Antrittsbesuch

Salthel, Boron 1029 BF

Gemächlichen Schrittes spazierte Alinja Leuenklinge von Norburg durch die engen Gassen der Grafenstadt, an ihrer Seite ihre mausgesichtige Novizin Lanzelind von Rauheneck. Jene zumindest blickte sich neugierig und mit einem begeisterten Funkeln in den Augen um, derweil ihre Schwertmutter den Trubel nicht recht wahrzunehmen schien – ebenso wenig den Umstand, dass man ihnen respektvoll Platz machte, sobald man des weiß-roten Ornats ansichtig wurde, der heuer nur noch so selten zu bewundern war. Der Praiostempel kam in Sicht und einen Augenblick verhielt die Hochgeweihte, musterte das Gebäude abschätzend und kurz zuckte einer ihrer Mundwinkel. Vielleicht der Ansatz eines Lächelns, überlegte Lanzelind, doch ehe sie sich entschieden hatte, setzte sich Alinja wieder in Gang, zielstrebiger nun und direkt auf den Tempel zu.

„Ich fürchte, es wird kein angenehmer Besuch, Lanzelind.“ Alinja blickte zu ihrer Novizin hinab und lächelte nun erkennbar. Ein seltsamer Glanz lag in ihrem Auge. „Ich möchte, dass du gut zuhörst und alles im Auge behältst. Aber – und das werde ich nur einmal sagen, Skutigera – ich möchte nicht, dass du das Wort ergreifst. Du wirst vielleicht Dinge hören, die die Flammen des Zorns in dir auflodern lassen, oder Dinge, die dich erstaunen. Wie auch immer: Ich möchte, dass du schweigst. Später wirst du sprechen können, wenn wir wieder im Haus der Herrin sind. Bis dahin rede nur, wenn du gefragt wirst.“ Sie sprach fast sanft, aber mit Nachdruck. „Und nun werden wir dem Götterfürsten unsere Reverenz erweisen.“

Damit betrat sie den Tempel, blieb stehen und wartete mit gesenktem Kopf, bis ihr Auge sich an das hier herrschende Licht gewöhnt hatte. Dann erst sah sie sich um und strebte dem Altar zu. Auf halber Strecke beugte sie aus dem Schritt heraus das Knie. Die Hand auf dem Schwertknauf beugte sie erneut das Haupt und versenkte sich in ein langes Gebet. Wesentlich weniger determiniert folgte Lanzelind und nach kurzem Zögern, sank auch sie hinter ihrer Schwertmutter auf nur ein Knie. Als Alinja sich endlich erhob, war Lanzelind schon unruhig hin- und hergerutscht und heilfroh, sich endlich wieder bewegen zu können. Suchend sah sich die Schwertschwester um, sah aber niemanden außer einem Mann der in ein tiefes Gebet versunken war.

Die beiden Rondradienerinnen ließen ihre Blicke über die über mannsgroßen Heiligenfiguren schweifen, die zumindest mit Blattgold überzogen, wenn nicht gar aus reinem Gold gefertigt waren. Ihre Blicke schweiften über die mit Goldblech überzogenen Wände, die Darstellungen diverser heiliger Ereignisse zeigten. Einige noch kahle Stellen ließen vermuten, dass hier später noch überdimensionale Bilder oder Gobelins aufgehängt werden sollten. Beeindruckend, wie auch die beiden Rondrianerinnen zugeben mussten, war die kristallene Kuppel die von bleiernen Querverstrebungen an Ort und Stelle gehalten wurde. Absoluter Blickfang aber war der Sonnenalter, der aus massivem Gold zu sein schien. Unweigerlich stellten die beiden sich die Frage, woher die Praioskirche eine solch immense Menge Gold nahm. Sollte es wahr sein, was einige Gerüchte besagten, nämlich dass die Praioskirche plante, ganz Weiden zu bekehren?

Ein Mann, der ins Gebet versunken war, stand von der harten Bank auf und ging zum Ausgang. Als er an den beiden Rondiranerinnen vorüber kam, nickte er ihnen höflich und ehrerbietig zu. Sodann waren sie allein. Aber war da nicht leiser Gesang der aus der Sakristei drang, immer wieder unterbrochen von einer tiefen Männerstimme?

Alinja atmete betont ein. „Nun, ich fürchte wir müssen seine Hochwürden bei einer Unterweisung stören, wollen wir nicht unverrichteter Dinge wieder abziehen. Und nein, das wollen wir nicht.“ Sie schmunzelte kurz. „Wobei, sag’ an Lanzelind, hast du dem Götterfürsten schon einmal ein Opfer dargebracht?“

Das Mädchen schüttelte stumm den Kopf. All die Pracht, der überwältigende Reichtum hatten ihr die Sprache verschlagen, Alinja erkannte es in ihren Augen und ihr Lächeln vertiefte sich. „Gut, dann werden wir die Zeit nutzen. Ich muss Hochwürden ja nicht den ganzen Beutel geben.“ Elegant warf sie ihren weiten Kapuzenmantel zurück und öffnete ihre, mit lilienförmigen Nieten verzierte Gürteltasche um darin herumzukramen. „Hier, Tochter, ein Bernstein, der heilige Stein des Herrn Praios. Eigentlich werden sie in besonderen Liturgien verbrannt, aber ich finde, wir können heute eine Ausnahme machen. Wiewohl es schon etwas Besonderes ist, wenn du dem Herrn dein erstes Opfer darbringst, eh?! Komm, ich leite dich an.“

Sie strebten einem ebenfalls güldenen Kohlebecken zu und Alinja überreichte Lanzelind einen recht ansehnlichen Bernstein. „Halte ihn an die Kohlen, bis er glimmt und Rauch aufsteigt, dann legst du ihn in die Schale inmitten der Kohlen. Ich werde ein Gebet rezitieren und du wirst es wiederholen.“

Lanzelind tat, wie geheißen, blickte fasziniert auf das Schauspiel, das ein vermeintlich brennender Stein bot und entließ den Bernstein erst, als Alinja sich leise räusperte. Die Hochgeweihte drehte sich dem Sonnenalter zu und begann mit ihrer wohlklingenden, predigt-gewohnten Stimme zu beten:

„Praios der Herr, er sei gelobt,
Fürst der Götter, Gott der Fürsten.
Sein ist die Gerechtigkeit.
Er spendet die heilige Ordnung.
Sein Bannstrahl verbrennt das Unrecht.
Er erhellt die Welt mit seinem Licht und macht die Finsternis offenbar.
Er ist es, der uns führt und leitet,
von seiner Schwester Tsa erstem Hauch,
durch den Kampf in der göttlichen Leuin Namen,
in die ewigen Arme seines Bruders Boron.
Möge sein Licht uns erleuchten und uns Gerechtigkeit widerfahren.
Aiwah!“

Getreulich wiederholte Lanzelind jeden Satz, wenngleich deutlich leiser. Der Rauch aus dem Kohlebecken umgarnte ihre Nase und sie sog den fremden Duft genüsslich ein. Alinja musterte sie interessiert und lächelte dann zufrieden. „Merk es dir, es ist ein starkes Gebet. Und nun müssen wir Hochwürden wohl doch stören.“

Lanzelind zweifelte daran, dass sie nicht längst bemerkt worden waren. Die Stimme ihrer Schwertmutter hatte den Tempel mühelos ausgefüllt und vermutlich war genau das auch ihre Absicht gewesen. Trotzdem strebten sie der Tür zu, hinter der sie vorhin den Gesang vernommen hatten. Alinja zog ihren Schwertgurt zurecht und den mit weißem Pelz verbrämten Wappenrock aus feiner Wolle, den sie unter dem Mantel trug, glatt. Sie waren beide in Gewänder gekleidet, die dem ersten Anschein nach schlicht und dennoch von bester Güte waren. Die Kirche Rondras hatte es nicht nötig zu protzen, hatte Alinja gesagt. Sie ist, was sie ist und so treten wir auch auf. Nun klopfte sie einmal an und trat dann einen Schritt zurück. Irgendwie wirkte sie dabei, als erwarte sie einen Kampf.

Die Tür wurde geradezu aufgerissen. Alinja und Lanzelind hatten Schwierigkeiten das Gleichgewicht zu wahren, als plötzlich eine Schar Kinder auf sie einstürmte und sich zwischen ihnen hindurch drängelte. Alinja fuhr der Schreck fürwahr in die Glieder, mit drei schnellen Schritten bewegte sie sich aus dem Reigen der Kinder heraus und ehe sie es wehren konnte, hatte ihre Hand erneut nach Leuenklinges Knauf gegriffen. Die Kinder nahmen es zwar nicht wahr, aber von einem Moment zum anderen war Alinja zu einer sprungbereiten Kämpferin geworden, die sich – das war offenkundig – in der Enge wähnte.

Den Kindern folgte ein etwa 30-jähriger Mann, in praioranischer Ordenstracht. Er lächelte die unerwarteten Gäste entschuldigend an, ging dann aber an ihnen vorbei, denn am Tempelausgang wartete voller Ungeduld die Kinderhorde. Der Mann legte seine Hand auf das Haupt jedes Kindes und sprach einen Segen, woraufhin die Kleinen johlend nach draußen stürmten. Lächelnd sah er ihnen noch einen Augenblick nach, ehe er sich umwandte und sich Alinja und Lanzelind näherte.

„Verzeiht, dass ich mich nicht sofort euch zuwandte, doch Kinder stehen an Wichtigkeit wesentlich höher als jeder Erwachsene. Sind sie es doch, die fürderhin den rechten Glauben in die Welt tragen. Doch nun seid willkommen im Haus des allwissenden Götterfürsten. Womit kann ich meinen Schwestern der Rondrakirche behilflich sein?“ Seine Stimme klang kein bisschen arrogant, wie die beiden Frauen vielleicht erwartet hatten, sondern war voller Güte und Freundlichkeit.

Die Kinder brausten vorüber und die Augenblicke, da sie den Segen empfingen, nutzte Alinja um sich zu sammeln. Ein wenig fahrig wischte sie sich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht und schöpfte tief Atem. Als der Geweihte – Alinja war sich dessen nicht sicher – sie ansprach, erwiderte sie sein Lächeln. „Praios zum Gruße und Dank für Euer warmes Willkommen“, sie verbeugte sich leicht und sprach mit angenehmer, ja, wohlklingender Stimme, aus der noch immer ein Anklang ihres bornischen Zungenschlags herausklang. „Ich bin Alinja Leuenklinge von Norburg, Schwertschwester Lohenharschs zu Baliho und Legatin ihrer Eminenz Aldare VIII. Donnerhall von Donnerbach. Die ist meine Schwerttochter Lanzelind von Rauheneck. Ich möchte um ein Gespräch mit dem Vorsteher dieser Halle ersuchen.“

Auf das freundliche Gesicht des Praioraners legte sich ein Schatten des Bedauerns. „Leider müsst Ihr Euch etwas gedulden. Der Herr Tempelvorsteher ist derzeit auf Burg Aarkopf, wo er sich mit dem neuen Grafen berät. Wir erwarten ihn aber jeden Moment zurück. Ich heiße Alburn von Hasselbrinck und ich würde mich freuen, wenn ich Euch vielleicht helfen könnte? In welcher Angelegenheit wünscht Ihr ihn denn zu sprechen?“

„Nein, ich fürchte, ich muss seine Hochwürden persönlich sprechen, dennoch danke für Euer Angebot.“ Alinja seufzte leise, dann musterte sie Alburt etwas genauer. „Euer Habit ist mir derzeit nicht geläufig. Seid Ihr Geweihter?“

Alinjas Gegenüber nickte in einer Art und Weise, als ob er eine solche Antwort erwartet hätte. Auf ihre Frage flog ein fast schon entschuldigendes Lächeln über sein Gesicht.

„Oh, aber ja. Ich gehöre dem Orden der Gurvaniaten an. Hier in Weiden ist unsere Gemeinschaft bislang klein. Wir beschäftigen uns mit der Rekonstruktion verschollener oder vielmehr verschollen geglaubter Choräle des heiligen Gurvan. Und ganz in seiner Tradition werden von uns auch neue Choräle geschrieben. Kurz bevor ihr kamt, studierte ich mit den Knaben und Mädchen den Choral ‚Oh, Praios Lobgesang über allen Dächern‘ ein. Das ist ein Choral, der von mir geschrieben wurde.“ Bei dem letzten Satz schwang ein gewisser Stolz in seiner Stimme mit, und doch kam nicht der Eindruck von Überheblichkeit auf. „Vielleicht möchten die hochachtbaren Damen auf den bequemen Stühlen Platz nehmen, während sie warten?“

Alburn von Hasselbrinck wies auf eine, von den harten Bänken durch einen Zaun abgetrennte, Sitzgruppe, die ganz den Anschein erweckte, dass dort die Adligen und hochgestellten Persönlichkeiten während der Gottesdienste Platz nehmen durften. Die Stühle waren gut gepolstert und sahen reichlich bequem aus.

„Ah“, war zunächst Alinjas einzige Reaktion, derweil sie Alburn fest in die Augen sah. „Gurvaniaten, ja, dieser Orden ist mir bekannt. Nur gesehen habe ich noch keinen der Euren, Eurer Gnaden. Ein löbliches Tun, dem Ihr Euch verschrieben habt und wieder einmal bringt das Weidenland einen Orden von Bewahrenden und Suchenden hervor. Sehr schön, fürwahr.“ Die Hochgeweihte schmunzelte leicht.

Sie folgte Alburns Handbewegung und nickte leicht. „Gern, gesellt Ihr Euch zu uns? Natürlich nur, wenn Ihr die Zeit erübrigen könnt. Ich würde es nämlich sehr zu schätzen wissen, wenn Ihr meiner Schwerttochter etwas über die Gurvanischen Choräle erzählen würdet. Sie ist erst seit Kurzem in meiner Obhut und ich lege Wert auf eine breit gefächerte Bildung. Wer wäre berufener als Ihr, Lanzelind diese näher zu bringen?!“

Der Gurvaniat nickte freundlich und setzte sich zu den Damen. In der nächsten halben Stunde erklärte er der Novizin die Aufgaben der Gurvaniaten. Er war noch nicht zum Schluss gekommen, als sich im Portal eine fröhlich pfeifende Gestalt zeigte. „Euer Gesprächspartner“, meinte Alburn und verabschiedete sich.