Dramatis Personae

 

Im Vertrauen

Grafenhof in Olat, Baronie Mittenberge
Mitte Rahja, 1039 BF

Griseldis kam in den Raum gefegt wie ein Wirbelsturm. Das lange braune Haar zerzaust, vermutlich von einem Ausritt. Die grünen Augen strahlend, wie seit einigen Wochen fast jeden Tag. Der Grund dafür war einfach: Die Anwesenheit dieses lästigen Creyenachers hob ihre Laune. Und zwar in einem Maß, das sie unempfänglich für alles machte, was sonst um sie herum geschah. Sie hatte nur noch diesen Mann im Sinn und bemerkte darüber nicht mehr, wie wenig schicklich sie sich betrug. Es zeugte nicht gerade von Umsicht, sich öffentlich an seinem Liebesglück zu berauschen, wenn andernorts Hunderte von Weidenern ihre Leben im Kampf gegen Haffax und seine Schergen aufs Spiel setzten.

Nicht, dass Walderia der Meinung gewesen wäre, ein jeder von ihnen müsse in Sack und Asche gehen bis das Heer wieder zurück war. Aber ein bisschen mehr Taktgefühl wäre schon wünschenswert gewesen. Insbesondere von der künftigen Gräfin Bärwaldes. Bisher hatte Walderia es bei vorsichtigen Hinweisen belassen, die ihre Adoptivtochter zum Innehalten und Nachdenken bewegen sollten. An den Tagen der Freude allzumal, an denen es kaum im Sinne der Götter war, jemanden zu Zurückhaltung und Enthaltsamkeit aufzurufen. Aber die lagen nun schon mehr als eine Woche zurück und Griseldis’ Verhalten zeigte keine erkennbare Veränderung. Es wurde also Zeit, dass sie ein ernstes Wort mit ihr redete.

„Du hast nach mir geschickt“, stellte das Mädchen just fest.

„In der Tat“, Walderia nickte und legte das Büchlein beiseite, in dem sie geschmökert hatte. Sie wappnete sich innerlich, während sie ihrer Tochter mit einer einladenden Geste bedeutete, sich ebenfalls zu setzen. „Wir müssen reden.“

„Worüber?“

„Über dich“, meinte Walderia, während ihr Blick auf einen Zweig und etwas Moos fiel, die sich in den Haaren ihres Gegenübers verfangen hatten. Griseldis war wohl nicht nur geritten. „Wo bist du gewesen?“, fragte die Gräfin leise seufzend.

„Am Finsterbach.“

„Mit wem?“

„Wolfhart.“

Walderia sah, wie sich ein misstrauisches Funkeln in Griseldis Augen schlich und sie den Unterkiefer leicht vorschob. Das waren Vorboten der wilden Sturheit, die sie in den vergangenen Gesprächen über ihre Beziehung zu dem Creyenacher schon an den Tag gelegt hatte und nichts, was Walderia die Sache leichter machte. Sie verfluchte den Mann im Stillen, wahrte nach außen hin aber eine möglichst neutrale Miene, während sie bedächtig nickte. Dann hob sie wieder an:

„Über ihn müssen wir auch reden. Darüber, was ihr da momentan veranstaltet. Ich habe mannigfach versucht, es dir im Guten zu sagen, Kind, aber offenbar kommt es so nicht an. Also will ich diesmal etwas klarer werden.“ Walderia machte eine Pause, in der sie überlegte, wie sie die Wahrheit ausdrücken sollte, die es an die Frau zu bringen galt. Sie kam rasch zu dem Schluss, dass es keinen guten Weg gab, zu sagen, was sie sagen wollte. Griseldis würde so oder so aufbrausen. „Das muss aufhören“, stellte sie daher nüchtern fest.

„Bitte?“, Griseldis kniff die Augen zusammen und stieß die Frage als leises Zischen aus.

„Ihr müsst damit aufhören!“, wiederholte Walderia. „Es geht nicht an, dass du dich derart vertändelst. Götter, Griseldis, die Spatzen pfeifen es schon von den Dächern.“

„Na und? Wen hat das zu interessieren?!“

„Da du die künftige Gräfin Bärwaldes bist, interessiert es viele. An erster Stelle mich“, erwiderte Walderia. „Und ich gestatte es nicht!“

„Du gestattest es nicht?“, Griseldis starrte sie ungläubig an.

„Ich gestatte es nicht“, wiederholte Walderia ruhig und nickte. „Ich gestatte nicht, dass meine Erbin sich die Zeit mit einer so unwürdigen Liebschaft vertreibt. Du wirst dich nicht zum Gespött der Leute machen, Griseldis.“

„Unwürdige Liebschaft?“

„Derlei kann sich eine einfache Ritterin vielleicht erlauben, aber keine angehende Gräfin.“

„Dann mach ich ihn eben zu meinem Mann“, kam es wie von der Sehne geschnellt. „Wäre das in deinen Augen weniger unwürdig?“

„Zu deinem Mann?“ Nun war es an Walderia, ungläubig zu starren. Offenbar hatte sie unterschätzt, wie sehr die Verliebtheit ihrer Erbin schon zu Kopf gestiegen war.

„Das wollte ich ohnehin“, Griseldis schob das Kinn noch ein bisschen weiter vor und hob es dann herausfordernd. „Ich liebe ihn!“

„Hesinde hilf!“, entfuhr es Walderia. „Du wirst das kurze Auflodern körperlicher Gelüste ja wohl nicht mit Liebe verwechseln wollen, Kind?!“

„Kurzes Auflodern?“, ihre Adoptivtochter lachte und irgendwie klang das ebenfalls herausfordernd. „Ich kenne Wolfhart seit Jugendtagen. Ich habe ihn damals schon geliebt. Hättest du ihn nicht fortgeschickt, weil er es wagte, die Wahrheit über deinen tollen Neffen auszusprechen, wäre ich wahrscheinlich schon längst mit ihm vermählt.“

„Unsinn!“

„Unsinn? Nein, so ist es gewesen. So und nicht anders!“, Griseldis bedachte Walderia mit einem frostigen Blick. „Damals hat unsere Verbindung niemanden interessiert. Da ist keiner gekommen und hat mir gesagt, dass ich die Finger von ihm lassen soll.“

„Damals warst du noch nicht die Erbin des Bärwaldener Grafenthrons.“

„Was willst du mir damit sagen?“

„Das Offensichtliche“, Walderia hielt einen Moment inne und strich mit der Hand über den Buchrücken, während sie zu ermessen versuchte, was für einen Sturm ihre nächsten Worte wohl heraufbeschwören würden. „Dass der Mann keine annehmbare Partie für dich ist. Nicht mehr!“

„Was?“, zischte Griseldis und setzte sich mit einem Ruck auf.

„Als Gräfinnengemahl kommt er nicht in Frage. Er ist ein niederer Adeliger, der sich der Kunst verschrieben und keine Ahnung von Anstand hat. Er weiß offenbar nicht, was sich für einen Ehrenmann geziemt und wovon er tunlichst die Finger zu lassen hat.“

„Was meinst du damit? Dass er es gewagt hat, Emmeran den Spiegel vorzuhalten, nachdem der sich aufführte wie ein Schwein? Er hat Wolfharts Bruder in seinem selbstgerechten Wahn den Lebenswillen geraubt und ihr deckt alle schön das Mäntelchen des Schweigens darüber. Kein Wunder, dass er aufbegehrt! Ich täte es ebenso, wenn der Freitod meines Bruders totgeschwiegen würde.“ Griseldis Augen funkelten zornig, als sie das sagte. „Oder verdammst du ihn dafür, dass er es jetzt wagt, die Nähe der Frau zu suchen, die er liebt? Allein für mich hat er seinen Stolz außer Acht gelassen und ist an einen Ort zurückgekehrt, von dem man ihn einst mit fadenscheinigen Argumenten vertrieb!“

Walderia betrachtete das Blitzen in den Augen ihrer Erbin und seufzte leise. „Beides“, meinte sie dann. „Das wiegt aber nicht so schwer wie seine niedere Geburt.“

„Ich bin selbst von niederer Geburt.“

„Du bist Abkömmling eines Hauses, das schon einmal auf dem Grafenthron von Bärwalde saß. Vergiss das nie! Ihr steht nicht ansatzweise auf einer Stufe, Liebes.“

„Nenn mich nicht so!“, rief Griseldis, deren eigentlich recht blasses Antlitz mittlerweile von Zornesröte überzogen war. „Du willst mir verbieten, den Mann zu freien, den ich erwählt habe. Da ist das alles andere als angemessen!“

„Es wäre alles andere als angemessen, wenn Griseldis von Pallingen, Gräfin von Bärwalde, den Bund mit einem Wolfhart von Creyenach, Herr von gar nichts und noch dazu schlecht erzogen und beleumundet, schließen würde.“

„Ich nehme ihn oder keinen!“, verkündete Griseldis und untermalte die Feststellung mit einer hektischen Geste. „Höre meine Worte: Wenn du mir nicht gestattest, Wolfhart zu meinem Mann zu nehmen, wird es keine Hochzeit geben! Dann könnt ihr schlauen Leute mit euren ach so genauen Vorstellungen davon, was angemessen ist und was nicht, selbst schauen, wie ihr weiterkommt. Mit der zweiten Gräfin in Folge, die unverheiratet und ohne Kinder bleibt!“

„Das wird nicht geschehen“, erwiderte Walderia. Ihre Stimme klang noch immer gelassen, doch diesmal kostete es sie Kraft, die Ruhe aufrechtzuerhalten.

„Ach nein? Und warum nicht?“, fragte Griseldis, derweil sie ihre Lippen zu einem verächtlichen Lächeln verzog. „Ist das ein Privileg, das nur du genießt? Allein zu blieben, weil der Mann, den du liebst, für dich nie greifbar war?“

„Das ist kein Privileg, es ist eine Bürde“, erwiderte Walderia ohne auch nur für die Dauer eines Lidschlags zu zögern. Einmal in Wut war Griseldis normalerweise nicht empfänglich für leise Zwischentöne, jetzt aber horchte sie auf. Die Gräfin sah, wie der Blick ihrer Tochter sich mit neu erwachtem Interesse an ihr Gesicht heftete. Zudem meinte sie einen Hauch Mitgefühl zu erkennen. Offenbar hatte der Klang ihrer Stimme mehr preisgegeben als beabsichtigt. Nun, wenn dem ohnehin so war, konnte sie auch noch einen draufsetzen.

„Glaube nicht, dass es mich glücklich macht, allein zu sein“, fuhr sie fort. „Das hat es vielleicht am Anfang mal getan, als ich mich noch der romantischen Vorstellung hingab, dass ich damit einem hehren Ideal nacheifere. Mittlerweile aber ist es zu einem Fluch geworden und es gab seit vielen Jahren keinen Tag mehr, an dem ich mich nicht gefragt habe, was hätte sein können.“

„Und jetzt willst du mich auch verfluchen?“, fragte Griseldis, nachdem sie sie einen Moment lang schweigend angesehen hatte. „Es läge doch in deiner Macht, mir den Weg zu meinem Glück zu ebnen. Warum tust du es nicht?“

„Nicht allein in meiner“, erwiderte Walderia bedächtig. „Wenn eine Gräfin zu heiraten gedenkt, gibt es viele, die sich einmischen.“ Sie überlegte kurz und hob dann die Schultern. „Es ist wichtig, dass du begreifst: Dein Glück hängt nicht von einem einzigen Menschen ab, Griseldis. Es gibt viele Wege, die ans Ziel führen, und viele Menschen, die uns dabei begleiten können. Ich habe den Fehler gemacht, mich zu sehr auf einen Weg zu versteifen. Ich lasse nicht zu, dass du ihn wiederholst.“

„Und ich werde nicht von Wolfhart lassen!“

„Ich zwinge dich nicht dazu“, meinte Walderia nüchtern. „Dir steht auch noch die Option offen, vom Grafenamt zu lassen. Du hast einen Bruder, vielleicht ist der ja zugänglicher.“

„Was?“

„Jede Entscheidung, die wir fällen, hat Konsequenzen“, erklärte Walderia. „Wenn du glaubst, dass dein Leben nur an Wolfharts Seite Sinn ergibt, halte dich an ihn. Wenn du aber glaubst, dass es vornehmer und wichtiger ist, das Grafenamt auszufüllen, zu dem dir der Weg durch Schweiß und Blut geebnet wurde, musst du von diesem Mann lassen.“ Die Gräfin warf einen nachdenklichen Blick in das aufgewühlte Gesicht ihrer Erbin und rang sich zu einem milden Lächeln durch. „Geh nun. Ich brauche jetzt keine Antwort. Nimm dir Zeit, um darüber nachzudenken. Sprich mit deinen Vertrauten. Und dann teile mir deinen Entschluss mit.“

Walderia hoffte inbrünstig, dass es der richtige sein würde.