Festwoche zur Gründung des Therbûnitenklosters „Beonslob“
Baronie Urkentrutz, Burg Urkenfurt, Anfang Peraine 1044
1. Tag, Perainetag, 1. Peraine 1044 BF
Lyssandra von Finsterborn, die Baronin von Urkentrutz, hatte zu Ehren der Klosterneugründung des Thêrbunitenklosters „Beonslob“ in der Nähe von Urkenfurt eine Festwoche ausgerufen. Die Kunde ging in die gesamte Baronie und auch darüber hinaus an Freunde und Verwandte, sowie die geschätzten weltlichen und kirchlichen Führer. Die Festlichkeiten sollten am 1. Peraine, dem Festtag der Gebenden Göttin, mit einem Göttinnendienst und einer feierlichen Prozession beginnen. Alle Burgbewohner und auch die Urkenfurter selbst hatten fleißig bei den Vorbereitungen geholfen. Ein Hochgefühl ging durch die Einwohnerschaft des Hauptortes der Baronie. Schließlich gab es nun endlich wieder Geweihte im Ort oder zumindest fußläufiger Nähe.
Seit ein paar Götterläufen war der Traviatempel des Ortes, der „Herd der Großen Mutter“ genannt wurde, verwaist. Ein reisender Geweihter, Bruder Domarion, kümmerte sich um ihn, wenn er auf seinen Reisen für ein paar Wochen dort Quartier bezog, und hielt dann auch ein paar Göttinnendienste dort ab. Doch das war den Urkenfurtern zu wenig. Sie wollten dauerhaft einen oder am liebsten mehrere Geweihte in ihrer Nähe wissen, zu denen sie mit ihren Sorgen und Nöten, aber auch mit dem Wunsch nach den üblichen Segen für wichtige Lebensereignisse gehen konnten.
Nun endlich würde es sogar eine ganze Klostergemeinschaft in der Nähe geben. Dass dies gerade die Beoniter genannten Weidener Thêrbuniten waren freute die Menschen besonders, wie man vernehmen konnte, wenn man mit ihnen ins Gespräch kam. Denn die Themen Gesundheit und Ackerbau lagen den Urkentrutzern von jeher am Herzen. Somit taten sie ihrer Baronin gerne den Gefallen für das große Gründungsfest einiges an Fronarbeit zu leisten und auch aus ihren Vorräten das ein oder andere für die Verköstigung der zu erwartenden Gäste beizusteuern.
Das Wetter am ersten Tag der Feierlichkeiten bereitete Lyssandra Sorgen. Es hatte am Vortag noch geregnet und die Böden und Wege waren noch nass, doch zum Glück hatte der aufkommende Wind Lücken in die Wolkendecke gerissen. Efferds Segen war versiegt und ab und an ließ der Götterfürst seine wärmenden Strahlen durch den blau-grauen Wolkenteppich auf die Urkenfurter scheinen. Mit etwas Glück würden sie bei der Prozession nicht im Regen laufen müssen. Die ein oder andere Pfütze würde jedoch umschifft werden müssen.
Der Burghof war gefüllt mit geladenen Gästen, Burgbewohnern und den Hauptpersonen der Festwoche, den Beonitern. Entlang der Burgmauer, vor allem aber über dem Burgtor, flatterten grüne Banner mit dem Zeichen der Ähre und auch der Prozessionswagen, der im Burghof bereitstand, um die Holzbildnisse der Peraine und des Heiligen Beon aufzunehmen, war reich geschmückt. Beide Bildwerke stammten aus der Werkstatt des berühmten Balsaiter Holzbildhauers Torben Traviatreu. Grüne Stoffschabracken mit Ähren oder dem Storch darauf und Girlanden aus Ähren und Blumen zierten die Seiten des Karrens. Ein grüner Baldachin sollte die Kunstwerke später vor den Witterungseinflüssen schützen. Der Zugochse, der dem Wagen vorgespannt war, trug einen Blumenschmuck zwischen den Hörnern. Sein Fell war gewaschen und glänzend gestriegelt worden.
Unter dem vielen Grün stach die weiß-blaue Festrobe der Baronin deutlich heraus. Lyssandra von Finsterborn hatte es sich nicht nehmen lassen, dem Festakt in den Wappenfarben der Baronie beizuwohnen. Den Baronsreif hatte Tochter Eylin mit einem Blumenkranz aus Gänseblümchen, Anemonen und Schlüsselblumen umflochten und auch sie selbst trug einen solchen Blumenkranz auf dem blonden Haar. Das jüngste der Kinder Lyssandras steckte in einem lindgrünen Trägerkleid, dem man aus hauchfeinem Bausch weiße Ärmel angesetzt hatte, die im frischen Perainewind flatterten. Minerva, die Älteste und damit Thronerbin, war als Knappin des Dienstritters Oberon von Uhlredder mit dem Urkentrutzer Wappenrock bekleidet. Die hatte sich energisch gegen den Blumenkranz gewehrt, den ihre jüngere Schwester ihr auf die braunen Locken drücken wollte. Also hatte Eylin ihn an ihre Kusine Saria weitergereicht, die sich sichtlich darüber freute. Überhaupt war die gesamte Familie von Finsterborn vertreten. Aus der Schwarzen Au war Lyssandas Bruder Horatio mit seiner Familie angereist und auch ihre jüngste Schwester, die Tsageweihte Tsafira, nahm hochschwanger an den Feierlichkeiten teil. Sie war in ein regenbogenbuntes, weites Kleid gewandet, das den Schwangerenbauch leidlich kaschierte.
Die kleine Burgkapelle konnte nicht allen Versammelten Platz bieten und so hatte man sich entschieden, dass außer der Baronsfamilie nur die hochrangigsten Gäste dem Göttinnendienst direkt beiwohnen würden. Man hielt die Flügeltüre jedoch geöffnet, so dass zumindest diejenigen, die nah genug herangetreten waren, die heiligen Handlungen verfolgen konnten. Begleitet von einem „Lobpreis der Gütigen Peraine“ übernahm Lyssandra die Führung in die Kapelle, gefolgt von ihren Kindern Minerva und Eylin, ihrer Schwester und ihrem Bruder nebst Gemahlin und Kindern, sowie den Dienstrittern und den wichtigsten Gästen. Als alle in den Bänken Platz genommen hatten, begann Vater Erlmund, die Geweihtenschaft anführend, mit dem Einzug in die Kapelle. Den Beonsstab mit den reichen Verzierungen fest im Griff stieg er die zwei Steinstufen zum Portal hinauf, das rechts und links mit Weidenkätzchen, Tulpen und Narzissensträußen geschmückt war. Ihm folgte Schwester Gwiniwen, die Kalebasse und Tonschale trug, und die Akoluthen Wibert, Weilinde und Reitho mit ihren Kindern. Jeder von ihnen trug ein Symbol der Göttin. Ährenbündel, Lauchstangen, Büschel aus frischem Zwiebel- und Knoblauchkraut und eine Schale mit getrockneten Apfel- und Arangenscheiben.
Die Burgkapelle war recht schmucklos gestaltet. Der einfache Natursteinbau, der nur an der Außenseite gekalkt war, innen aber die Steine zeigte, war bekrönt von einem offenen Dachstuhl mit dunklem Holzgebälk und einem Holzschindeldach. Die Kapelle war der Peraine geweiht, verfügte aber schon seit ihrer Vorgängerin auf dem Baronsthron auch über einen Rondraaltar auf der linken und seit ein paar Wochen auch über ein hübsches Eidechsenmosaik auf der rechten Langseite. Dieses hatte ihre Schwester Ysilda angefertigt und es dann, in ihrer Funktion als Dienerin der Eidechse, auch der Göttin Tsa geweiht.
Die Göttin Peraine wurde auf dem Altar der Kappelle durch ein einfaches Holzstandbild eines längst verstorbenen Künstlers geehrt. Eine ungleich schönere Statue hatte Lyssandra bei ihrem Besuch in Balsaith bei dem berühmten Holzbildhauer Torben Traviatreu für das neu zu gründende Kloster anfertigen lassen. Sie würde gemeinsam mit einer weiteren Holzschnitzarbeit aus derselben Werkstatt, die den an einen Obstkorb lehnenden Beonsstab zeigte, anschließend in einer Prozession in die neue Klosterzelle überführt werden. Lyssandra liebte dieses schlichte Kunstwerk aus Lindenholz, das in dem naturalistisch gearbeiteten Korb, dessen Flechtwerk fein ausgestaltet war, Äpfel, Birnen und diverse Beeren zeigte. Diese wirkten so echt, dass man Lust bekam sie herauszunehmen, um sie zu verspeisen.
Im Gegensatz dazu war die Statue der Peraine nach dem Schnitzen noch farbenprächtig bemalt worden. Die Göttin hatte Torben Traviatreu als zarte, junge Frau mit einer Haube dargestellt. Ihre verträumte Miene ließ sie fast wie ein Bauernmädchen wirken. An der Kleidung konnte man jedoch erkennen, dass es sich bei der Dargestellten um eine „Herrin“ handelte. Sie trug eine langärmliche nachtblaue Tunika und einen langen, roten Mantel, der auf der Innenseite golden glänzte. In ihrem Mantelbauch hielt sie diverse Früchte und Kräuter geborgen.
Als das Loblied auf Peraine endete hatten alle Geweihten ihr Position erreicht. Erlmund Rossegger stand vor dem Altar, den Blick auf die Gläubigen in und außerhalb der Kapelle gerichtet. Schwester Gwiniwen hielt sich zu seiner Rechten neben dem Altar, Bruder Reitho zur Linken. Die anderen Akoluthen und die Kinder verteilten sich an den Wänden.
Der „Hüter der Saat“ betete inbrünstig um den Segen der Göttin für die neuen Kunstwerke, die auf der Prozession nach Beonslob geführt werden sollten, und für die neue Klostergemeinschaft, die er führen sollte. Schwester Gwiniwen versprengte gesegnetes Wasser über die Holzbildnisse, den Altar und die Gäste in den vorderen Reihen. Dann lud Vater Erlmund alle ein der Göttin auf dem Altar ein Opfer zu bringen und schickte die Kinder Hayassa und Rudbart mit Körben durch die Reihen, aus denen sich jeder bedienen konnte um den Altar zu schmücken: frische Blumen, getrocknetes Obst, Zwiebeln, Lauch oder Knoblauch oder eines der Ährengebinde, die er und seine Geweihten in den Tagen zuvor gefertigt hatten. Vater Erlmund selbst ging mit gutem Beispiel voran und verließ dann die Kapelle, um die Prozession anzuführen.
Oberon und Danje von Uhlredder mochten keinen großen Anhänger Peraines sein, doch waren sie beide überzeugt von ihrer Wichtigkeit für das Leben aller Menschen. Grob zusammengefasst kam niemand ohne Heilkunde und Ackerbau aus. Nichts zuletzt deshalb nahmen sie sich jeder ein Stück getrocknetes Obst, legten es auf dem Altar als sie an der Reihe waren und sprachen beide ein kurzes Gebet.
Während die Gläubigen der Gütigen opferten und sich dann ebenfalls nach draußen begaben, ergriffen Wibert und Reitho die Holzbildnisse und trugen sie ins Freie. Unter dem Jubel der Zuschauer im Burghof wurden die Standbilder auf den Prozessionswagen gehoben und mit Girlanden geschmückt. Der zukünftige Abt sprach ein Gebet, segnete den Wagen und gab dann das Zeichen zum Abmarsch. Akoluth Wibert trug das Banner Peraines voraus. Ihm folgten Vater Erlmund und Mutter Gwiniwen und Weilind mit den beiden Kindern. Raitho führte den Ochsen, der den Wagen mit der kostbaren Fracht zog. Singend und betend folgten die Adeligen unter der Führung der Baronin und das Volk, das den Umzug „der Göttin“ und „des Heiligen“ begleiten wollten.
Der gesamte Weg bis zu dem Gutshof, der nun das neue Zuhause der Beoniter war und die Keimzelle des Klosters Beonslob darstellte, war gesäumt von jubelnden Urkentrutzern. Natürlich machte man dem Prozessionszug Platz, dennoch kam der Ochsenkarren mit den beiden Holzbildwerken nur langsam voran. Als sie sich dem Klosterareal näherten, erkannten die Ankommenden, dass die Wiesen und Weiden um das Thêrbunitenklosters als Lagerplätze und Festwiese ausgestaltet waren. Zelte und einfache Unterstände boten Übernachtungsmöglichkeiten, auf den Weiden grasten Zugtiere und eine Wiese war als Festwiese geschmückt. Dort gab es neben einem großen Festzelt mehrere Bretterbuden und Verkaufswagen sowie ein kleines, handbetriebenes Karussell und weitere Spielmöglichkeiten für die Kinder.
Nicht nur Danje und Oberon sahen sich kurz an als sie die Festwiese erblickten. Der Blick der beiden drückte Freude über das Heute und das Zukünftige aus, was mit dem Umzug und der Festwiese entstehen würde. Es gab so viel am Leben in der rauen Mittnacht, was das Leben hart und entbehrungsreich machte. Umso wichtiger waren dann Ereignisse und Gelegenheiten wie heute. Ob Lyssandra das gerade auch so sah war fraglich, aber das Dienstritterpärchen nickte seiner Herrin und Freundin zu. Diese Zustimmung sollte wohl so etwas ausdrücken wie `Gut gemacht´ oder `Toller Beginn deiner Herrschaft´!
Doch bevor gefeiert werden konnte stand zunächst der Einzug der Göttin und ihres Heiligen an. Das gesamte Klosterareal war mit Blumengirlanden geschmückt und es wehten die Banner der gütigen Peraine. Unter dem Lobgesang der Beoniter hoben die Akoluthen die beiden Holzbildnisse vom Wagen und trugen sie in die kleine Bethalle. In den vergangenen Tagen hatte man sie vorbereitet. Der Boden war gefegt, aus Brettern und Baumstammscheiben waren einfache Bänke und ein Altar hergestellt worden. Die Wand hinter dem Altar zierte ein riesiger Ährenkranz und ein schön geschnitzter Wanderstab, wie er typisch für die Geweihten war, die sich dem Heiligen Beon verschrieben hatten. Am Portal des Tempels stand Schwester Gwiniwen und segnete die Eintretenden. Auch zu diesem Göttinnendienst waren nur wenige Gäste geladen. Die meisten Gläubigen würden die Bethalle erst nach dem Göttinnendienst betreten können.
Vater Erlmund wirkte sehr zufrieden als er vor die versammelte Gemeinde trat, die Holzskulpturen in ihrem neuen Heim segnete und der Gütigen für die neue Aufgabe dankte. Sein Dank ging auch explizit an die Baronin von Urkentrutz für die großzügige Unterstützung des Ordens und die beiden Mutterklöster für die Freigabe der Götterdiener. Dann machte er eine bedeutsame Pause, bevor er mit der eignetlichen Predigt begann.
Der „Hüter der Saat“ erzählte nun vom Leben des Heiligen Beon, davon wie der Sohn einfacher Bauern aus Havena schon früh von den Geweihten der Peraine lernte Heilsalben und -tränke für die Kran¬ken und Siechen herzustellen und sich befleißigte mehr über die gesundheits¬för¬dern¬de Wirkung von allerlei Rübenarten zu erfahren. Als eines Tages jedoch sein eigener Bruder schwer an einer seltenen Form des Brabaker Schweiß erkrankte und nichts und niemand ihm helfen konnte, setzte Beon in seiner Verzweiflung alles daran, ein Heilmittel gegen das Sumpffieber zu finden. Vergeblich. Der geliebte Bruder starb an dem Sumpffieber. In tiefer Trauer beschloss Beon selbst Perainegeweihter zu werden, um fortan sein Leben der Erforschung der heilenden Wirkung von Kräutern und Feldfrüchten zu widmen. Einer Vision der Gütigen folgend ging er nach Trallop und bat um Aufnahme in den Orden der Therbûniten, der in der Herzogenstadt bereits seit vielen Jahrhunderten ein Kloster unterhält. Beons besonderes Interesse galt einem der größten Sümpfe Aventuriens, dem Nebelmoor. Ohne Scheu vor den Gefahren des Moors unternahm Beon viele beschwerliche Wanderungen, um seltene Heilkräuter aufzuspüren, mit denen er das Sumpffieber und andere Krankheiten wirksamer bekämpfen wollte.
Der Abt des neugegründeten Klosters sah in die Runde.
„Nun, liebe Urkentrutzer, die Gebende hat eure Baronie wahrlich gesegnet. Anders als Beonfirn und Beonsquell, die beide durch die Sümpfe des Neunaugensees geprägt sind, verfügt Urkentrutz nicht über Sumpfland, aber doch über eine Vielzahl an Bächen und feuchten Flussauen. Womöglich gibt es hier noch Pflanzen, deren Heilkraft wir noch nicht untersucht haben. Dazu ist der uns überantwortete Grund gutes Ackerland, das es uns ermöglichen wird, unsere Forschungen bezüglich der Heilwirkungen von Rüben aller Art zu vertiefen. Wir hoffen bald einen Kräuter- und Gemüsegarten anlegen zu können und unseren Heilkräutervorrat zu ergänzen. Schwester Gwiniwen, die mir vom Kloster Beonsquell zur Seite gegeben wurde, versteht sich ganz vorzüglich auf das Bereiten von Salben, Tinkturen und Tränken. Sie führte bereits in Beonsquell die Klosterapotheke und wird ihr hier in Beonslob vorstehen. Die Ehrwürdige Mutter Oleana hat ihr dafür alles Notwendige mitgegeben. Ich darf im Namen aller Diener des Heiligen Thêrbun sprechen, dass wir uns sehr darauf freuen, allen Urkentrutzern mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.“
Er bedachte Gwiniwen mit einem dankbaren Lächeln und bat dann die Gemeinde mit ihm ein Lied zu Ehren Peraines anzustimmen. Mit diesem und einem abschließenden Gebet und Segen entließ Vater Erlmund die Göttinnendienstbesucher zu den Festständen.
Oberon war es schließlich, als klar war, dass nun der Festteil des Tages beginnen würde, der mit mehreren, deutlichen „HOCH!“-Rufen den feierlichen Teil beendete. Spätestens beim zweiten oder dritten „HOCH!“, stimmten dann auch die meisten Anwesenden ein.
Noch ehe Lyssandra mäßigend auf ihre Töchter, den Pagen und die Knappin einwirkten konnte, waren diese bereits draußen und unter lautem Jubel auf dem schnellsten Weg zur Festwiese. Die Baronin seufzte und nahm sich vor in den kommenden Tagen einige ernste Worte an die Heranwachsenden zu richten. Sie vergaßen nicht nur ihren Stand, sondern ebenso ihre Aufgaben! Das musste gemaßregelt werden! Doch für heute wollte die Finsterbornerin es gut sein lassen. Sie ließ sich von ihrer Magd Wigdis, die sie begleitete, etwas von dem Spanferkel bringen, das über Holzfeuer geröstet worden war, und bat Oberon, der sich für Danja und sich selbst beim Schankzelt anstellte, ihr einen Humpen Bier mitzubringen. Lyssandra sah sich um. Die Stimmung rund um das neugegründete Kloster und auf den Festwiesen war gelöst. Die Urkentrutzer feierten die Ankunft der Perainegeweihten.
Nachdem sie und ihre Begleiter sich gesättigt hatten, flanierte die Baronin mit ihren Geschwistern Horatio und Tsafira, sowie ihren Dienstrittern Oberon und Danje über die Festwiesen, begutachtete die Waren der Händler und der lokalen Handwerker, die ihre Stände aufgebaut hatten oder vom Wagen weg verkauften. Sie schmunzelte über die Kinder, die sich am Karussell anstellten oder auf der aus Strohballen gebauten Burg tobten.
Nachdem sie ihre Runde über die Festwiese vollendet hatten, wandte sich die Baronin an Danje und Oberon. „Was denkt ihr beiden? Sollten wir nun jeden Götterlauf so ein schönes Fest feiern? So eine Klostergründung bietet sich doch trefflich an, um ein regelmäßiges Fest und einen Markt zu veranstalten, nicht wahr?“
Oberon sah kurz Danje an und beide mussten breit grinsen.
„Wir beide hatten bereits genau den gleichen Gedanken und schon überlegt wie wir dich, wenn du anderer Meinung gewesen wärst, davon überzeugen könnten. Aber wie man sieht braucht es da gar keine Überzeugungsarbeit. Schon während des Zuges und noch vor dem Göttinnendienst im Kloster haben wir beide uns ausgetauscht wie gut dieses Fest den Urkentrutzern tut!“
Die Baronin lächelte. Es tat gut von Oberon und Danje diese Bestätigung zu erfahren. Ja, auch sie spürte wie gut ein solches Fest tat. Es verband, schuf eine Gemeinschaft und belohnte die hart arbeitenden Urkentrutzer. Sie würde am letzten Festtag kundtun, dass es zukünftig jedes Jahr zwei Festtage geben sollte, den 1. und den 5. Peraine. Diese Festtage sollten die drei Tage einrahmen, an denen von allen Urkentrutzern Frondienste für die Gemeinschaft geleistet werden sollten. Während dieser insgesamt Tage blieben die Marktstände und Zelte aufgebaut, so dass sich jeder, der Bedarf hatte, nach getaner Arbeit mit dem Gewünschten eindecken konnte. Am 5. Peraine, dem „Beonstag“, würde zukünftig eine Prozession von der Burgkapelle in Urkenfurt zum Kloster Beonslob und anschließend dort ein großer Götterdienst mit anschließendem Fest stattfinden.
In den kommenden drei Tagen hatten die Urkentrutzer Gelegenheit sich auf der Festwiese bei Speis und Trank, Musik, Gaukelei und Schauspiel zu vergnügen. Außerdem boten Händler und Handwerker, die aus allen Regionen der Baronie angereist waren, ihre Erzeugnisse an einfachen Ständen oder von ihren Karren oder Verkaufswagen feil. Das Wetter war kühl und windig, aber immerhin trocken. Die Baronin ließ es sich nicht nehmen an einem der Jahrmarktstage das Angebot zu begutachten. Neben den Bauern, die eingemachtes Obst und Gemüse, Most und Beerenwein verkauften, gab es auch Korbflechter, die aus den Weidenruten und Binsen, die in den Flussauen wuchsen, allerlei Gebrauchsgüter, Körbe, Truhen und sogar Hocker und Stühle herstellten. Lyssandra erstand einen Schaukelstuhl für ihre Kemenate und ein paar Körbe und Untersetzter für die Köchin Dorntrud. Carissima von Binsböckel hatte einen besonders großen Verkaufswagen zum Festplatz geschickt, der die Stoffe und gewebte Borten aus den Weilern Queckingen und Kardenbrache darbot. Das Angebot reichte von einfachen Hanf- und Leinenstoffen für den Gebrauch auf dem Hof und im Haushalt, über einfarbige Stoffe, die mit Pflanzenfarben gefärbt worden waren, „Queckinger Kram“ genannt, bis zu aufwändiger gewebten Stoffen mit Streifen- oder Karomustern. Diese schmückten sich mit dem Namen „Hollergrunder Linnen“.
Auch wenn sich die Stoffe der Urkentrutzer nicht mit dem feinen Zwirn des südlichen Provinzen Aventuriens vergleichen ließen, so konnte man doch die Handwerkskunst und den Fleiß der einfachen Bauern erkennen, die die langen, kalten Winter dazu nutzten, die Hanf- und Leinenfasern zu kardieren, zu verspinnen und zu Tuchen zu weben.
An einem Wagen, der einige Fässer geladen hatte, ließ sich die Baronin einen „Queckinger Rachenputzer“ in eine Tonflasche abfüllen. Der Wachholderschnaps aus der Heide rund um den Weiler Queckingen war ein beliebter Verdauungshelfer auf Burg Urkenfurt. Wenn Dorntrud mal wieder deftig gekocht hatte, gönnten sich Oberon, Danje und sie selbst gerne mal einen „Queckinger Rachenputzer“.
Lyssandra sah noch weitere Besonderheiten aus ihrer Baronie. Töpferwaren aus den südlichen Teilen der Baronie, an deren Bächen und Flüssen Tonerde gewonnen werden konnte, Waldhonig aus Farnbrunn, Heidehonig aus Hollergrund und Obstblütenhonig aus der Schwarzen Au und dem Baronsland rund um Urkenfurt. Dazu beeindruckte die Baronin ein Stand mit den eindrucksvollen Wurzelholzschnitzereien aus Oberwaldig. Ein altes Männlein saß dort auf einem Hocker, eine verrückt verwachsene Wurzel auf dem Schoß, und schnitzte einen Zwerg aus ihr heraus. Als wenn er gewusst hätte, dass der Sohn Angroschs dort drin verborgen gewesen war! Die Finsterbornerin blieb lange stehen und bewunderte die Handwerkskunst. Am Ende erstand sie den Zwerg, dessen Haar und Bart durch die wilde Maserung des Wurzelholzes so lebendig wirkten, als würde er leibhaftig aus dem Holz steigen. Sie ließ sich den Namen des Künstlers nennen: Friedemut Wolfenskehl aus Oberwaldig. Lyssandras Knapppin Erlind musste die sperrige Skulptur schleppen. Sie sah alles andere als glücklich darüber aus. Dafür trug der kleine Meinhardt den Tonkrug mit dem „Queckinger Rachenputzer“.
Auch Danje Uhlredder hatte sehr lange an dem Stand von Friedemut gestanden. Er hatte eine Eule aus einem anderen Stück Wurzelholz gemacht bei der Danje auf den ersten Blick gedacht hatte, sie wäre echt und lebendig gewesen. Sie hatte ob des Preises lange mit sich gerungen, die Eule aber dann doch entstanden. So bald wie möglich würde sie das Stück ihrem ältesten Sohn zum Geschenk machen, der nun an ihrer und Oberons statt das Familiengut Stegelsche führte.
Als sie alle Stände abgeklappert und mit den meisten Händlern und Handwerkern ein paar Sätze gewechselt hatten, hielt Lyssandra Ausschau nach einem Platz unter dem Zeltdach, um sich zu stärken. Feuerstellen boten die Möglichkeit sich ein wenig zu wärmen. Sie bat Erlind ihr eine Suppe von einer der Garküchen zu holen und sich auch eine Schale zu holen, wenn sie wollte. Meinhardt sollte die Getränke kaufen und sich danach auch eine Suppe holen.
Wenig später erschien Erlind mit einer dampfenden Gemüsesuppe über die man eine dicke Scheibe Emmerbrot gelegt hatte. Mit einem genuschelten Dank an ihre Knappin ließ sich die Baronin die Suppe schmecken. Eine wohlige Wärme breitete sich in ihrem Magen aus. Zufrieden blickte Lyssandra über den Festplatz und die Marktstände. So etwas hatte man in Urkentrutz bisher vermisst. In Urkenfurt, Urken und der schwarzen Au gab es wenigstens einen Krämerladen, aber die kleineren Ortschaften hatten keine lokale Versorgungseinrichtung. Sie konnten nur untereinander tauschen oder bei einem der Kiepenkerle kaufen, die ab und an durch die Baronie wanderten. Ein solcher Jahrmarkt bot endlich einmal die Möglichkeit, dass Händler, Bauern und Handwerker ihre Produkte anboten und auch, dass man sich mit Dingen eindecken konnte, die man vor Ort womöglich nicht bekam. Nicht jeder konnte in die großen Städte, nach Baliho oder Trallop, wandern. Lyssandra war überzeugt davon, dass ein Jahrmarkt diese Lücke schließen und auch das Miteinander in der Baronie fördern würde. Kombiniert mit mehrtägiger Fronarbeit für die Dorfgemeinschaft würde der Markt zur Erbauung der hart arbeitenden Bevölkerung beitragen. Mit der Veranstaltung zu Ehren des Heiligen Beons konnte man die Volksfrömmigkeit, die gemeinschaftliche Fronarbeit und gleichzeitig die lokalen Handwerker unterstützen. 5. Tag: Tag des Heiligen Beon (Beonstag)
Der fünfte Tag des Monats Peraine war dem Weidener Tagesheiligen Beon von Havena gewidmet. Das Fest stand also ganz im Zeichen des Heiligen. Es begann zur Perainestunde mit einem Götterdienst im frisch eingesegnetem und festlich geschmückten Bethaus. Vater Erlmund pries den unermüdlichen Eifer des Heiligen Beon aus Havena bei der Suche nach einem geeigneten Heilmittel gegen Sumpffieber wie den Brabaker Schweiß aber auch andere Krankheiten. So dozierte er, dass diese Bemühungen Früchte getragen hatten und in Form der berühmten Salbe aus Donf und Traschbart nun ein Heilmittel zur Verfügung stand. Der Hüter der Saat hob hervor, dass der Heilige damit den heutigen Thêrbunitenbrüdern und –schwestern ein Vorbild war, sie zudem seine Forschungen über heilsame Zubereitungen von Rüben fortführten und darüber hinaus auch andere Feldfrüchte auf ihre Heilwirkungen untersuchten. Der Abt erinnerte daran, dass die strebsamen Beoniter bei ihrer Heiltätigkeit festgestellt hatten, dass die weiße Rübe bei Lebererkrankungen gute Dienste leistete, während die rote Rübe Blutarmut beseitigen konnte. Mit einem Gebet an den Heiligen Thêrbun und einem Lobgesang auf die Gebende Göttin Peraine ging der Götterdienst zu Ende.
Auf der Festwiese angekommen stellten die Besucher fest, dass auch in den Garküchen an diesem Tag dem Heiligen gehuldigt wurde, indem man Rübengerichte aller Art zubereitete.
Es gab Rübeneintopf aus Urkentrutzer Stoppelrübe, Pastinake und Karotten, panierte Rübenschnitzel, diverse Gerichte aus tiefroten Rüben, aus denen man eine blutrote Suppe, ein ebenso tiefrotes Eintopfgericht, einen purpurfarbenen Salat und schließlich das Hollergrunder Blutbrot, einem Emmerbrot, das mit etwas Mus und Saft der roten Rüben eingefärbt war, herstellte.
Natürlich gab es auch sehr schmackhafte rote und weiße Limonade aus Rübensirup, den man in Urkentrutz ebenso herstellte wie in der benachbarten Markgrafschaft den berühmten Greifenfurter Goldsaft. Vielleicht hatte er nicht ganz das Aroma wie die berühmte Spezialität aus Greifenfurt, war aber bei den Ortsansässigen äußerst beliebt.
Besonders Oberon war ein sehr großer Verehrer und Genießer des Greifenfurter Goldsaftes. Wobei er freilich aufgrund des Inhaltes seiner Geldkatze in der Regel nur den heimischen Rübensirup verspeiste.
Am Nachmittag sorgten allerlei Spiele für die Belustigung der Besucher. Für besonders gute Stimmung sorgte das vom Abt ersonnene „Beonsturney“. Dabei traten immer zwei Gegner gegeneinander an. Sie versuchten mit einem Beonsstab, dem reich geschnitzten Wanderstab der Geweihten, eine Rübe auf einem abgesteckten Spielfeld in die für diesen Spieler markierte Ecke zu bugsieren. Unter lautstarken Anfeuerungsrufen und großem Jubel versuchte die ansässige Bauernjugend ihr Können unter Beweis zu stellen. Das größte Gelächter erntete die Paarung Vater Erlmund gegen Schwester Gwiniwen. Mit wehenden grünen Roben kämpften die beiden Perainediener um die Rübe. Als Sieger galt wer zuerst 10 „Ecken“ für sich zählen konnte. Mit einem Vorsprung von 3 „Ecken“ gewann Schwester Gwiniwen dieses Duell. Den Gesamtsieg des Turneys konnte eine junge Schweinehirtin für sich verbuchen.
Für nicht so flinke Festbesucher gab es noch eine weitere Attraktion: das „Beonsrüben rollen“. Dabei traten zwei Mannschaften von jeweils 3 Spielern gegeneinander an. Die eine rollte drei rote Rüben, die andere drei weiße eine Bahn entlang, an der Markierungen mit bestimmter Wertigkeit angebracht waren. Das Ergebnis der drei Würfe wurde addiert und so der Sieger ermittelt. Natürlich gab es auch da eine Siegermannschaft. Die Mannschaft aus Farnbrunn setzte sich mit haarscharfem Vorsprung gegen die Queckinger durch.
Neben diesen Belustigungen fanden auch noch das Weidener Wurfpfeilspiel, das bereits über die vergangenen Tage in mehreren Runden ausgetragen worden war, sein Finale. Zwei Waffenknechte der Baronie waren es, die sich hier im Endspiel gegenüberstanden und sie lieferten sich ein hartes Kopf-an-Kopf-Duell. Fast jeder ihrer Pfeile traf und der Punkteabstand blieb bis zum Schluss minimal. Der Sieger gewann am Ende mit nur wenigen Punkten Vorsprung und erhielt neben der Siegesprämie, die aus einem etwas zu großen Wurfpfeil bestand auf dessen Schaft der Siegername eingeritzt wurde, ein Fläschchen Queckinger Rachenputzer und einen kleinen „Pott“, der von den Besiegten aller vorherigen Spiele mit Münzen gefüttert worden war. Dem Sieger blieb die Ehre im Anschluss sämtliche Turnierteilnehmer auf mindestens ein Bier einladen zu dürfen.
Zufrieden stellte Lyssandra fest, dass die Festwoche zu Ehren des Heiligen Beon von Havena ein voller Erfolg gewesen war. Sie freute sich, dass die Perainediener ein neues Zuhause in Urkentrutz gefunden hatten und von den Ortsansässigen auch so herzlich aufgenommen worden waren. Die Ankündigung, dass es auch in Zukunft zu Anfang Peraine immer einen Jahrmarkt geben würde stieß auf große Zustimmung. Zwei Feiertage sollten künftig drei Frondiensttage einrahmen und während dieser Zeit würde erneut ein Markt für die Urkentrutzer stattfinden.