Ein Grund zur Freude?

Baronie Urkentrutz, Burg Urkenfurt, 20. Phex 1044


Die Zornesfalte auf Lyssandras Stirn war nicht zu übersehen als sie im Thronsaal der Burg Kreise zog. Dabei wanderte ihr Blick zwischen dem Wandteppich, der den Stammbaum der Finsterborns in feinstem Garn geknüpft zeigte und ihrer jüngsten Schwester Ysilda hin und her. Die Tsageweihte, die sich seit ihrer Weihe Tsafira nennen ließ, war urplötzlich vor dem Burgtor gestanden und hatte ihrer überraschten Schwester mit stolzem Lächeln und sanftem Streichen über den stark gerundeten Bauch den Grund ihres Besuchs deutlich gemacht. 
Mit ihrem glockenhellen und unbekümmerten Lachen hatte Ysilda versucht alle Bedenken des Familienoberhauptes fortzuwischen. Vergeblich. Lyssandra war alles andere als erfreut über die erneute Schwangerschaft ihrer Schwester. 

„Ich stelle noch einmal ganz deutlich klar“, sagte sie mit angesäuertem Unterton, „dass ich mich sehr darüber freue, dass Tsa dich erneut gesegnet hat. Es ist dir auch anzusehen, dass dir die Schwangerschaft gut tut…“

Das war nicht gelogen. Ysilda sah aus wie das blühende Leben. Die 31 Winter zählende Geweihte war schöner denn je. Ihre Wangen hatten eine gesunde, rosige Färbung, das kastanienbraune Haar glänzte und die grüngrundigen Augen schienen im Licht der Praiosscheibe, das durch das Fenster des Thronsaals fiel, in allen Farben des Regenbogens zu leuchten. Ja, sie war eine Schönheit. Ohne Neid konnte Lyssandra anerkennen, dass Ysilda schon immer von Tsas Segen profitiert hatte: sei es ihr schönes Äußeres, das fröhliche Gemüt, die künstlerische Begabung oder die Unbekümmertheit mit der sie durchs Leben ging. Die Ewig Junge hatte ihre Gaben reichlich über der jüngsten Tochter Theofrieds und Thalyas ausgeschüttet.

„… was mich aber mitnichten erfreut ist die Tatsache, dass es wieder keinen Vater zu diesem Kind gibt! Es ist das zweite Kind, das nicht mit dem Segen Travias auf Deres Rund geboren wird. Ysilda, sag mir wer der Vater ist!“, forderte die Baronin von Urkentrutz. 

Nun schob die hübsche Dienerin der Eidechse die Unterlippe keck vor, wie sie es bereits als trotziges, kleines Mädchen gemacht hatte. „Das werde ich nicht, Lyssandra! Es geht dich nichts an! Es geht überhaupt niemanden etwas an, wer der Vater dieses Kindes ist! Und wenn es Praios persönlich gewesen wäre? Es ist ein Kind der Tsa, mit Rahjas Gunst auf den Weg gebracht. Punktum!“ 

Lyssandra trat auf ihre Schwester zu und legte ihr beschwichtigend die Hände auf die Schultern. „Was ist denn so schlimm daran, mir den Namen des Mannes zu verraten mit dem Rahja dich so innig verband, dass Tsa eure Verbindung segnete?“ 
Geschickt versuchte die Ältere ihre Schwester dazu zu bewegen das Geheimnis mit ihr zu teilen. Doch Ysilda schüttelte den Kopf. Die dunklen Locken flogen um die Schultern der zarten Geweihten. Bis weit über ihre Taille fiel das kastanienbraune Haar in Korkenzieherlocken hinab. 

Mit Vehemenz setzte Lyssandra den Stiefelabsatz auf den Holzboden des Thronsaals. Das Geräusch ließ auch die anderen Burgbewohner, die sich in der Nähe befanden, aufhorchen. Es war überdeutlich, dass die Baronin von Urkentrutz wütend war. Jemand wagte es ihr zu widersprechen! Das schätzte die 43 Winter zählende Mutter dreier Kinder überhaupt nicht. 
Lyssandra trat an eines der Fenster, die den Blick über den Burghof und weit darüber hinaus bis ins Tal des Fialgralwas freigaben. Sie atmete mehrmals tief die noch kühle Luft des Phex ein. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Die Finsterbornerin spürte, dass sie das Problem jetzt und hier nicht lösen würde. Sie musste sich Zeit zum Nachdenken verschaffen. 
„Nun gut, das muss ja auch nicht jetzt unser Problem sein, nicht wahr?“ 

Mit einem milden Lächeln, das sie sich nur mühsam abnötigte, drehte sich Lyssandra zu ihrer jüngeren Schwester um. 
„Du möchtest also in die kleine Marboklause am Zusammenfluss von Bingenbach und Falgralwa ziehen. Richtig?“ 

Ysilda nickte. Der trotzige Gesichtsausdruck verschwand. Sie schien beruhigt zu sein, dass ihre Schwester nicht mehr böse auf sie war.
„Ja, wenn du dich erinnerst, habe ich dort schon öfter für eine Weile gelebt. Der Erneuerin wird es gefallen, wenn in der verfallenen Klause der Todbringerin wieder ein neues, junges Lebens einzieht.“

Die Baronin nickte. Schon als Jugendliche, bevor sie einfach ausriss und sich mit einem Avesgeweihten auf Deres Rund herumtrieb, hatte Ysilda die verfallene Klause für sich entdeckt und sie mit ihrem handwerklichen und künstlerischen Geschick ansehnlich gestaltet. Ysilda hatte bunte Flusssteine, Glas- und Tonscherben, Muscheln und Schneckenhäuser gesammelt und mit diesen die Wände der Klause innen wie außen verziert. Wann immer sie dort für einige Götternamen Station gemacht hatte, waren weitere Mosaiksteinchen dazugekommen. So hatte sich die kleine Kapelle im Winkel zwischen den beiden Flüssen zu einem vielbesuchten Pilgerziel entwickelt. Vor allem Paare, die sich den Segen Tsas bei der Familiengründung wünschten, Schwangere, die um Beistand baten und Wöchnerinnen, die sich bei der Alles-Gebärenden bedanken wollten, besuchten die kleine Klause, die seit der Umwidmung durch Tsafira, „Kapelle von Leben und Tod“ hieß. 


 

Später beim Abendessen griff Lyssandra das Thema erneut auf. „Findest du, dass die Klause der richtige Ort ist um Kinder großzuziehen? Ich meine, es war mal ein Tempel der Todbringerin…“

Ysilda sah von ihrem Essen auf. „Ja, das war es, aber jetzt ist es eine Kapelle der Ewig-Jungen. Es braucht ein Ende, damit es einen Neuanfang geben kann“, dozierte ihre Schwester. „Schließlich muss erst Platz für Neues geschaffen werden. Also sind wir Dienerinnen der Eidechse den Brüdern und Schwestern im Dienste Borons und Marbos durchaus nah. Ohne Tod kein Leben ohne Leben kein Tod.“ 

Die Ältere nickte kauend. Das entsprach ganz dem Wahlspruch der Finsterborner: Tsa gibt es und Boron nimmt es. Der Auflauf mit verschiedenen Wurzelgemüsen und Lauch schmeckte vorzüglich. „Das ist schon wahr, Schwesterlein, aber die Klause ist doch recht klein und es ist einsam dort… vor allem auch für Saria. Sie ist im richtigen Alter, dass man sich Gedanken über ihre Zukunft machen sollte. Aber welche Zukunft soll das werden? … ich meine, sie ist keinem Traviabund entsprungen….“ 
Ihr Blick fiel auf Saria, die konzentriert in ihrem Auflauf stocherte und jedes auch noch so kleine Stückchen Lauch an den Tellerrand schob. 

„Keinem Traviabund entsprungen…“ äffte Ysilda ihre Schwester nach. „Na und? Du weißt genau, dass ich darauf pfeife! Sie ist ein Kind der Liebe, ein Kind zweier Geweihter. Tsa hat mich gesegnet, was gibt es Wichtigeres? Es ist nichts schändlich an ihr! Ganz im Gegenteil!“ 

Das blonde Mädchen mit leuchtenden blaugrünen Augen blickte auf. Es kicherte. „Schändlich… das klingt komisch…“ 
Lyssandra beeilte sich, ihre Aussage zu erläutern. „Das meine ich nicht, aber du weißt doch, dass man sie so nicht ohne weiteres „vermitteln“ kann.“ 

„Wie, „vermitteln“ kann? Wohin willst du sie denn vermitteln? An einen potenten adeligen Gemahl? Nein Danke! An einen Ritter? Als Knappin? Hör auf! Das kommt gar nicht in Frage! Oder als Hofdame an irgendeinen langweiligen Grafenhof?“
In Ysildas Stimme schwang nun wieder dieser enttäuscht-trotzige Ausdruck mit, den Lyssandra seit ihrer Kindheit kannte. Immer wenn man ihre jüngere Schwester mit familiären Verpflichtungen konfrontierte, ging sie auf die Barrikaden. Sie konnte einfach nicht gehorchen, musste immer opponieren.

„Letzteres ist doch eine gute Idee! Ich könnte am Hof in Pallingen anfragen, ob sie dort eine Hofdame brauchen könnten.“ 
Freude schwang in diesem Vorschlag mit. 

„Willst du sie umbringen? Etikette, strenge höfische Regeln und Zwänge… das ist nichts für Saria. Sie ist meine Tochter!“
Nun kam Ysilda in Fahrt. Doch auch Lyssandra war inzwischen ordentlich verärgert über ihre Schwester. „Hast du sie schon mal gefragt, Ysilda?“
Der Kopf der Tsageweihten fuhr herum. „Das willst du doch nicht, oder, meine Süße?“
Lyssandra vermeinte Unsicherheit in der Stimme ihrer jüngeren Schwester mitschwingen zu hören. 
„Nein, Mama! Natürlich nicht!“, erwiderte die zarte Zehnjährige mit den Feenlocken kopfschüttelnd. 
Ysilda wirkte beruhigt. „Da hörst du es!“
„Schon gut!“ Die Baronin sah das Mädchen lächelnd an. „Was möchtest du denn später mal machen, Saria? Schau, Eylin weiß es auch noch nicht so genau.“
Sie deutete auf ihre Jüngste, die leicht errötend Karottenstücke aus dem Auflauf aufpickte und in den Mund schob. 
Saria sah zur etwa gleichaltrigen Kusine hinüber. Die Mädchen kicherten amüsiert. Nach einer Weile beruhigte sich Ysildas Tochter und zuckte mit den Schultern.
„Weiß noch nicht. Vielleicht werde ich Künstlerin. Das hat jedenfalls mal eine Inrah-Kartenlegerin zu mir gesagt.“
„So?“ Lyssandra hob die Augenbrauen. „Eine Kartenlegerin hat das prophezeit? Na, das klingt ja spannend!“ 
Sie wandte sich wieder ihrer Schwester zu. „Hast du schon Kontakte geknüpft? Du kennst ja sicher viele Künstler.“ 
„Aber nicht hier“, folgte die etwas patzige Antwort. „Im Lieblichen Feld, in Almada, in Aranien oder dem Kalifat. Aber hier in Weiden findet man doch kaum Künstler, die man als solche bezeichnen kann!“
Nun war es Lyssandra, die mit den Schultern zuckte. „Na und? Sie muss ja nicht hierbleiben. Warum suchen wir nicht einen Lehrmeister oder eine Lehrmeisterin im Horasreich? Soviel ich weiß, kennst du dort einige Künstler. Hast du nicht Piara Collina über die Schulter geschaut und bist dann mit einer ihrer Schülerinnen herumgezogen? Wie hieß sie gleich?“
„Arya“, erwiderte Ysilda ungehalten. „Saria ist erst 10 Götterläufe alt. Eylin ebenfalls. Schickst du sie jetzt auch in die Fremde?“
„Nein“, knurrte Lyssandra. „Aber ich muss mir auch Gedanken über Eylins Zukunft machen. Immerhin hätte ich wohl keine Schwierigkeiten einen Schwertvater oder eine Schwertmutter für sie zu finden! Sie ist eine Adelige aus einer traviagefälligen Verbindung, eine von Finsterborn!“ 
Zu Lyssandras Überraschung war es dieses Mal nicht Ysilda, die ihr ins Wort fiel, sondern Eylin.
„Ich will keine Ritterin werden! Wie oft soll ich das noch sagen?“ 
Wütend sprang das blonde Mädchen auf. „Ich habe keinen Hunger mehr! Darf ich mich zurückziehen?“ 
„Du bleibst hier!“, zischte die Baronin von Urkentutz. „Du kannst nicht immer davonlaufen, wenn es ungemütlich wird, Eylin! Das ist eine der ersten Lektionen, die man als Knappe lernen muss! Ich habe dir nicht gestattet aufzustehen und zu gehen! DU BLEIBST HIER!“
„ICH WERDE KEINE KNAPPIN WERDEN UND AUCH KEINE RITTERIN!“, keifte Eylin mit hochrotem Gesicht. 

Ysildas glockenhelles Lachen unterbrach den Streit und sogleich stimmte Saria mit ein. Das Duett an hellem Kichern und gutturalem Glucksen ließ Lyssandra vergessen was sie eben noch ihrer Jüngsten an den Kopf werfen wollte. Das Lachen der Tsageweihten war entwaffnend. Es dauerte nicht lange dann zuckten die Mundwinkel der älteren Schwester und nur Augenblicke später hatte sich aus diesem Zucken ein breites Grinsen entwickelt. 
„Haha, das ist herrlich!“, konnte man Ysilda vernehmen. „Mir Vorwürfe machen und dabei hast du selbst so eine kleine Rebellin großgezogen! Gratuliere dir, Schwesterherz! Wie gut, dass wenigstens eines deiner Kinder einen Sturschädel hat und sich durchzusetzen weiß! Bravo, Eylin!“ 
Lyssandra spürte den Widerstreit der Gefühle. Sollte sie wütend auf ihre Tochter oder ihre Schwester sein? Oder mit Ysilda Frieden schließen? Sie beschloss die Entscheidung zu vertagen.
„Aber das Baby bringst du noch hier bei mir auf der Burg zur Welt, ja?“ 
Die Tsageweihte nickte lächelnd. „Wenn ich deine Gastfreundschaft so lang noch beanspruchen darf?“ 
„Aber natürlich, Ysilda! Du bist doch meine süße, kleine Schwester! Ich freue mich auf deinen Nachwuchs! Und Eylin hat mit Saria eine gleichaltrige Freundin. Perfekt! Bleib, so lange du möchtest!“ 


 

Es wurde eine schöne Zeit. Lyssandra vermied das Nachbohren und Ysilda brachte Schwung und Farbe in das Leben der Urkentrutzer Baronin. Ysilda und auch Saria verfügten über ein ausgesprochenes künstlerisches Talent und viel Fantasie. Während sich Saria vor allem sehr auf kunsthandwerkliche Objekte wie bemalte oder schön glasierte Tontöpfe, Schüsseln und Kacheln verstand oder mit Hingabe Bildteppiche knüpfte oder Kissenhüllen bestickte, galt Ysildas Liebe der Malerei. So lange der wachsende Babybauch es zuließ bemalte sie den Treppenaufgang der Burg zum Thronsaal und den Wohnräumen mit floralen Girlanden. Außerdem schmückte Ysilda in der Burgkapelle die Wand über dem Altar für Tsa mit einem wunderschönen und farbenfrohen Wandmosaik in Form einer Eidechse. 
Danach gab sie einem Knecht Lyssandras Anweisungen wie man eine Blumenuhr anlegte. Dieses florale Kunstwerk, das beide Schwestern auf ihren Reisen durch das Horasreich kennengelernt hatten, war ein lang gehegter Wunsch der ältesten Finsterbornerin gewesen. Der Boden und vor allem die Lichtausbeute auf dem Familiengut in der Schwarzen Au waren dafür nicht ausreichend gewesen, doch hier, auf dem vom Praiosmal verwöhnten Burghof, hoch über dem nebelumwölkten Tal des Fialgralwas, sollte ein solches Unterfangen doch gelingen und die Tsageweihte wollte dem Projekt ihren Segen geben. 
Lyssandra hatte bei ihren Verwandten im Lieblichen Feld einige Blumenzwiebeln, Samen und Blühpflanzen bestellt, die dann auch im Phex gemeinsam mit anderen Dingen geliefert worden waren. Man hatte mit Steinen einen Kreis geschaffen und diesen mit tiefer, humusreicher Erde ausgefüllt. Der Kreis war in 12 Segmente eingeteilt, für jeden der zwölf Götter des Praioslaufes eines.
Nun konnte die Baronin zusehen, wie der Ordensmann des Thêrbuniterordens, Vater Erlmund, gemeinsam mit Ysilda, die ihre Hände in den unteren Rücken gestützt hielt, um ihrem Schwangerenbauch ein Gegengewicht zu bieten, die Bepflanzung koordinierte. Sie gab nach Rücksprache mit dem Beoniter dem Knecht genaue Anweisungen, wohin dieser welche Pflanze setzen sollte. 
„Dort soll glaube ich…“ Die Tasageweihte sah den Beoniter an, der den Satz fortführte. „… die Stockrose…“.
Ysilda vollendete „…, richtig, die Stockrose stehen.“ 
Zufrieden betrachtete Lyssandra die Szene. Im Hintergrund spielten Eylin und Saria verstecken während Minerva vom Wachtturm aus das Geschehen beobachtete. Der Blick der Baronin fiel auf das Projekt „Blumenuhr“. Ein wenig wirkte das blumige Arrangement wie ein Fremdkörper im Hof der trutzigen Weidener Burg. Erwartete man so etwas doch eher in einem kunstvoll gestalteten Garten im Stil der Renascentia. Doch was kümmerte sie das? Sie freute sich doch ein wenig der horasischen Kultur, die sie so schätzen gelernt hatte, ins kulturarme Weiden geholt zu haben. 
Neben der Baronin stand ihr Dienstritter und brüderlicher Freund, Oberon von Uhlredder und beobachtete ebenfalls die Szenerie. Dabei deutete die eine hochgezogene Augenbraue an, dass er wohl nicht ganz überzeugt von der Sache war, die da im Hof Gestalt annahm. Er schwieg aber eisern und gab sich auch Mühe, dass man mindestens, wenn man nicht direkt neben ihm stand nicht erkennen konnte, wie er darüber dachte. 
„Sieh nur, Oberon, im inneren Teil des Segments stehen die Blumen, die von der 1. bis zur 12. Stunde blühen, außen diejenigen die den zweiten Teil des Praioslaufs mit ihren Blüten begrüßen. Also dort, siehst du, ist das Feld der Hesindestunde, im inneren Anteil wird im Frühjahr der Mohn blühen und ab dem Sommer die Wegwarte. Abends dann zeigt im äußeren Teil des Kreissegments das Schließen des Mohns und später im Jahr das Schließen der Mittagsblume an, dass die zweite Hesindestunde gekommen ist. Und dort drüben blühen Margarite und Leinkraut ab der erste Phexensstunde. Ist das nicht toll?“ 
„Hmmmhhhmm“, gab Oberon zunächst recht wenig wortreich und offensichtlich wenig begeistert zurück.
„Wer hat denn sowas gemessen und woher wusste er oder sie, wenn die Wegwarte blüht, dass Hesindestunde ist? Oder woher weiß die Pflanze das und was wäre, wenn man die Wegwarte jetzt z.B. in die Pexensstunde pflanzt? Blüht sie dann zur Phexensstunde? Also liegt es an der Position oder an der Pflanze wann geblüht wird?“
Lyssandra wusste, dass Oberon viel über Pflanzen und Tierwelt wusste, viel Jagen ging und dergleichen. Aber das ganze Konzept der Pflanzenuhr stellte ihn scheinbar im Moment noch vor ein großes Rätsel. 
„Nun, glaub mir, dass findige Köpfe das herausgefunden haben. Es ja nicht so, dass diese Blüten sich genau zum Beginn der Phexensstunde öffnen und nur dieses eine Wassermaß lang blühen. Das ist mehr ein Annäherungswert…“ 
Die Grübelfalten auf Oberons Stirn verschwanden nicht. Im Gegenteil, er legte den Kopf schief. „Ganz ehrlich, ich will dich nicht enttäuschen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das in dem rauen Weidener Klima funktioniert. Wind, Regen und lange Winter… du weißt wie gnadenlos der Alte vom Berg regiert.“ 
Die Baronin nickte, blickte dann aber hoffnungsvoll zu Vater Erlmund.
„Aber wir haben mit den Beonitern ja nun kompetente Helfer, nicht wahr, Hochwürden?“ 
Vater Erlmund lächelte in seiner bekannten Manier. Die Mundwinkel zogen sich aufwärts und auf den runden Wangen bildeten sich kleine Grübchen. Das Lächeln breitete sich sogleich auf die braunen Augen aus und gaben seinem runden Gesicht einen verschmitzten Ausdruck.
„Wir werden gewiss alles dafür tun, dass die Göttin einen gütigen Blick auf dieses Projekt wirft, wenngleich auch ich sagen muss, dass die Macht Firuns nicht leicht von der Güte der Gebenden bezwungen werden kann.“ 
Erleichtert und dankbar lächelte Lyssandra dem Klostervorsteher des neu gegründeten Thêrbunitenklosters „Beonslob“ zu. Sie bezweifelte nicht, dass das Projekt mit Peraines und Tsas Hilfe gelingen würde, zumal sie ja einige hiesige Pflanzen mit Vater Erlmunds und Schwester Gwiniwens Hilfe ausgesucht hatte, die diejenigen ersetzten sollten, denen ein Überleben im strengen Winter Weidens unmöglich gewesen wäre. 
Also ergriff sie die Hand ihrer jüngeren Schwester und drückte sie. „Darf ich dann nun um euer beider Segen bitten?“ 
Und so kam es, dass die Geweihten der Gebenden und der Allesspendenen dem kreisrunden Blumenbeet ihren Segen spendeten. Dem Anfang wohnte somit ein Zauber inne. Doch soll man ein Werk nicht vor dem Abend loben .... , das allerdings ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden. ;)