann sie sich deinem Geist unterzuordnen hat. Du stehst noch am Anfang und wir gehen diesen Weg gemeinsam: Du wirst es lernen!“
Nachdenklich drehte Alinja den Korb mit dem Brot einmal um seine Achse und lehnte sich dann zurück. „Doch mich deucht, wichtiger sind einstweilen Lektionen in Fragen der Ehre, denn mir missfällt außerordentlich, dass du die deine klein nennst, schwach, biegsam. Zugegeben: Du bist jung, ein unbeschriebener Schild, weswegen du auch Skutigera geheißen wirst. Du sollst dich dessen stets erinnern. Der Schild – rein und blank – mag leer sein, er ist dennoch vorhanden und jeder Verteidigung wert, Lanzelind! Für unsereins ist die Ehre gleich nach der Seele unser kostbarstes Gut. Verlieren wir sie, hat das auch Auswirkungen auf die Reinheit unsrer Seele und darum darfst du nie wieder so etwas sagen, Tochter, denn wie willst du verteidigen, was du selbst gering schätzt?" Alinja wirkte viel eher betroffen, als ärgerlich. Sie runzelte die Stirn, als sie Lanzelind fest in die Augen sah. „Also: Wieso sprichst du so? Erklär es mir, denn Stolz hast du, und Trotz noch mehr.“
„Ich weiß nicht“, die Worte der Novizin klangen nicht sehr überzeugend und sie schien sich dessen bewusst zu sein. Dennoch setzte sie nicht sofort zu einer genaueren Erklärung an, sondern starrte einen Moment lang ins Leere, bevor sie mit einer raschen Geste eine der Brotscheiben aus dem Korb fischte, den Alinja vor sich auf dem Tisch hin und her schob. „Aber ich glaub, dass man seine Ehre umso verbissener verteidigt, je weniger man sich ihrer sicher ist.“ Mit einer trotzig anmutenden Geste brach Lanzelind ihr Brot und schob sich einen kleinen Happen davon in den Mund.
„Ich bin viel jünger als Ihr, Ehrwürden, das habt Ihr selbst grad gesagt. Ich hab nicht Eure Geduld, ich hab nicht Eure Weitsicht und ich bin mir Meiner nicht sicher. Wie könnt ich da behaupten, dass meine Ehre stark und fest wie eine Eiche wär? Das käm mir arg vermessen vor“, sie lächelte schief, „Wenn sich an meinem Stamm eine Sau schubbert, dann bringt mich das ins Wanken. So ist das halt einfach. Es macht mich zornig, weil ... weil es mir Angst macht. Aber das heißt ja nicht, dass ich nicht sofort zur Verteidigung schreiten würde. Das mach ich schon.“ Die junge Rauheneck hielt inne, um ihrer Schwertmutter einen vorsichtigen Blick zuzuwerfen. „Vielleicht ist es dann ja nicht ganz so schlimm ... mit mir ... ?!“
Alinja musterte Lanzelind sorgsam, dann nahm sie die Hände vom Brotkorb und schob ihr den Schmalztiegel zu. „Schlimm? Woher denn?! Deine Anlagen sind offenkundig. Der Ruf, der Dich erreichte, gellt laut. Schlimm ganz sicher nicht, Lanzelind.“ Wieder musterte sie das Mädchen. „Schwierig, aber nicht aussichtslos hätte meine Schwertmutter jetzt gesagt und mich deucht, sie muss es wissen.“ Alinja lächelte hintergründig und etwas wehmütig.
„Bis wir wieder zu Hause sind ...“, andächtig unterbrach sie sich und schmeckte dem Klang dieser beiden Worte lächelnd nach, „ … werde ich dir vornehmlich von der Ehre berichten. Von den unterschiedlichen Formen, die es gibt, wie man sie erkennt und – wichtig – wie man sie pflegt. Darüber wirst du die deine erkennen und ich denke, dir deiner bald auch sicherer werden. Es ist gut, dass du die Angst kennst, Tochter, doch wir müssen daran arbeiten, was dich ängstigt. Ebenso wie wir am Fokus deiner Wut arbeiten müssen. Doch verzage nicht, du bist erst ein Jahr Novizin und wenige Monde in meiner Obhut: Wir haben Zeit, jede Zeit, die es braucht, aus dir das Schwert zu machen, das die Herrin in dir sieht.“ Die Schwertschwester lächelte warm und voller Zuversicht.
„Hm ... danke, Hochwürden.“ Lanzelind nahm den Tiegel entgegen und begann sofort damit, ihr Eckchen Brot sorgfältig mit Schmalz zu bestreichen. Währenddessen schien sie sich die Worte Alinjas noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen und beendete die Denkarbeit schließlich mit einem schweren Seufzen. „Ja, das ist wahrscheinlich sehr gut Idee“, die Miene der kleinen Rauheneck wirkte etwas beklommen, als sie das sagte, „Ich werd mir das ... gern anhören. Ich habe da sicher noch viel zu lernen.“ Sie legte ihr Messer beiseite und warf einen nachdenklichen Blick auf ihr Brot. „Was heißt das denn, ‚der Fokus meiner Wut‘? Was meint Ihr damit?"
„Ah nun, Wut ist eine Waffe, kann eine Waffe sein. Eine brachiale, wie eine Ochsenherde, oder eine filigrane, präzise wie ein schlankes Langschwert. Von der nadeldünnen Präzision einer Stichwaffe will ich hier nicht reden, denn die kann in die Irre führen. Schau, du kannst mit einem Schwert voller Wildheit angreifen und hoffen, dass deine Kraft mit deiner Wut mithalten kann und dein Gegner eben nicht. Hältst du es so, ist deine Wut ohne Richtung, nur darauf gezielt, sich zu entladen, sie ist ohne Fokus. Du musst lernen, einen solchen zu finden, deine Wut anzunehmen, aber in Bahnen zu lenken, in denen sie dir nutzt und vor allem: nicht nur dir. Zuvörderst muss sie immer der Herrin nutzen! Eigennutz ist frevelhaft, einer Frau, die ihre Seele Rondra weiht, unwürdig.“
Alinja stützte einen Ellbogen auf und hob den Becher für einen langen Schluck an ihren Mund. „Nehmen wir zum Beispiel Hensgar. Ich bin ziemlich wütend auf ihn, unbenommen. Allerdings muss ich mir die Frage stellen: Warum? Hat er mich beleidigt? Er hat es versucht und das auch noch sehr offensichtlich, was mir wiederum nur ein höhnisches Lächeln“, sie demonstrierte es, „abringen kann. Wichtiger für mich ist, dass er die Kirche der Herrin angegriffen hat und dieser bin ich Stimme, Ohr und Zunge. Jede Geweihte ist das. Diesen Angriff, diesem Anklang der Beleidigung muss ich begegnen und dafür muss ich meiner Wut eine Richtung geben, die Kraft, die darin liegt, nutzen. Weißt du wie ich das tue, was ich vorhabe?“
Lanzelind schüttelte kauend den Kopf und Alinja schob ihr mit das Salz zu.
„Ich überlege, was Hensgar wohl ähnlich ärgern würde, wie mich seine Worte. Zweifellos denkt er, er habe mir die Überlegenheit seines Kults ausreichend demonstriert. Ich hingegen denke mir, dass die Macht einer Kirche auch aus ihren Gläubigen kommt und Gläubige sind nicht nur Menschen, die wir schröpfen, damit unsere Hallen in silbern und rot erglänzen, deren Zehnt uns den Pelz einbringt, der uns jetzt wärmt. Nein, Gläubige sind die, die wir anleiten und“, sie beugte sich vor, „Wichtiger: die wir schützen! Immer, jederzeit, egal, wie es uns dabei geht. Du hast gesehen, wie wenige wir noch sind, wie leer unsere Kassen sind. Und? Wir sind und genau das ist unsere Stärke! Ich habe mich also daran erinnert, dass in Baliho, auf meinem Schreibtisch das Gesuch einer Edlen aus der Sichelwacht liegt. Sie bittet um die Unterstützung der Kirche beim Bau eines Wehrtempels.“
Alinja lehnte sich wieder zurück und schlug ein Bein über. „Nun, das ist ein Projekt, das schwierig werden dürfte, denn wir haben nur wenige Geweihte und ... wie gesagt ... wenig Gold. Und in diese Bahn presse ich nun meine Wut: Dieser Tempel muss gebaut und besetzt werden! Hier in der Sichelwacht, denn was für ein Zeichen setzen wir damit?! Ich werde all meine Kraft brauchen, einen würdigen Geweihten zu finden, Spenden einzutreiben, Bauarbeiter zu rekrutieren und dergleichen mehr. Aber wie sehr wird Hensgar wüten, wenn er von einem weiteren Rondratempel erfährt, der in seiner Sichelwacht entsteht? Und wichtiger: Die Gläubigen werden in ihrer Treue belohnt, gestärkt und das bindet sie noch stärker an uns, bestärkt sie in ihrem Vertrauen auf Rondra und ihren Schwertbund. Niemals wird Hensgar dieses Band zerschneiden können, wenn wir so handeln und er dem nur mit Hetztiraden und Schmähung entgegentritt. Denn indem er uns beleidigt, beleidigt er ja auch die, die uns folgen, eh?“ Alinja lächelte schmal.
„Zuletzt gewinnen wir und das ist das Wichtigste von allem: Die Herrin gewinnt ein weiteres Haus, in dem man sie preist und in dem Seelen den Weg zu ihr finden können. Das meine ich mit fokussieren, denn du wirst lernen, dass der Lohn zielgerichteter, kontrollierter Wut eine ungleich größere Zufriedenheit beschert, als die hohle Befriedigung, die nur die Wut des Augenblicks kühlt, die Verletzung deiner Ehre aber nicht heilen kann und eine andere, gefährlich Wut in dir glimmen lässt.“
Hernach saß Lanzelind lange Zeit einfach nur schweigend da. Sie maß ihre Schwertmutter mit aufmerksamem Blick und schien sich alles, was eben gesagt worden war, noch einmal gründlich durch den Kopf gehen zu lassen. Nicht ganz so gründlich, wie sie auf ihrem Brot herumkaute, aber immerhin. Erst als die Stille sich in eine zusehends unangenehme Länge zog, als Alinja sich schon fragte, ob dies vielleicht die einzige Reaktion auf ihre Erklärung bleiben sollte, und als von der Brotscheibe der jungen Rauheneck fast schon nichts mehr übrig war, gab diese ein leises „Hum“ von sich und griff nach dem Salz.
„Na gut ... so habe ich das Ganze noch nicht betrachtet. Aber das ergibt natürlich Sinn. Sicher tatsächlich viel mehr, als einem derart uneinsichtigen Menschen den Hosenboden strammziehen zu wollen“, mit erstaunlicher Akribie streute sie eine sehr bescheidene Menge Salz auf ihr Brot und blickte Alinja dann wieder ins Gesicht. „Allerdings glaub ich nicht, dass ich von selbst auf so was gekommen wär.“ Sie lächelte verlegen und steckte sich dann den Rest ihres Brotes in den Mund. Nachdem sie aufgekaut hatte, hob die Schwerttochter Alinjas fragend die Brauen. „Und was ist das für ein Gesuch? Von was für einer Edlen kommt das? Würde dieser Tempel denn in der Nähe von Salthel gebaut? Wär ja schön, wenn wir Hensgar einen Teil seiner Sichelwacht ganz in seiner Nähe abjagen könnten. Wobei ... ich glaub, unser Praetor tut mir jetzt schon leid. Ein bisschen wenigstens.“
Alinja lachte leise. „Das Schöne ist ja, dass wir ihm nichts abjagen müssen. Rondra ist die Herrin über dieses Land, hoch verehrt und innig geliebt. Wir müssen nur dafür sorgen, dass das auch genau so bleibt. Das ist meine Aufgabe, das wird die deine sein. Salthel … du bringst mich auf eine Idee, aber darüber muss ich erst nachdenken, ehe ich weitere Worte darüber verliere.“ Nachdenklich blickte sie in die Flamme der Kerze, die ihren Tisch erhellte, ein seltsamer Glanz legte sich auf ihr Auge.
„Das Gesuch hingegen kommt aus… “, kurz runzelte sie die Stirn, dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, „… Rotenforst, heißt das Lehen. Direkt an der Grenze zum Bornland. Warte, der Name der Edlen fällt mir auch gleich wieder ein. Sie hat ein einprägsames Wappen, auf Silber ein Adlerflug in rot, sehr erhaben. Ah ja, von Lhandroval war der Name der Familie. Es ist ziemlich weit weg von Salthel, aber in einem Bereich der von den Goblins stark bedroht wird. Vor allem darum habe ich das Gesuch nicht längst abschlägig beschieden. Ich weiß zwar noch nicht, wie ich die Mittel auftreiben soll, aber ich sagte ja schon, mein Zorn wird mir die Kraft geben, einen Weg zu finden.“
Mit dem Ausdruck höchster Konzentration auf ihren Zügen verfolgte Lanzelind das wechselhafte Mienenspiel der Schwertmutter. Sie schien sehr interessiert daran, auf was für eine Idee ihre Worte die Legatin wohl gebracht haben mochten – getraute sich aber nicht, direkt danach zu fragen. Stattdessen schlug sie ihren Blick nieder, als der seltsame Glanz sich auf Alinjas Auge legte, und starrte sinnend auf den Brotkorb, alldieweil sie mit den Fingerspitzen über den Rand ihres halbleeren Tonkruges hinweg fuhr.
Erst als die Hochgeweihte den Namen der Baronie nannte, aus der das Gesuch nach dem Bau eines neuen Rondratempels gekommen war, hob die kleine Rauheneck den Kopf wieder und sah ihr Gegenüber fragend an. „Aus Rotenforst?“, ihre Augen funkelten begeistert, alldieweil sie sich breit lächelnd in ihrem Stuhl zurechtsetzte. „Wirklich? Das ist doch die Baronie, aus der meine Verwandten kommen, oder etwa nicht? Vielleicht können die ja auch ein bisschen was zum Bau Eures Tempels beisteuern? Schließlich sind ein paar von ihnen rondragläubig ... irgendwie ... mein ich jedenfalls ... .“ Lanzelind runzelte die Stirn und kratzte sich mit einer fahrigen Geste am Kinn. „Ich könnt ja mal mit ihnen darüber reden ... ihnen schreiben ... . Oder hättet Ihr da was gegen, Hochwürden?“
Die Hochgeweihte lachte leise. „Natürlich nicht, wie käme ich dazu, Lanzelind? Das ist ja wirklich eine Überraschung, ausgerechnet in dieser Baronie lebt also der Weidener Zweig deiner Familie? Welch seltsame Windungen die Wege der Göttin zuweilen doch offenbaren. Du kannst deinen Verwandten gern einen Brief schreiben, sobald ich der Edlen von Erdsang geantwortet habe und schreibe ihnen ruhig auch in meinem Namen, dass jedwede Hilfeleistung mehr als nur willkommen ist.“
„Ja, genau. In Rotenforst. Da haben sie wohl schon immer gelebt. Ich glaub auch, dass sie da eine Burg haben. Oder eine Festung ... oder so. Was Altes jedenfalls. Das hat Firnfee mir erzählt, als sie in Rommilys gewesen ist“, Lanzelind nickte bestätigend und lächelte Alinja dann schüchtern zu. „Ich werd ihnen ganz bestimmt einen Brief schreiben. Ihr müsst mir nur sagen, wann ich das machen soll. Ich schreib ihnen was ... und ich bin mir ganz sicher, dass sie der Kirche Rondras gern beim Bau eines Tempels helfen werden.“ Abermals nickte die junge Rauheneck und griff dann – ihrem Verlangen schließlich doch noch unterliegend – nach einer weiteren Scheibe Brot.
Ehe sie die Scheibe mit Schmalz bestreichen konnte, kam der Wirt schwer beladen aus der Küche und auf direktem Weg zu ihrem Tisch. Er schleppte einen großen und tiefen, ovalen Teller, in dem – auf einem Bett geschmorten Gemüses – ein großes Stück gerösteten Fleisches thronte. Mühsam setzte er den Teller zwischen Lanzelind und Alinja und bemühte sich darum, dies so sanft wie möglich zu bewerkstelligen. Eine Magd folgte ihm nach und deckte den Tisch eilends mit Holztellern sowie eisernen Gabeln und Messern ein.
„Wohlschmecken, Travias Segen und einen guten Appetit“, murmelten beide, ehe sie sich mit einer Verbeugung zurückzogen.
„Travias Dank“, entgegnete Alinja uns beugte ihrerseits das Haupt.
Der Rinderbraten duftete verführerisch und auch das Gemüse – Rüben, Kohl und kleine Zwiebeln – sah ungemein appetitlich aus. Alinja überließ Lanzelind das Auftun, entband sie aber von der Pflicht, dies im Stehen zu tun. „Für dieses Mal! Auch wenn du einst Priesterin sein wirst, sollst du Benimm und Anstand lernen, gerade wie ein Ritter und dazu gehört auch, dass du höher stehenden Personen ein Mahl auftun kannst, wie es sich ziemt“, bemerkte sie sachlich.
Als beide Teller mit je einer dicken Scheibe Fleisch beladen waren, rezitierte Alinja ein leises Dankgebet zu Travias Ehren und wünschte Lanzelind dann einen guten Appetit. Die Hochgeweihte selbst aß langsam, voller Genuss und da es sich – wie Lanzelind wusste – nicht gehörte, dass sie selbst länger aß, als ihre Schwertmutter, war sie dankbar, dass Alinja dies tat, denn so konnte sie ihren Hunger in aller Gemütsruhe stillen und dem köstlichen Mahl ausführlich frönen.
Unbill oder Verstehen?
Anderath, Boron 1029 BF
Zum zweiten Mal innert drei Tagen hatte sie einen Praios-Tempel zum Ziel. Müde strich sie sich über die Stirn, betastete kurz ihre Augenklappe und spürte dem dumpfen Schmerz nach, der den Verlust ihres Auges Lügen strafte. Mjalnirs große Hufe klapperten laut auf dem Pflaster und Alinja sann nach, ob sie eine Übernachtung einplanen sollte.
Lanzelind ritt neben ihr und dem Mädchen stand ein unternehmungslustiges Funkeln in den Augen, sie genoss es, aus den Tempelmauern heraus und herum zu kommen. Alinja lächelte verhalten und erinnerte sich an ihr eigenes Noviziat, vor so langen Jahren.
Was mochte der Besuch in Anderath bringen? Unbill oder Verstehen? Ärger oder Benehmen? Sie wagte keine Vorhersage und genau darum fiel es ihr auch so schwer, sich zu entscheiden. In Anderath nächtigen, oder nach Baliho reiten, auch wenn das bedeutete, erst spät in der Nacht anzukommen? Immerhin wäre sie dann zu Hause und manchmal, tröstete sie genau dieser Gedanke: Nach all den Jahren hatte sie endlich ein zu Hause.
Sie würde sich nicht entscheiden, würde das Gespräch abwarten. Überhaupt abwarten, ob man sie auch hier wie eine dahergelaufene Handlangerin behandeln würde oder so, wie es ihrem Rang entsprach. Sie bogen in die Straße ein, die zum Praiostempel führte und er kam in ihr Blickfeld. Groß, mächtig und beeindruckend. Eingefasst von vier Türmen, eine imposante Kuppel und natürlich gehalten in weiß, … kostbarem Marmorweiß.
Alinja seufzte, lenkte ihr Perricumer Kaltblut zu einer der Seiten des Tempels, wo ein Holzbock stand, an dem man Zügel befestigen konnte. Noch einmal musterte sie den Tempel von ihrem erhöhten Sitzplatz, dann verbarg sie ihre Müdigkeit und ihre Gefühle hinter der so vertrauten ausdruckslosen Miene, die sich einem Visier gleich über ihr Gesicht legte.
„Auf ein Neues denn, Lanzelind“. Sie schwang sich aus dem Sattel, tätschelte ihren Wallach und trat auf den Tempel zu.
„Hmhm“, die kleine Rauheneck quittierte Alinjas Anmerkung allein mit einem unartikulierten Brummen. Seit ihrem letzten Besuch in einem Praiostempel schien dem Mädchen die Lust auf weitere Zusammentreffen mit den Dienern des Götterfürsten gehörig vergangen zu sein. Dennoch schwang sie sich aus dem Sattel und trottete mit schicksalsergebener Miene hinter ihrer Schwertmutter her.
Sie erklommen die breite Treppe zum Portal und betraten die Halle durch das mächtige Tor, das von einem stählernen Greifen verziert und -stärkt wurde, der durch zwei ebenfalls stählerne Greifen flankiert wurde.
Über den Rondrianern spannte sich auf einem Säulenrund eine riesige Kuppel auf, die – über und über vergoldet – Sonnen-, Greifen- und Herrschaftssymbolik zeigte. Die Halle wirkte lichtdurchflutet und alles Licht schien sich in dem prächtigen Hochaltar aus Bernstein zu sammeln, der den Gott als falkenhäuptigen Rechtssprecher zeigte, mit der Waage der Gerechtigkeit in der Rechten und der Gesetzesrolle in der Linken. Faustgroße Zitrine funkelten als alldurchdringende Augen in dem majestätischen Falkenkopf, der von einer Tiara geziert wurde. Zu Füßen des Gottes brannte das ewige Licht in einer prächtigen goldenen Feuerschale, deren Füße von drei Sonnenszeptern gebildet wurde. Mehrere prächtige Richtschwerter waren um die Statue drapiert, wie auch Reinigungsruten aus vergoldeten Bosparanienästen.
In jeder der Ecken, in denen sich auch die Zugänge zu den Türmen befanden, erhoben sich mächtige, blattvergoldete Statuen. Der göttliche Falke Ucuri, der Greif Garafan, der Drache der Gerechtigkeit, Branibor, dessen Eisenflügel sicherlich drei Schritt Spannweite hatten und ein Luchswesen mit bernsteinernen Augenflecken, das Schelachar darstellte.
Aromatischer Duft durchwehte die Halle und gerade verklang einer der Gurvanischen Choräle, als sich ein junger Mann, in einer einfachen weißen Robe mit einem roten Skapulier aus kniender Haltung erhob. Er kam gemessenen Schrittes auf die beiden Rondrianerinnen zu und neigte grüßend sein Haupt, das von einer weißen Filzkappe bedeckt war. An seinem Gürtel war eine Sphärenkugel zu sehen, offenbar war der Jüngling mit den charismatischen braunen Augen ein Novize. „Die guten Götter zum Gruße, Ehre der Wächterin auf Alverans Zinnen.“ Der Novize lächelte. „Willkommen in der Goldenen Halle des Gesetzes, Hochwürden“, er verneigte sich, „Schwester im Glauben.“ Der letzte Satz hatte mit einem Nicken Lanzelind gegolten.
Dann blickte er Alinja, die ihn um Haupteslänge überragte in die Augen. „Ich bin Olin, Novize hier. Was führt Eure Schritte in unseren Tempel, wenn ich fragen darf? Oder vielleicht sollte ich besser sagen: Wie kann ich Euch helfen?“
„Praios zum Gruße, Olin und Dank’ für Dein freundliches Willkommen. Mein Name ist Alinja Leuenklinge von Norburg, Schwertschwester von Lohenharsch, Tempel der alveranischen Leuin zu Baliho sowie Gesandte ihrer Eminenz Aldare VIII. Donnerhall von Donnerbach. Dies ist“, sie wies auf Lanzelind, „meine Novizin Lanzelind von Rauheneck. Ich möchte um eine Unterredung mit der Custoda Lumini bitten.“ Alinja blickte sich um und verengte ihr Auge ob des güldenen Glanzes, ehe sie ihren Blick wieder auf Olin senkte.
„Ich verstehe, Ihr seid erkoren den Stammtempel der Orkenwehr zu leiten – die guten Götter mit Euch. Ich werde Ihre Hochwürden sofort über Euer Kommen und Anliegen unterrichten, hochwürdige Schwertschwester. Das mag jedoch eine kleine Weile dauern, denn seit den schrecklichen Geschehnissen um die Stadt des Lichts,“ hier schluckte der Novize sichtlich und seine Stimme wurde heiser, „und die von Seiner Erhabenen Weisheit ausgerufenen Quanionsqueste um das Ewige Licht, pflegt die Custoda Lumini lange und innig auf dem Ucuri-Turm zu meditieren und zu beten.“
Der Novize stutzte kurz und wandte sich erneut an Alinja. „Können wir Euch inzwischen traviagefällige Gastung anbieten, nach Eurer Reise? Wenn Ihr wünscht, schicke ich einen Diener nach Wein und Brot. Ansonsten findet Ihr Chorgestühle dort hinten an der Wand, auf denen Ihr Euch niederlassen könnt – sie sind bequemer, als sie aussehen.“
Die Rondrianerin konnte ein erstauntes Blinzeln nicht hindern. Schweigend musterte sie Olin für einige Augenblicke und endlich verzog sie den linken Mundwinkel zu einem halben Lächeln. „Und erneut meinen Dank“, murmelt sie. „Ein Becher Wasser wäre in der Tat sehr willkommen, Luminiquaestor“, antwortete sie dem Novizen dann wohl vernehmlich. „Darüber hinaus üben wir uns gerne in Geduld, denn Meditation und Gebet haben stets Vorrang!“
Sie blickte Olin hinterher und schniefte leise. „Setz Dich einstweilen schon, wenn Du möchtest Lanzelind. Ich geselle mich gleich zu Dir.“ Damit wandte sie sich dem Hochaltar zu, näherte sich ihm aber nur für zwei weitere Schritte, ehe sie auf ein Knie sank und sich in ein Gebet vertiefte.
Vielleicht waren es derer auch zwei gewesen, als die Bornische sich ein wenig steif wieder erhob, ihrer Novizin zustrebte und sich setzte. „Hier herrscht ein anderer Ton, nicht wahr? Dennoch ist die Zuversicht einstweilen zögerlich.“ Spöttisch lächelnd schlug sie ein Bein über und legte, wie so oft, ihre Schwerthand fast ein wenig schützend auf ihr malträtiertes Knie.
Schweigend beobachtete Lanzelind das Tun ihrer Schwertmutter. Sie war meilenweit entfernt davon, sich neben Alinja zu knien und ebenfalls ein Gebet an den Götterfürsten zu richten. Von dem hatte sie vorerst genug – auch wenn sie sehr wohl wusste, dass das Handeln seiner Diener nicht immer mit dem seinen gleichgesetzt werden konnte. Einerlei ... sie hatte ihre Kränkung noch nicht überwunden und solange dies der Fall war, gab sie nicht viel darauf, wer genau ihren Stolz verletzt hatte. Sie interessierte sich allein für das Lager. Ein Lager, aus dem ihr zum gegebenen Zeitpunkt nur Schlechtes zu kommen schien und dem sie deshalb vorerst keine Referenz erweisen wollte.
So schniefte sie denn auch nur leise, als Alinja wieder zu ihr zurückkehrte und das Wort an sie richtete. „Ja, zögerlich, Ehrwürden. Das allemal!“ Die Novizin ließ ihren Blick völlig leidenschaftslos durch den prunkvollen Saal gleiten und hob dann mit einer etwas linkisch anmutenden Geste die Schultern. „Und das völlig zu recht, wie ich meine.“
Es verging weniger Zeit als befürchtet, bis sich die Prätorin der Halle den beiden Rondrianerinnen, die sich umgehend erhoben, näherte. Die Custoda Lumini war eine Priesterin, wie sich Lanzelind wohl in ihrer Kindheit immer eine Geweihte des Sonnengottes vorgestellt hatte. Goldenes Haar fiel der Frau akkurat geschnitten fast bis auf die Schultern und strahlende blaue Augen, deren loderndem Blick wenig zu entgehen schien, leuchten aus ihrem feingeschnittenen Gesicht. Ein goldener Greifenstirnreif krönte ihr Haupt und ihre tiefrote Robe aus Golddamast war über und über mit feinen goldenen Greifenmotiven bestickt. Darüber trug die Prätorin einen goldenen Mantel, der mit zwei roten Greifen verziert war. Ihr Gürtel wurde von einem großen goldenen Amulett in Greifenform und drei goldenen Sphärenkugeln geziert und ein prächtiges Kurzschwert hing in einer goldenen Scheide daran. Greifenring und Sonneszepter vervollständigten das Ornat der Anderather Prätorin, als sie vor Alinja stehen blieb und sie kurz musterte.
Die Rondrianerin war natürlich nicht annähernd so prachtvoll gewandet, wie sie selbst. Doch ihr geübtes Auge erkannte, dass die Tracht der Schwertschwester durchaus edel zu nennen war und auch ihre Novizin kam nicht ärmlich daher. Die gewachsten Mäntel waren mit kurzem weißem Pelz verbrämt, die Wappenröcke darunter aus feiner Wolle und die Löwin des Schwertbundes in leuchtendem Rot eingestickt. Selbst die grausamtene Augenklappe war von bester Qualität und die Waffen Alinjas selbstredend ebenso. Ihr fiel vor allem ein Dolch mit fein beschnitztem Horngriff auf, den die Rondrianerin direkt neben ihrem Namensschwert trug. Die Frau selbst konnte ihren Stand nicht leugnen, allein im Gesicht bemerkte die Praios-Geweihte zahlreiche Narben, von der jene, die sich unter der Augenklappe bis zum linken Ohr zog sicher die eindrucksvollste war. Alinja war ein wenig blass, wirkte zumindest leicht angeschlagen. Im krassen Gegensatz hierzu stand die ruhige Gewissheit, die in ihrem dunkelbraunen Auge gloste. Ihre dunkelbraunen Locken fielen – akkurat geschnitten – etwas über die Schulter und es zeigte sich die ein oder andere weiße Strähne darin.
Die Stimme der Prätorin klang voll und angenehm melodiös, es war offensichtlich, dass die Custoda Lumini lange Jahre mit dem Studium der Choräle zugebracht hatte. „Die guten Götter zum Gruße, Rondra mit Euch und willkommen in der Halle des Gesetzes. Ich bin Heliopais, die Prätorin hier und – mein Novize sagte es mir bereits – Ihr seid Alinja Leuenklinge, die Prätorin von Lohenharsch. Gut getroffen, Schwester im Glauben. Kommt, wollen wir ein paar Schritte gehen? Ich gehe doch stark davon aus, dass dies nicht nur ein Antrittsbesuch ist, oder? Dafür wäre dem Schwertbund seine Zeit in Kriegstagen wohl zu kostbar, nicht wahr? Was kann ich also für Euch tun, Schwester?“
Alinja lächelte verbindlich. „An sich nicht, gutes Benehmen sollte auch dem Krieg nicht geopfert werden. Und darum“, sie verbeugte sich angemessen, „Praios zum Gruße und Dank für Euer Willkommen.
„Doch Ihr habt Recht, Schwester, es ist nicht nur ein Antrittsbesuch“, fuhr Alinja der Musterung zum Trotz gleichmütig fort. „Zuvor möchte ich Euch aber noch meine Novizin vorstellen“, sie wies auf Lanzelind, die sich erhoben hatte und halb hinter ihrer Schwertmutter stand. „Lanzelind von Rauheneck ist der Name der jungen Dame. Und nun möchte ich eurem Vorschlag gerne folgen und einige Schritte mit Euch gehen.“
Die Heliopais nickte der Novizin zu, während sie sie eingehend musterte. „Dann stammst Du aus dem Junkergeschlecht derer von Rauheneck in der Baronie Rotenforst, Tochter?“
Lanzelind hatte sich darauf eingestellt, den beiden Frauen wie ein Schatten zu folgen – in gleich bleibendem Abstand, schweigend und vor allem ohne weiter beachtet zu werden. Als nun die Praiota das Wort an sie richtete, hob die kleine Novizin überrascht den Kopf und warf ihr einen misstrauischen Blick zu, bevor sie mit klarer Stimme zu sprechen begann.
“Nein, Hochwürden, das tu ich nicht. Obwohl der Schluss natürlich nahe liegt“, sie bemühte sich um ein möglichst unvoreingenommenes Lächeln, “Das Stammlehen meiner Familie befindet sich in den nördlichen Ausläufern der schwarzen Sichel ... oder vielmehr: Hat sich befunden. Ostdarpatien eben.“ Damit schien Lanzelind ihre Rede schon schließen zu wollen, besann sich dann aber doch eines Besseren. “Mit dem Junkergeschlecht von Sturmrætzvallt verbindet mich allerdings eine entfernte Verwandtschaft, Hochwürden. Insofern habt Ihr also durchaus recht.“
Die Praiota nickte. „Ich verstehe. Auch das Land Irmegundes – Traviaerbarmesichihr – hat durch den Angriff der Unheiligen Allianz über alle Gebühr gelitten.“ Sie sann einen Moment nach und wandte sich dann wieder der Legatin zu. Diese ergriff nicht gleich das Wort, schritt erst schweigend neben Heliopais Wort, ehe ein Seitenblick der Praioranerin sie dann doch veranlasste, das Wort zu ergreifen.
„Es fällt mir nicht leicht, mein zweites Anliegen vorzubringen“, hub Alinja an. „Die Gefahr, missverstanden zu werden ist sehr groß. Wir kommen direkt aus Salthel, wo ich mit Eurem Bruder im Amte, ...“ sie verstummte kurz und warf einen Blick an die Decke der Halle, „gesprochen habe“, schob sie summend und mit Bedacht nach. „Dies hat mir ein Bild vermittelt, das mich – ich gebe es unumwunden zu, Schwester – mit Sorge erfüllt. Mir wurde wiederholt berichtet, dass jener Bruder Hensgar in seinem neu geweihten Tempel predigt, die Kirche Rondras laufe Gefahr, der Häresie zu verfallen. Manche schworen gar, er habe den Rondraglauben an sich als irrigen bezeichnet.“
Alinja ließ diese Worte wirken, ehe sie zur Seite sah und Heliopais nun ihrerseits musterte. „Ich gebe weder etwas auf Gerüchte, noch auf Dinge, die in diversen Gazetten stehen. Doch wenn sich etwas wiederholt, gehe ich dem nach. Aus diesem Grund war ich in Salthel und was ich dort gehört und gesehen habe, hat nicht zu meiner Beruhigung beigetragen. Ich nehme an, Ihr wisst, was ich andeute?“
„Das ist kaum noch Andeutung zu nennen, Schwester. Aber ich denke kaum, dass ich Euch missverstehe und Ihr tut gut daran, Euch zu sorgen, ja sogar Euch zu erregen.“ Die Praiota blickte Alinja fest an, lächelte dann und machte eine ausholende Geste mit ihrem Sonnenszepter.
„Im unergründlichen Mysterium von Kha haben die Götter, Praios ihnen voran, das Weltengesetz festgelegt und damit die zwölfgöttliche Ordnung offenbart. Diese Ordnung ist wahrhaftig und trefflich gefügt – wir als Diener des Götterfürsten sind gesandt, diese Ordnung zu bewahren und daher sollten wir uns selbst auch in Wahrhaftigkeit üben. Jedem Menschen ist in dieser Ordnung ein Platz zugewiesen, zum Guten, wie auch zum Schlechten, denn die Götter prüfen uns und messen uns an unserer Seelenkraft. Leider vergisst das so mancher, selbst unter den Dienern der Zwölf, wenn es darum geht Macht zu erhalten.
Dabei tut Ihr gut daran, Schwester, Gerüchten keinen Glauben zu schenken, denn Gerüchte säen Zwietracht und diese dient nur dem, oder besser wohl den, Widersachern.“
Erneut blickte die Praioranerin die Rondrianerin an. „Lange Jahre habe ich der Gemeinschaft des Lichts als Inquisitorin gedient, um diese Ordnung zu verteidigen. Und ja, ...“ Heliopais blickte sich um und sah Lanzelind dabei an, „... auch ich habe dafür gesorgt das Ketzer und Häretiker auf dem Scheiterhaufen ihre Sünden büßen konnten.“ Sie wandte sich wieder um und redete weiter zu Alinja. „Es ist jedoch so, dass nicht die Kräuterfrau in einem Dorf die wirkliche Gefahr ist, nur weil sie dem Irrglauben anhängt, Satuaria sei ihre Erlöserin. Solange sie den Menschen hilft, hat auch sie ihren Platz und vermutlich wird Peraine sich ihrer erbarmen, wenn der Tag kommt, da sie durch Uthars Pforte tritt. Der wirkliche Feind hingegen ist der, der sich unter dem Deckmantel des Glaubens verbirgt um Böses zu tun, wir haben derlei bereits in Göttertrutz im Tobrischen erlebt, wie mir meine Schwester Rahjande von Weißensee kundtat. Und seht, seit Seine Eminenz Luceo Ihrer Erhabenheit Ayla den Schild der Heiligen Aldare überantwortete, um die Sünden unserer Gemeinschaft zu sühnen und ein Zeichen für die Zwölfeinigkeit zu setzen, spätestens seitdem sollte man wissen können, dass ein Geweihter niemals nur einem Gott alleine dient.“
Heliopais hielt inne und blickte Alinja eindringlich an: „Und da ich außerordentlich froh bin, dass der Schwertbund mit seinen Geweihten die Zwölfgöttliche Ordnung gegen die Schwarzen Schrecken verteidigt, wie seine Göttin die Zinnen von Alveran gegen das Dämonengeschmeiß, sprecht frei heraus, was Ihr von mir wünscht, dass ich tue, Schwester.“
Alinja sah Heliopais fest in die Augen, während der Rede der Praiota war ihre Augenbraue kurz nach oben geschnellt, hatte das Auge selbst neugierig gefunkelt, doch der Augenblick verging einer Sternschnuppe gleich. Das Schweigen dehnte sich, dann lächelte Alinja, nicht zurückhaltend wie sonst, sondern offen und sehr erfreut, ein wenig überrascht vielleicht.
„Andeutungen sind die Waffen meines Standes wohl nicht, hm?“, summte sie belustigt. „Mag aber auch daran liegen, dass das, was wir in Salthel erlebt haben, nichts mit Andeutungen gemein hatte, wenngleich Euer Bruder sich doch sehr bemühte, seine wahren Absichten und Gedanken vor mir zu verbergen. Ich sehe aber, dass Ihr sehr genau wisst, worum es hier geht und das ist mehr, als ich zu hoffen wagte. Was ich wünsche, dass Ihr tut?“
Alinja verhielt und warf Heliopais erneut einen langen Blick zu. „Ich maße mir nicht an, in der Halle des Götterfürsten Wünsche zu äußern.“ Die Schwertschwester sprach aufrichtig. „Eure Worte waren mir Geschenk genug, Schwester. Ich möchte Euch aber bitten, Euren Blick weiterhin wachsam auf die Sichelwacht zu richten, insbesondere auf den speziellen Custos Lumini über den wir hier sprechen. Die Kirche Rondras wird seine Reden – ob nun offen oder verhüllt – auch zukünftig nicht überhören und sehr aufmerksam lauschen. Hochwürden Hensgar hat sich mir gegenüber äußerst unhöflich verhalten, ich habe ihn gewarnt, dass er an meiner Ehre kratzt, eine weitere solche Warnung wird es nicht geben. Ich sage Euch das offen heraus und hoffe, dass die Zusammenarbeit unsrer beiden Kirchen gedeihlich und nicht von Verblendung überschattet sein wird. Mir ist sehr daran gelegen und das nicht nur als Legatin der Erhabenen und der Eminenz des Nordens. Die zwölfgöttliche Ordnung zu erhalten ist unser aller Ziel und zudem das Vordringlichste, sei der Feind nun der Schwarzpelz, der Rotpelz oder die Renegaten der Heptarchen. Die Vielzahl der Fronten sollten den Blick für das Wesentliche schärfen und ich hege die Hoffnung, dass sie das an den entscheidenden Stellen auch tut, dea gratia!“
„Ich fürchte allerdings“, ergriff die Custoda Lumini nun das Wort. „dass gerade die Vielzahl der Feinde und die Unmenge der Dinge die im Argen liegen, den Blick vieler trübt. Oder vielleicht sollte ich sagen, dass gerade in der verzweifelten Lage, in der sich die Gemeinschaft des Lichts befindet, durchaus jene Kräfte erstarken, die unzweifelhaft nicht in der Lage sind die Ordnung aufrecht zu erhalten, weil sie vom moralischen Aspekt der Ordnung, nämlich der Wahrhaftigkeit, wenig oder erschreckender gar nichts verstehen.“
Heliopais hielt inne und blickte zum Hochaltar hinüber, auf dem der Gott standhaft Wacht hielt. Dann wandte sie sich wieder an Alinja. „Die Hierarchie, die heilige Herrschaft, die Struktur der Gemeinschaft sind nachhaltig erschüttert. Überall rühren sich jene, die mit Wut im Herzen Ordnung halten wollen. Das geht nicht gegen Euch, Schwester, denn ich weiß, dass Rondra ihre Priester ebenfalls mit heißem Zorn ausstattet. Wut jedoch scheint mir ein schlechter Ratgeber zu sein, wenn man in Kopf und Herz des Menschen pflanzen will, was sie dazu bringt den Segen in der Zwölfgöttlichen Ordnung zu finden und diese dann zu leben. So mag ich kaum zu sagen, was oder wen sie mir als nächstes schicken. Seine Erhabene Weisheit ringt um den Weg, den unsere Kirche einzuschlagen hat und ich bete inständig um Erleuchtung, damit mein Weg weiter im Licht liegt.“
Alinja konnte erkennen, dass die Prätorin mit der ganzen Entwicklung nicht zufrieden war, sowohl ihre Körpersprache wie auch ihr Unterton verrieten Enttäuschung.
„Wisst Ihr, Schwester, es ist einfach mit Angst und Schrecken zu regieren. Viel schwieriger ist es mit Liebe und Wahrhaftigkeit die Herzen zu öffnen. Der Großinquisitor, ah, das wisst Ihr vielleicht noch nicht, Amando Laconda da Vanya wurde auf dieses Amt berufen, hat das trefflich erkannt; der Bannstrahl hingegen eher nicht. Aber er formt das Bild meiner Kirche in den Köpfen der vielen. Was Wunder, dass sich auch Geweihte dem Trug hingeben so ihren Auftrag erfüllen zu wollen. Ich werde versuchen ein genaues Auge auf das Wirken meines Amtsbruders zu haben, denn einen Schulterschluss, den die Frau von Schattengrund und der Herr de Ghuné getan haben, will ich nicht durch Eitelkeit und falsch verstandene Theologie gefährdet sehen. Allein, weiß ich momentan nicht, wie weit mein Einfluss reicht.“
Das Lächeln der Heliopais wurde schmerzlich: „Noch vor drei Jahren, da wäre es anders gewesen, da hätte ich auf die Macht der Sonnenlegion gezählt und solche Rede im Keim erstickt – o tempora, o mores.“
„Nun, Schwester, alle Kirchen, die in den letzten Jahren im Kampf gegen die mannigfaltigen Herausforderungen standen, haben inzwischen mit den Folgen zu kämpfen. Sicher hat es die Gemeinschaft des Lichts besonders hart getroffen. Ich sehe die Gefahren, die ihr ansprecht durchaus. Aber Krisenzeiten lassen oft das Beste zu Tage treten, viel öfter leider auch das Schlechte. Doch“, Alinja lächelte vielsagend, „einmal im Licht sind sie wenigstens greifbar. Es ist an Geweihten wie Euch, Eure Gemeinschaft zu formen, die Queste anzunehmen und zu meistern, auf das die Elemente von denen Ihr eben gesprochen habt niemals obsiegen. Wie sagte ihre Erhabenheit Ayla kürzlich bei der Zwölfgöttertjoste doch so trefflich: Unsere geringe Zahl gereicht uns zur Ehre. Nunmehr müssen wir Probleme wieder selbst lösen, können nicht in den nächsten größeren Tempel reiten und mit einer ganzen Lanze Geweihter zurückkehren, um der Verderbnis die Stirn zu bieten. Nein, jeder Geweihte ist heute auf sich selbst gestellt und daran wachsen wir, werden besser als je zuvor.“
Alinja sah Heliopais mit warmem Lächeln an. „Mir scheint, Praios- und Rondrakirche hatten nur selten so viel gemein. Und vielleicht ist es heute so, dass Ihr von uns lernen könnt, denn der Kampf gegen übermächtige Gegner ist unser Credo und noch immer gibt es uns, nur wenige zwar, aber nicht zu übersehen. Unser Zorn hilft uns dabei, denn wir streben von jeher die Meisterschaft darüber an. Wie ich diese Skutigera derzeit schule, wurde auch ich ausgebildet: Der Geist bestimmt über die Wut und über den Leib. Die Seele bestimmt, wann es geboten ist, dem Zorn die Herrschaft zu überlassen, weil es der Herrin Wille ist. So genutzt, ist Zorn ein mächtiger Verbündeter, dessen ich mich auch nicht schäme. Ihr, Schwester, braucht die Sonnenlegion nicht, um Macht auszuüben. Ihr habt Eure Zunge, Euren Verstand und – das wichtigste von allem – Euren Glauben. Was braucht es mehr um einem anmaßenden, verirrten Wicht die Stirn zu bieten und ihn auf seinen Platz zu verweisen? Ist es nicht schon mehr als genug, dass wir in dieser Sache an einem Strang ziehen? Hensgar isoliert sich selbst und ich denke, er wird es nicht wagen, seinen Bannstrahler auf vermeintliche Ketzer zu hetzen, denn wenn er es tut, werden wir über ihn kommen, wie der Donnersturm. Wir sind wenige, aber wir sind unser sehr gewiss.“
„Wir haben in der Tat einiges gemein; ich danke Euch für die freundlichen Worte, Hochwürden.“ Die Priesterin lächelte Alinja an. „Und in der Tat erfüllt das Wort meines Herrn mein Herz und meinen Geist mit lodernder Macht – daran können auch diejenigen nichts ändern, die ihre Beschränktheit derart laut hinausposaunen. Allein, ich denke, dass es angezeigt ist, dem Ordentlichen Inquisitionsrat der Weidenlande, Patras Welzelbogen, einen Brief zu schreiben, um den Verfall der Sitten anzumahnen. Immerhin ist ja die Herzogin per Kaiserspruch verpflichtet einen Inquisitionsturm zu unterhalten – und der Herr Welzelbogen ist ein sehr gewissenhafter Questor, da sollte man doch dieses Instrument auch nutzen, nicht wahr? Noch heute Abend werde ich einige Zeilen gen Trallop senden und Euch Kunde geben, wenn sich etwas tun sollte. Denn was wir, oder besser jene, deren Seelenheil wir zu retten angetreten sind, unter keinen Umständen brauchen, ist Zwist und Hader unter den Dienern der Zwölf. Das kann und darf nicht sein, denn die Zwölfe sind heilig und unteilbar!“
Heliopais hielt inne und blickte erst Lanzelind und dann Alinja an. „Würdet Ihr mir dennoch das Vergnügen bereiten ein Mahl mit mir und Olin, das ist mein Novize, zu teilen? Ich muss gerade feststellen, dass ich offenbar vergaß seit vorgestern etwas zu mir zu nehmen, und das rächt sich nun. Ein beständiger Geist ist zwar wichtig, aber man sollte auch seine Körperlichkeit nicht vergessen, eh?“
Alinja sann noch darüber nach, wie sie sich mit dem Gedanken anfreunden sollte, auf ihr Wirken hin einen Inquisitor in Marsch gesetzt zu wissen, da überraschte sie Heliopais mit ihrer unerwarteten Einladung. Sie blinzelte überrascht, lächelte aber sogleich freundlich und neigte das Haupt. „Wir danken Euch für die Einladung und nehmen sie gerne an, Hochwürden.“
Ein kurzer Seitenblick auf die junge Rauheneck offenbarte ihr zwar, dass Lanzelind dieser Einladung ganz sicher nicht ‘gerne’ folgen würde, aber Alinja ging darüber hinweg.
Es wurde Zeit, dass Lanzelind lernte zu differenzieren, ob es ihr nun gefiel, oder nicht.
Fantholi Nummer 30:
Getreue Feinde
Es gärt in der Sichelwacht! Die Kirchen, die in diesen unsicheren Zeiten vereint stehen und der Finsternis die Stirn bieten sollten, frönen stattdessen altem Hader. Kaum war der neue Custos Lumini Hensgar ‘Preisepraios’ von Waldenkamm zu Salthel eingesetzt, sandte er sein Credo schon lautstark in die Lande des Herzogtums, und er vergeudete keine Zeit mit Andeutungen oder subtilen Seitenhieben. Seinen Standpunkt legte er so eindeutig dar, dass nicht einmal gewohnheitsmäßige Mahner und Ruhestifter die Botschaft überhören konnten: Die Kirche Praios’ greift nun auch in Weiden nach dem ihr gebührenden Platz in der Zwölfengemeinschaft, der unangefochtenen Führung. Die Vorherrschaft des Rondrakultes in Weiden entfacht im Herzen seiner Hochwürden einen Zorn, der nicht anders als heilig – manche munkeln fanatisch – zu nennen ist. Worte wie ‘Irrglauben’ und ‘Häresie’, jeweils im Zusammenhang mit der Rolle des Schwertbundes in der Weidenschen Glaubenshierarchie genannt, machten die Runde und erhitzten so manches Gemüt.
Erwartungsgemäß reagierte die Kirche der Donnernden umgehend. Selbst erst seit wenigen Wochen zur Schwertschwester des Balihoer Rondratempels gesalbt, reiste Hochwürden Alinja Leuenklinge von Norburg höchstselbst nach Salthel. Offen, für jeden Tempelbesucher sicht- und hörbar, trafen die beiden Hochgeweihten vor dem Sonnenaltar aufeinander. Mühsam unterdrückte Wut und Geringschätzung auf Seiten des Praioten, trafen auf unnahbare Kälte und abwartende Beobachtung seitens der Rondrianerin. Voraussetzungen, die den Disput trotz offensichtlicher und beiderseitiger Geringschätzung überraschend ruhig und vor allem kurz hielten. Kaum ein Viertel Wassermaß Zeit nahm sich Hochwürden Leuenklinge, um Hochwürden Hensgar zu den Gerüchten zu befragen, wonach er den Rondraglauben an sich als Irrglaube bezeichnet und die Kirche Rondras gar der Häresie beschuldigt hatte. Beobachter berichteten verwundert von der anhaltenden Unhöflichkeit des Praiosgeweihten, die von der Rondrageweihten scheinbar gleichmütig hingenommen wurde. Ein Ergebnis scheint das Gespräch allerdings nicht gezeitigt zu haben. Zwar legte Hochwürden Hensgar seine Meinung zu den ominösen Gerüchten dar und stellte ausdrücklich fest, dass der Rondraglaube kein Irrweg sei, und dass er die Kirche der Leuin nicht der Häresie zeihe. Andeutungen von Tadel und Mahnung klangen jedoch überdeutlich aus seinen Worten und verhallten nicht ungehört, wohl aber unkommentiert.
Vor dem Sonnenaltar standen sich alte Feinde gegenüber und ihren artigen Worten zum Trotz, verständigte man sich auf einer anderen, wortlosen Ebene über die jeweilige Position und signalisierte zumindest wechselseitige Wachsamkeit. Getreu der Feindschaft, die die Kirchen des Götterfürsten und die der Alveransleuin seit den Tagen der Priesterkaiser trennt, scheint die Einigkeit der Kirchenoberen beider Kulte zwar Mahnung, aber leider kein Vorbild. Es wird weiterhin gemunkelt, die Balihoer Tempelvorsteherin habe unmittelbar nach ihrem Aufeinandertreffen mit Hensgar den Praiostempel in Anderath aufgesucht und dort ein langes Gespräch mit Hochwürden Heliopais, der Custoda Lumini der Goldenen Halle des Gesetzes zu Anderath, geführt, das einvernehmlicher verlaufen sein soll. Doch bleibt zu befürchten, dass die Positionen beider Kirchen zumindest in der Sichelwacht weiterhin verhärtet bleiben. (kr)