Unwillkommen

Selber Ort, selber Tag

Der Tempelvorsteher schlenderte gut gelaunt in den Tempel, verharrte jedoch, als er die beiden Rondrianerinnen erblickte. Sein Pfeifen verstummte, seine ganze Haltung spannte sich an. Es schien so, als wollte er an ihnen vorbeigehen und schnurstracks in der Sakristei verschwinden.

Alinja erhob sich ohne Hast, schlug den weiten Mantel zurück und trat dem Custos Lumini entgegen. „Praios zum Gruße, Euer Hochwürden.“ Elegant verbeugte sie sich, ohne ihr Auge aus denen Hensgars zu nehmen. „Erlaubt, dass ich mich vorstelle: Alinja Leuenklinge von Norburg, Schwertschwester des Balihoer Tempels der Alveransleuin und Legatin ihrer Eminenz Aldare VIII Donnerhall von Donnerbach. Ich möchte Euch um eine Unterredung bitten.“

Nicht ganz so würdevoll beeilte sich Lanzelind zu ihrer Schwertmutter aufzuschließen und dennoch einen respektvollen Abstand zu wahren. Sie ahmte Alinjas Begrüßungsgeste – die nur locker geschlossene Schwertfaust über dem Herzen – eilfertig nach und verbeugte sich ehrerbietig.

In Hensgars linker Gesichtshälfte zuckte unkontrolliert ein Muskel, während er die beiden Frauen abschätzig musterte. „Es erübrigt sich wohl, mich vorzustellen, da Ihr mich schon zu kennen scheint!“ Die Stimme erklang befehlsgewohnt. „Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen, Legatin. Ebenfalls erfüllt es mein Herz mit Freude, dass Eure Schritte Euch in das Haus des Götterfürsten lenkte, damit Ihr IHM Eure Aufwartung machen könnt, wie jedermann es IHM schuldet. Fühlt Euch durch mich daran nicht gehindert. Sodann werde ich mir anhören was Ihr zu sagen wünscht.“

Bestätigend beugte Alinja das Haupt, lächelte aber fein. „Und mich freut es, dass Euch unsre Aufwartung mit Freude erfüllt. Wir“, sie deutete auf Lanzelind, „ah, ich vergaß Euch meine Schwerttochter vorzustellen: Lanzelind von Rauheneck, Euer Hochwürden. Nun, wir warten bereits eine geraume Zeit auf Euch und haben dem Götterfürsten natürlich schon längst unsere Reverenz erwiesen, so wie es sich gehört. Aus diesem Grund würde ich es sehr zu schätzen wissen, wenn wir unser Gespräch unmittelbar und vielleicht in der Sakristei beginnen könnten?!“

„Ein Gespräch in der Sakristei ist nicht angebracht. In diesem Hause kann nichts vor IHM verheimlicht werden und nichts wird vor IHM verheimlicht! Wenn Ihr mich zu sprechen wünscht, dann direkt vor dem Sonnenaltar!“ Hensgar deutete auf die harten Bänke die vor dem Altar standen. „Doch einen Augenblick werdet Ihr mich noch entschuldigen müssen.“ Nach diesen Worten ließ er die beiden Frauen stehen und verschwand in der Sakristei.

Alinja zischte etwas in der gutturalen Sprache, die sie Urtulamidya nannte und die Lanzelind alsbald auch erlernen sollte. Sacht fuhr sie über ihren Nacken und kurz sah Lanzelind die kunstvolle Schlangentätowierung unter den dunklen Locken aufblitzen.

„Mich deucht, der Herre würde uns hören, flüsterten wir in der tiefsten Höhle des Ehernen Schwertes und was meint er mit verheimlichen, eh?“, brummte die Hochgeweihte. Doch dann fiel ihr Blick auf Lanzelind und ihre Lippen kräuselten sich in spöttischem Lächeln. „Hör nicht so genau hin, Tochter, ich wappne mich nur.“ Doch ehe Lanzelind, der durchaus etwas auf der Zunge lag, darauf erwidern konnte, kehrte der Praetor zurück und schien bereit sich anzuhören, was die Rondrianerinnen von ihm wollten.

Alinja stand noch immer und ihre Novizin hütete sich, es anders zu halten. Stolz und aufrecht stand die Schwertschwester da und fing den Blick Hensgars, sobald er nahe genug heran war.

„Ihr seid im Namen Eures Herrn Gastgeber und so bestimmt Ihr den Ort, Hochwürden. Also vor dem Altar. Für jeden, der uns zuhören mag, wohl vernehmlich. Es ist mir recht, denn Heimlichkeit ist der Herrin zuwider und mir als ihrer Dienerin ebenso.“ Eine Hand auf den Rücken gelegt, die andere locker auf dem Schwertknauf, fuhr Alinja fort und befleißigte sich eines fast sanften Tonfalls. „In medias res, denn keiner von uns hat Zeit zu verschenken. Es geht das Wort, dass Ihr von Eurer Kanzel den Glauben an die Herrin Rondra als einen irrigen bezeichnet habt, ja sogar so weit gegangen seid, die Kirche der Herrin der Häresie zu bezichtigen. Dessenthalben bin ich hier und ich frage Euch also gerade heraus, wie Ihr es sicher schätzt: Habt Ihr das gepredigt?“

„Ich dachte es mir, dass Ihr nicht aus reiner Höflichkeit hier seid. Tatsächlich hat es länger gedauert als vermutet, bis die Kirche der Leuin ihre Macht zu demonstrieren versucht.“ Hensgar strich sich über den spitzen Bart und schien zu überlegen. Dabei richtete er seine Augen zur Kristallkuppel, ließ sie über die Skulpturen der Heiligen und den Sonnenaltar schweifen und blickte sodann mit festem Blick direkt ins Auge Alinjas.

„Ich sah Euch nicht bei der Predigt, auf die Ihr vermutlich anspielt. Ihr gebt offenbar viel auf reines Hörensagen, da Ihr Euch gleich selbst hierher begebt, anstatt einen Boten zu schicken, für diese simple Frage, bei der Ihr Direktheit mit Unhöflichkeit zu verwechseln scheint, Legatin. Doch will ich nicht vorschnell urteilen und Euch zugutehalten, dass Ihr erschöpft sein müsst aufgrund der langen Reise und daher wohl versehentlich Eure Wortwahl nicht die trefflichste war. Ich halte es für angeraten, dass Ihr Euch etwas Ruhe gönnt, ehe Ihr etwas sagt, das Euch leidtun könnte. Um nun aber nicht meinerseits mit Unhöflichkeit zu kontern, sei Eure Frage dennoch beantwortet. So höret genau hin: Nein. Euer geheimer Zuträger hat in der Predigt wohl eher geschlafen, als seine Ohren aufgesperrt. Alburn, zeige ihnen Häuser in denen sie nächtigen können. Solltet Ihr morgen noch Gesprächsbedarf haben, gewähre ich Euch gern eine Audienz. Praios mit Euch!“

„So schnell nicht, Hochwürden“, erwiderte Alinja ohne Zögern. „Diese Frage ist nicht so diffizil, dass wir sie vertagen müssten, ich bin auch nicht ermüdet von meiner Reise, die mich bereits gestern hierher führte, ebenso wenig bedarf ich eines Gasthauses, denn auch dafür habe ich bereits Sorge getragen.“ Äußerlich vollkommen ungerührt hatte sie die Litanei des Praioten über sich ergehen lassen, war aber weit davon entfernt, sich einfach so wegschicken zu lassen. „Und nun in aller Ruhe und Systematik, werter Bruder“, tatsächlich lächelte sie freundlich und sprach betont ruhig. „Zunächst und zufürderst bin ich nicht hier, um Macht zu demonstrieren. Ihr kennt die Kirche der Leuin schlecht, wenn Ihr solches annehmt. Ja, ich war nicht hier, als Ihr diese Predigt hieltet, ich war nicht einmal in Weiden, sondern weilte in Perricum. Und daran, dass ich mich selbst hierher bemühe, könnt Ihr leicht ersehen, wie wenig ich auf Hörensagen gebe, denn wäre es anders, würde ich Euch nicht um eine Stellungnahme ersuchen, sondern selbstgerecht annehmen, ich wüsste auch ohne Rücksprache genau, was und wie es sich zugetragen hat.“

Ihr Lächeln vertiefte sich und trat in krassen Widerstreit zu dem kalten Ausdruck in ihrem Auge. „Ich bin Euch auch nicht unhöflich begegnet, im Gegensatz hierzu beliebt Ihr allerdings beharrlich die Etikette zu brechen, Hochwürden. Doch einerlei, solche kleinen Nickeligkeiten fechten mich nicht an. Ich bin hier, um in Erfahrung zu bringen, was sich zugetragen hat und geheime Zuträger habe ich nicht, achtet also auf Eure Worte, sie kratzen an meiner Ehre!“ Noch immer lächelte Alinja. Ruhig, beinahe gleichmütig fuhr sie fort. „Der Kirche Rondras ist daran gelegen, einen gedeihlichen Dialog mit ihren Schwesterkirchen zu führen. Mit etwas gutem Willen Eurerseits könnte mein Erscheinen hier Euch das beweisen. Es freut und erleichtert mich, wenn die Gerüchte falsch sind, doch würde ich gern genauer erfahren, wie es zu einem solchen Missverständnis kommen konnte, es gibt also immer noch Gesprächsbedarf, Hochwürden, und ich würde ihn gern jetzt und hier stillen!“

„Ihr wart nicht hier, gebt nichts auf Hörensagen, habt keinen geheimen Zuträger und wollt keine Macht demonstrieren – und doch seid Ihr nun hier und konfrontiert mich mit Vorwürfen zu Aussagen, die ich nicht getätigt habe. Ist das der Stil der Rondrakirche? Wilde Behauptungen aufzustellen und andere damit belästigen? Oder ist das nur Euer Stil? Ich will höflich zu Euch sein. Obwohl meiner viel wichtigere Aufgaben harren, bin ich Euch gern dabei behilflich, Euren Gesprächsbedarf zu befriedigen. Ihr fragt, wie es zu solch einem Missverständnis kommen konnte? Ich frage Euch, wie ihr überhaupt darauf kommt, mir zu unterstellen, dass ich die Rondrakirche als Häresie bezeichnet haben soll? Beantwortet diese Frage und möglicherweise erkennt Ihr dann auch die Antwort auf die Eure.“

Alinja legte den Kopf schief und betrachtete Hensgar einige Augenblicke, dann nickte sie langsam. „Nein“, summte sie, „ich muss Euch enttäuschen, keine meiner Fragen wird durch ein solches Vorgehen beantwortet, aber ich werde nochmals und dann ausführlich darüber meditieren, sobald ich Zeit finde.“ Sie trat einen halben Schritt zurück. "Doch es liegt mir fern, Eure kostbare Zeit zu stehlen, Hochwürden, oder Euch gar … wie drücktet Ihr Euch doch gleich aus? Ah ja: Euch zu belästigen. Mich deucht, ich habe erfahren, was ich wollte. Eure Fragen möchte ich allerdings trotzdem nicht unbeantwortet lassen, denn jede verdient eine Antwort. Es ist mein Stil, Fragen zu stellen, wenn ich etwas nicht verstehe. Ich spreche hier und in Weiden für die Senne Nord und ja, Ihr habt Recht, für die ganze Kirche Rondras, also könnte man annehmen, dass es in diesem Fall ebenso der Stil der Kirche ist.“ Langsam hoben sich ihre Augenbrauen, so hoch, dass selbst die sonst von der hellgrauen Augenklappe bedeckte, nun sichtbar wurde.

„Indessen befremdet es mich doch gehörig, dass meine Fragen Euch als Vorwürfe erscheinen, denn als solche möchte ich sie nicht verstanden wissen und ich denke auch nicht, dass ich sie so formuliert habe. Dennoch bitte ich um Verzeihung, sollte ich Euch zu sehr bedrängt haben, direkte Konfrontation ist nicht jedermanns Sache und ich wollte Euch nicht in Zugzwang bringen. Wie auch immer, Ihr habt meine Frage beantwortet und mir ausdrücklich und bezeugt von Eurem Geweihten und meiner Novizin erklärt, dass Ihr die Kirche Rondras nicht der Häresie zeiht, noch sie für einen Irrglauben haltet. Wie ich bereits sagte, freut mich das und ich bin sicher, auch ihre Eminenz und ihre Erhabenheit werden meinen Bericht mit großer Erleichterung lesen. Nun denn, es wäre jetzt wohl angebracht, Euch von unsrer ungeliebten Anwesenheit zu befreien, Hochwürden. Doch zuvor möchte ich Euch noch, als Zeichen meiner Wertschätzung und zugleich als Geschenk zu Eurer Erhebung in den Stand eines Tempelvorstehers dies hier überreichen.“

Damit bedeutete sie Lanzelind, den hellen Lederbeutel, mit gelb-roten Stickereien, in die immer wieder kostbare Goldfäden eingezogen waren und die praiotische Symbole zeigten, an den Hochgeweihten zu übergeben. Der Beutel war von beträchtlicher Größe. „Bernstein, aus meiner Heimat.“ Erklärte Alinja sachlich. „Ich hoffe, Ihr erweist mir die Ehre, diese Gabe in genau dem Geist anzunehmen, in dem ich sie Euch darbringe.“

Hensgar war verblüfft. Damit hatte er nicht gerechnet. Weder mit einem Geschenk, noch mit der schnellen Aufgabe der beiden Frauen. Kurz schoss es ihm durch den Kopf, dass dies auch ein Trick sein könnte und ganz konnte und wollte er den Gedanken nicht verdrängen – dazu war er einfach zu misstrauisch. Dennoch dauerte es einige Augenblicke, bis er fähig war, sich wieder zu rühren. Fast zögerlich streckte er die Hand aus, um den Beutel entgegenzunehmen.

„Seid dessen gewiss“, war alles was er hervorbrachte, dazu in einer ausdruckslosen Stimme die alle ihre bisherige Schärfe verloren hatte. Er räusperte sich, wodurch er in sein altes Rollenschema zurückzufallen schien. „Nein, ich unterstelle der Kirche der Leuin keine Häresie, noch ist sie ein Irrglaube. Wer das behauptet, sollte sich hüten, denn er rührt an der zwölfgöttlichen Ordnung. Aber hier in Weiden ist sie auf dem besten Weg sich der Häresie zu nähern und alleine diesen Weg empfinde ich als einen irregeleiteten!“

„Ich habe Eure Befürchtungen sehr wohl vernommen und weiß Eure Worte zu deuten, Hochwürden. Seid versichert, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, die Ordnung in diesem Land aufrechtzuerhalten. In diesem Sinne: Praios mit Euch!“ Alinja verbeugte sich knapp und ohne den Kopf vor Hensgar zu beugen, dann trat sie einen Schritt rückwärts und neigte das Haupt deutlich in Richtung des Sonnenaltars. Zackig wandte sie sich auf den Hacken um und verließ den Tempel energischen Schrittes. Lanzelind beeilte sich, ihr auf den Fersen zu bleiben.

Hensgar sah den beiden noch kurz mit abschätzigem Blick hinterher. „Alburn“, rief er dann.

„Euer Hochwürden?“

„Verwahrt den Beutel. Der Inhalt wird so genutzt ... ach, Ihr habt es ja gehört.“

„Sehr wohl.“

„Rorrick!“ Aus der Sakristei trat ein Bannstrahler. Wortlos gesellte er sich zu dem Custos Lumini. „Ihr habt alles gehört?“ Der Bannstrahler neigte stumm sein Haupt. „Findet heraus, wer der geheime Zuträger der beiden Weiber war. Ich will wissen wer solch falsch Zeugnis tratscht. Der Keller ist jedoch nur die allerletzte Möglichkeit. Verstanden?!“

„Natürlich, Euer Hochwürden.“

„Unfassbar, dass sie mir verheimlichen wollten, woher sie ihr falsches Wissen haben.“

„Euer Hochwürden?“

„Was ist noch, Alburn?“

„Es besteht die Möglichkeit ... es könnte sein...“

„Nun redet doch, Mann!“

„Vor einigen Wochen wollte ich Euch einen Artikel aus dieser Zeitung aus Trallop zeigen. Ihr wiest darauf hin, dass es irrelevant sei ...“

„Natürlich! Man kann seine Zeit besser nutzen, als die wirren Fantastereien idiotischer Schreiberlinge zu lesen, die ihrer kranken Ideen in einem schlecht gemachten Pamphlet verbreiten wollen.“

„Ihr habt ganz recht. Und dennoch war da eine Formulierung ...“

„Du hast den Schund gelesen? Nun, das ist der Grund, weshalb Du nur einfacher Geweihter bist, während ich zu Höherem bestimmt bin!“

„Gewiss.“

„Nun rede schon! Was stand da drin?“

„Dort stand, dass Ihr bezogen auf den Rondraglauben von einem irregeleiteten Weg spracht.“

Hensgar blickte mit fast ausdruckslosem Gesicht auf sein Gegenüber. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit war er verblüfft. Tonlos drehte er sich um und ging mit ausgreifenden Schritten in die Sakristei.