Fantholi Nummer 30:
Getreue Feinde

Es gärt in der Sichelwacht! Die Kirchen, die in diesen unsicheren Zeiten vereint stehen und der Finsternis die Stirn bieten sollten, frönen stattdessen altem Hader. Kaum war der neue Custos Lumini Hensgar ‘Preisepraios’ von Waldenkamm zu Salthel eingesetzt, sandte er sein Credo schon lautstark in die Lande des Herzogtums, und er vergeudete keine Zeit mit Andeutungen oder subtilen Seitenhieben. Seinen Standpunkt legte er so eindeutig dar, dass nicht einmal gewohnheitsmäßige Mahner und Ruhestifter die Botschaft überhören konnten: Die Kirche Praios’ greift nun auch in Weiden nach dem ihr gebührenden Platz in der Zwölfengemeinschaft, der unangefochtenen Führung. Die Vorherrschaft des Rondrakultes in Weiden entfacht im Herzen seiner Hochwürden einen Zorn, der nicht anders als heilig – manche munkeln fanatisch – zu nennen ist. Worte wie ‘Irrglauben’ und ‘Häresie’, jeweils im Zusammenhang mit der Rolle des Schwertbundes in der Weidenschen Glaubenshierarchie genannt, machten die Runde und erhitzten so manches Gemüt.

Erwartungsgemäß reagierte die Kirche der Donnernden umgehend. Selbst erst seit wenigen Wochen zur Schwertschwester des Balihoer Rondratempels gesalbt, reiste Hochwürden Alinja Leuenklinge von Norburg höchstselbst nach Salthel. Offen, für jeden Tempelbesucher sicht- und hörbar, trafen die beiden Hochgeweihten vor dem Sonnenaltar aufeinander. Mühsam unterdrückte Wut und Geringschätzung auf Seiten des Praioten, trafen auf unnahbare Kälte und abwartende Beobachtung seitens der Rondrianerin. Voraussetzungen, die den Disput trotz offensichtlicher und beiderseitiger Geringschätzung überraschend ruhig und vor allem kurz hielten. Kaum ein Viertel Wassermaß Zeit nahm sich Hochwürden Leuenklinge, um Hochwürden Hensgar zu den Gerüchten zu befragen, wonach er den Rondraglauben an sich als Irrglaube bezeichnet und die Kirche Rondras gar der Häresie beschuldigt hatte. Beobachter berichteten verwundert von der anhaltenden Unhöflichkeit des Praiosgeweihten, die von der Rondrageweihten scheinbar gleichmütig hingenommen wurde. Ein Ergebnis scheint das Gespräch allerdings nicht gezeitigt zu haben. Zwar legte Hochwürden Hensgar seine Meinung zu den ominösen Gerüchten dar und stellte ausdrücklich fest, dass der Rondraglaube kein Irrweg sei, und dass er die Kirche der Leuin nicht der Häresie zeihe. Andeutungen von Tadel und Mahnung klangen jedoch überdeutlich aus seinen Worten und verhallten nicht ungehört, wohl aber unkommentiert.

Vor dem Sonnenaltar standen sich alte Feinde gegenüber und ihren artigen Worten zum Trotz, verständigte man sich auf einer anderen, wortlosen Ebene über die jeweilige Position und signalisierte zumindest wechselseitige Wachsamkeit. Getreu der Feindschaft, die die Kirchen des Götterfürsten und die der Alveransleuin seit den Tagen der Priesterkaiser trennt, scheint die Einigkeit der Kirchenoberen beider Kulte zwar Mahnung, aber leider kein Vorbild. Es wird weiterhin gemunkelt, die Balihoer Tempelvorsteherin habe unmittelbar nach ihrem Aufeinandertreffen mit Hensgar den Praiostempel in Anderath aufgesucht und dort ein langes Gespräch mit Hochwürden Heliopais, der Custoda Lumini der Goldenen Halle des Gesetzes zu Anderath, geführt, das einvernehmlicher verlaufen sein soll. Doch bleibt zu befürchten, dass die Positionen beider Kirchen zumindest in der Sichelwacht weiterhin verhärtet bleiben. (kr)