Der Hag, Weidenhag, Anfang Rahja 1034 BF
 
Nolle seufzte. Es war ihnen gelungen die sichere Palisade des Dorfes Weidenhag zu erreichen. Es waren beschwerliche Tage, die er und sein junger Begleiter, der junge Herr Feyenhold, erleben mussten - immer auf der Flucht vor den Häschern, die das Leben seiner Herrin - und Feyenholds Mutter Waidgunde - beendeten. Von der nördlichen Wildermark aus schlugen sie sich über die Baronie Dornstein bis nach Weidenhag durch. Erst ab dem weidenhager Dorf Südhag hatte Nolle das Gefühl, dass sie lebend aus dieser Sache herauskommen würden. Der alternde Waffenknecht hatte sich die letzten Tage über des Öfteren Gedanken über das „wie“ und „warum“ gestellt, doch wollten ihm keine Antworten in den Sinn kommen.
 
Es war ein warmer Tag im frühen Rahja und das Praiosmal hatte gerade seinen höchsten Stand erreicht als die beiden den Hagweg - vorbei an den rüstigen Häusern hin zum Marktplatz und dem eigentlichen Herzen der Siedlung - durch den Hauptort der Baronie folgten. Eigentliches Ziel der beiden war der Baronssitz der Weidenhager Herrscherfamilie. Wie jeden Tag sollten auch heute die Tore des Hags für das einfache Volk geöffnet sein.
 
Das Wehrgut ist von einer Bruchsteinmauer umgeben und beherbergt neben einem geräumigen Gutshaus, in welchem Reisende und Dörfler in Ermangelung eines Gasthauses gegen ein geringes Entgelt oder eine Spende für die Traviakirche Aufnahme und Speisung erhalten können, ebenso geräumige Stallungen und Gesindebehausungen den einzigen Traviatempel der Baronie.
 
Im Gutshaus angekommen ließ Nolle seinen Blick über die sich vor ihm bietende Szenerie schweifen; die Luft war geschwängert vom Duft nach frischen Brot, Fleisch und Bier. Zwei junge Mägde nahmen Bestellungen auf und servierten den vielen Gästen Speis und Trank. Die Baronin selbst saß an einem mächtigen Tisch auf einem erhöhten Podest in einem schweren Eichenstuhl und lauschte der Darbietung einer blondhaarigen Bardin, während sie frech mit einer schwarzen Haarsträhne spielte.
 
Der alternde Recke hatte schon öfter vom Liebreiz der Weidenhager Baronin gehört; Ihr glänzendschwarzes Haar, die ebenmäßigen Gesichtszüge, das ständige Lächeln auf ihren edel geschwungenen Lippen, ihr rotes, enganliegendes Kleid…etwas länger als es sich geziemt hatte starrte Nolle zu seiner Gastgeberin, die ihm jedoch noch keine Aufmerksamkeit zu schenken schien. Erst als die Bardin, sie nannte sich Alwine, ihr Stück beendete blickte sie auf.
 
Gwidûhenna von Gugelforst bedeutete ihnen sich ihr zu nähern. Als Nolle und Feyenhold an Alwine vorüber hin zum Tisch der Baronin schritten, spürte der alternde Recke den Blick der Bardin ungewöhnlich lange auf Feyenhold ruhen. Eine Tatsache, die ihm die Nackenhaare aufstellte. Dieses Gesicht – er meinte sie zu kennen, doch verdrängte er den Gedanken wieder als er am Tisch der Baronin ankam.
 
„Euer Hochgeboren. Ich grüße Euch im Namen der Zwölfe…“ Der Knecht verneigte sich und Feyenhold tat es ihm gleich. „…ich bringe Euch Kunde von der Hohen Dame Waidgunde Welkenstein.“
 
Die Baronin hob interessiert eine Augenbraue und ließ dieser Reaktion ein Lächeln folgen. „Waidgunde…“ murmelte sie und blickte interessiert auf Feyenhold. „Setzt Euch zu mir und seid meine Gäste. Viel zu Lange schon habe ich nicht mehr von meiner Freundin gehört. Wie geht es ihr?“
 
„Herrin…“, er stockte. „Sie ist tot.“
 
„Bei der Gütigen…“, entfuhr es der Baronin und sie hielt sich bestürzt eine Hand vor den Mund. Erst jetzt konnte Nolle erkennen, dass die Baronin in freudiger Erwartung war. „Wie…wie ist das geschehen?“
 
Nolle erzählte der Baronin von den Ereignissen der letzten Wochen; von Waidgundes Tod und ihrer Flucht. Dabei merkte weder er noch seine Gastgeberin das Lächeln, das sich auf das Gesicht der Bardin Alwine stahl…