Tsalibert

Burg Urkenfurt, Baronie Urkentrutz, 4. Ingerimm 1044 


Die ganze Nacht hatte es gewittert. Nach den ersten warmen Tagen im Ingerimm waren dunkle Wolken aufgezogen, die sich nachts mit Blitz und Donner entluden. Ohrenbetäubende Donnerschläge und gleißend helle Blitze hatten die Schreie der in Wehen liegenden Ysilda begleitet. Es muss wohl so um die Hesindestunde gewesen sein, als ein besonders lauter Donnerschlag der Tsageweihten die notwendige Kraft verlieh das Kind aus ihrem Schoß direkt in Lyssandras Hände zu pressen. Die Baronin von Urkentrutz, selbst dreifache Mutter, hatte es sich nicht nehmen lassen gemeinsam mit ihrer Zofe Wigdis und der Köchin Dorntrud, die selbst schon zwei Kinder hatte, die Geburt zu begleiten.

Lyssandra begutachtete das noch mit weißer Käseschmiere bedeckte Baby, ob auch alles dran war. Dann gab sie den plärrenden, kleinen Jungen an Wigdis weiter, die ihn in ein Handtuch wickelte, während die Köchin bereit war, mit einem scharfen Messer die Nabelschnur zu durchtrennen. Kaum war das passiert und der laut und ausdauernd schreiende Wonneproppen versorgt und in eine Decke gehüllt, legte die Baronin ihn ihrer erschöpften Schwester in die Arme. 
Glücklich streichelte die Tsageweihte den brüllenden Jungen und schob ihm zunächst einfach den kleinen Finger in den Mund. Gestillt sollte er erst später werden, wenn sie die Plazenta geboren hatte. 

Nachdenklich betrachtete Lyssandra Mutter und Kind. „Hm, jetzt wäre es eigentlich an der Zeit, dass der Vater seinen Sohn vom Boden aufhebt und als seinen anerkennt... schade, dass es keinen Vater dazu gibt…“ 
Ysilda krümmte sich gerade unter einer Nachwehe und seufzte. „Natürlich gibt es einen Vater dazu“, presste sie schnaufend hervor. „Der kleine Mann hier ist ja nicht vom Himmel gefallen! Aber ich bin jetzt zu erschöpft um mit dir zu streiten. Wie wäre es, wenn du als älteste Schwester und Familienoberhaupt das Kind aufhebst?“ 
Lyssandra nickte. Sie legte den eingewickelten Jungen auf den Boden der Kammer in der ihre Schwester entbunden hatte. Dann stellte sie sich mit geöffneten Armen hin.
„Seht her, ihr Zwölfe und Tsa voran! Ich, Lyssandra von Finsterborn, als Familienoberhaupt der Finsterborns nehme hiermit dieses Kind meiner Schwester Ysilda, das auf Burg Urkenfurt geboren wurde, als jüngstes Mitglied der Familie von Finsterborn auf. Mögen die Götter immer mit mildem Lächeln auf dich blicken und dir ihren Segen spenden, …“ Sie blickte ihre Schwester ratlos an. „… äh, wie soll er denn heißen?“ 
„Tsalibert!“, erwiderte Ysilda stolz. 
… nun denn, Tsalibert von Finsterborn! Mögen die Allgebende und ihre göttlichen Geschwister dich segnen!“ 

Wie zur Bekräftigung begann der kleine Junge erneut lautstark zu weinen. Lyssandra hob ihn auf und hielt ihn stolz in die Luft. Dann trat sie an das weit geöffnete Fenster und hielt den brüllenden Säugling in die Richtung des wolkenverhangenen Morgenhimmels. In der Ferne konnte man im Licht eines zuckenden Blitzes die Silhouette des Finsterkamms erkennen.
„Seht her, ihr Orks, Goblins und andere Feinde von Urkentrutz! Nehmt Euch in Acht, eine neue Klinge wurde für Weiden geboren!“, schrie Lyssandra von Finsterborn in das tiefe Grollen eines rollenden Donners und mit ihr brüllte Tsalibert sich die Seele aus dem Leib. 
Mit liebevollem Lächeln drückte die Baronin den jüngsten Spross der Familie Finsterborn an ihr Herz. „Ja, schrei nur kräftig, Tsalibert! Lass die Orks wissen, dass du nichts und niemanden fürchtest, wie ein echter Finsterborn!“ 
Als sie sich umdrehte, musste sie den entrüsteten Blick Ysildas ertragen.
„Lyssandra! Lass das bleiben, bei Tsa! Tsalibert wird mit Sicherheit kein Schwert führen! Er ist ein Kind der Friedfertigen! Niemals wird er Krieg führen und töten!“ 
Achselzuckend brachte Lyssandra ihrer Schwester den Säugling. „Wie auch immer, kräftig genug ist er und wenn er die Orks so anbrüllt wie mich eben, weichen die vor Ehrfucht ohnehin zurück. Da muss er nicht mal ein Schwert führen.“  
Nun musste Ysilda wieder lächeln. Voller Mutterglück in den Augen schloss sie den kleine Tsalibert in die zarten Arme und versuchte ihn zu beruhigen.
„Oh ja, ein kräftiges Stimmchen hat er tatsächlich… hi, hi, ganz wie sein Vater…“