Feste Räuharsch, Baliho
Mitte Rahja 1030 BF

Mit geradezu wissenschaftlicher Neugier verfolgte Wahlafried den Weg der Justiziarin, der sie nun sicher bereits zum hundertsten Mal an ihm vorbei führte. Auf und ab und auf und ab, ihr Gebaren gemahnte an ein wildes Tier, das unversehens in Gefangenschaft geraten war. Hoch aufgerichtet und mit stierem Blick durchmaß die junge Adelige ihren Käfig, durchmaß die gräfliche Schreibstube wieder und wieder, hielt dabei in jeder Hand einen Stoß Pergamente und versuchte, tausend Dinge auf einmal zu erledigen.

Wo es gemeinhin schon wirkte als würde der stocksteifen Gestalt der gebürtigen Wehrheimerin zu viel Energie für eine einzelne Person innewohnen, machte sie heute den Anschein einer bis an den Rand der Belastbarkeit gespannten Bogensehne. Der große Knall schien unmittelbar bevorzustehen und Wahlafried hatte noch nicht entschieden, ob es gut oder doch eher schlecht sein würde, dieses Ereignis aus erster Hand mitzuerleben.

Statt sich aber näher mit jener sicher nicht ganz uninteressanten Frage zu befassen, verlagerte er seine Betrachtungen zurück in Richtung einer einzelnen, silbrig glänzenden Haarsträhne, die schon seit Stunden einen erbitterten Kampf gegen die perfekt sitzende Frisur der ehemaligen Hauptfrau führte. Würde er heute noch in den Genuss kommen, der Befreiung der Unterdrückten beizuwohnen? Würde die Mersingerin vorher für Ordnung sorgen? Oder würde sie ihren Zusammenbruch erleiden, ehe diesbezüglich noch irgendetwas in die Wege geleitet werden konnte? Das wäre eine Wette wert gewesen, wenn er nicht so furchtbar weit weg von seinen...

“... eine Befreiung gemäß Artikel 4 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 3 Satz 5 Alternative 1 des gräflichen Erlasses vom 12. Praios 985 BF nicht gewährt werden kann”, sie hatte ihn also doch nicht vergessen, “Entgegen Eurer Einlassung ist diese Ausnahmeregelung auf den vorliegenden Sachverhalt nicht anwendbar. Schreib’ das so!”

Den Blick nach wie vor fest auf ein Pergament in ihrer Linken gerichtet, machte Greifgolda von Mersingen mit dem Stapel in ihrer Rechten eine vage Bewegung in Wahlafrieds Richtung. Mit kratzender Feder eilte er sich, ihrer Aufforderung nachzukommen, denn er wusste, dass ihm nicht viel Zeit bleiben würde.

“Die Gründe für die Unmöglichkeit einer Subsumtion des Vorgangs unter die von Euch zitierten Vorschriften sind mannigfach, müssen an dieser Stelle jedoch nicht ausführlich erörtert werden, da eine Exkulpation mangels Erfüllung der Eingangsvoraussetzungen ohnehin undenkbar ist. Die Behauptung, da...”

“Hohe Dame?”

“Was ist?”

“Ihr sagtet ich solle mich melden, sobald ich fertig bin.”

Auftritt einer jungen Schreiberin, die erst vor wenigen Wochen in den Dienst der Burggräfin getreten war. Wahlafried unterbrach seine Arbeit, um dem Mädchen einen neugierigen Blick zuzuwerfen. Das arme Ding war vor Aufregung ganz blass um die Nase und die Hand, mit der es der Justiziarin ein mehrseitiges Schreiben entgegenstreckte, zitterte verdächtig. Unwirsch legte die Mersingerin den rechten Pergamentstapel beiseite, um den Wisch entgegennehmen zu können.

“Die Forderung des Schmieds, der sich vom Sturmbanner um seine Einnahmen geprellt fühlt?”

“Ja, Herrin.”

“Zwölf Säbel, eh?”

“Ja, Herrin.”

“Was ist das da für ein Betrag?” Mit fragend gehobenen Brauen drehte die Justiziarin das Pergament so, dass die Schreiberin es lesen konnte.

“H... . Hhhhund... . Einhundertundsechsundzwanzig Silbertaler?”

“Kommt Ihr daran vielleicht irgendetwas seltsam vor?”

“Ein bisschen wenig ... ?”

“Exakt. Es müssten Goldmünzen sein.”

“Oh ... oh nein! Das ist mir sehr unangenehm, Herrin, das wird ga...”

“Beim nächsten Mal nicht nur schreiben, sondern auch ein bisschen denken, wenn es irgend möglich ist. Und jetzt: Das Ganze nochmal von vorn!”

Die Mersingerin gab der gräflichen Schreiberin ihre Arbeit zurück und wandte sich mit säuerlicher Miene ab. Einen Augenblick später hatte sie ihren zweiten Pergamentstapel schon wieder zur Hand genommen und marschierte zum hundertundzehnten Mal an Wahlafrieds Schreibpult vorbei. Er warf seiner jungen Collega einen mitleidigen Blick nach, wurde dann aber gleich zurück an die Arbeit gepfiffen.

“Wo waren wir stehengeblieben?”

“Die Behauptung, dass ...”

“Die Behauptung, dass Pardel gemeinhin nur auf ein entsprechendes Kommando ihrer Führer hin zu jagen beginnen und somit nicht anders als Hunde behandelt werden sollten, mag eines wahren Kerns nicht entbehren. Auch stellt niemand in Abrede, dass die Vielfalt der Weidener Flora und Fauna für ein solches Tier mitunter verwirrend sein und sich daher unvorteilhaft auf seine Zuverlässigkeit auswirken kann. Gerade diese Feststellung ist allerdings ein klares Anzeichen dafür, dass Pardel keineswegs als ‘heimische Nutz- oder Arbeitstiere’ bezeichnet werden können, was wiederum zu einer erhöhten Sorgfaltsplicht führt, welcher Ihr bedauerlicherweise nicht im nachgekommen seid. Letzteres zumindest ... hast du so etwas schon einmal gesehen?”

Wahlafried zuckte erschrocken zusammen, als die Mersingerin direkt vor seinem Pult stehen blieb und ihm mit anklagender Miene eine großformatige Karte der Baronie Menzheim vor die Nase hielt.

“Was beim Zirkel der weisen Dhara soll das bitte sein?”

“Eine Karte?!”

“Karte von was?”

“M...etzheim?”, er konnte sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen, als er der verunglückten Namensgebung gewahr wurde, “Von Menzheim natürlich, Hohe Dame.”

“Von Menzheim?”

“Ja.”

“Ist das so?”, die rechte Braue der Rittfrau wanderte in ein Stück weit die Höhe, “Dann müssten die Namen Neu-Schlackenstein, Rajas Geblüt und Freudenburg mir wohl vertraut sein?”

Für einen seltsam unwirklichen Augenblick meinte Wahlafried Spott aus der Stimme der Adeligen herauszuhören. “Nicht direkt, Hohe Dame. Es scheint als hätte der Urheber ein Problem mit der Rechtschreibung.”

“Mit der Rechtschreibung?”

“Vermutlich ist er eher Künstler als Schreiberling.”

“Künstler?” Unbarmherzig tippte der Zeigefinger der Mersingerin auf einen Fleck des farbenfrohen Werkes, der offenbar einen Wald darstellen sollte. Wahlafried konnte nichts Schlechtes daran finden und hob daher bloß ratlos die Schultern. “Meine neunjährige Nichte hätte das besser hinbekommen.”

“Nun ja, der arme Mann hat wohl ged...”

“Der arme Mann will sich mit diesem Fetzen als Kartograph in den Diensten der Burggräfin empfehlen. Oder jedenfalls steht das so im Begleitschreiben. Ich würde es eher für einen schlechten Witz halten, aber was weiß ich schon?” Mit energischer Geste faltete sie die Karte, sortierte sie dann ans untere Ende ihres Pergamentstapels und wollte wieder davon rauschen, als Wahlafried sich ein Herz nahm.

“Dürfte ich Euch wohl etwas fragen, Hohe Dame?”

“Nur zu.”

“Wo wir uns die ganze Zeit schon mit der Jagd befassen und gerade auf Ihre Hochwohlgeboren zu sprechen kamen: Ihr seid doch auch nach Hollerheide eingeladen, oder?”

“Das bin ich.”

“Anstatt Euch aber auf das freudige Ereignis vorzubereiten, befindet Ihr Euch seit Tagen schon hier in der Schreibstube und halst Euch Arbeit auf als gä...”

“Es gibt viel zu tun. Wenn die Arbeit hier liegen bleibt, kann ich mich kaum guten Gewissens auf den Distelstein begeben, um dort dem Müßiggang zu frönen.” Sie hatte ihren Blick wieder auf die Pergamente gerichtet und wühlte sich mit flinken Fingern durch den beängstigend dicken Stapel.

“Ihre Hochwohlgeboren ist vor einen paar Tagen schon aufgebrochen, Hohe Dame, wann gedenkt Ihr abzureisen? Langsam wird es ja doch etwas knapp.”

“Vor einen paar Tagen schon?”, Wahlafried glaubte einen Hauch von Verunsicherung in den hellen Augen der gräflichen Justiziarin aufblitzen zu sehen, doch so schnell der gekommen war, schwand er auch wieder, “Ihre Hochwohlgeboren wird einen Abstecher nach Moosgrund machen und dort Ihrer Hochwürden die frohe Kunde überbringen. Ich habe noch genug Zeit.”

Die hatte sie in der Tat, aber darum ging es ja eigentlich auch gar nicht. Wahlafried sah der Wehrheimerin zufrieden grinsend hinterher, als sie wieder losmarschierte – ein bisschen schneller als zuvor. Er hatte seine eigene Theorie zur Beantwortung der Frage, warum Greifgolda von Mersingen sich seit Tagen schon rettungslos in Arbeit vergrub – Arbeit, wohlgemerkt, die nicht einmal notwendigerweise die ihre war – und dabei angespannt wirkte wie selten zuvor. Seiner Meinung nach versuchte sie krampfhaft, ihre Gedanken in vertraute Bahnen zu lenken und war dabei nur teilweise erfolgreich.

Vor wenigen Wochen erst hatte sie ihn nach einem Büchlein über die Jagd gefragt, das zu der winzigen gräflichen Sammlung gehörte. Danach fand er, mehr durch Zufall als durch geschicktes Taktieren, heraus, dass ihr Kenntnisstand auf diesem Gebiet verheerende Lücken aufwies. Wenn man es genau nahm, ließ sich vermutlich gar leichtens behaupten, dass sie so gut wie gar nichts über den edelsten aller adeligen Zeitvertreibe wusste. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie sich das dünne Machwerk einverleibt und danach nicht wesentlich glücklicher gewirkt als zuvor.

Wahrscheinlich war der Gedanke an das bevorstehende Ereignis eine unsägliche Tortur für die Wehrheimer Offizierin von einst, der neben einigen anderen, überaus merkwürdigen Marotten unübersehbar auch der beinahe schon zwanghaft zu nennende Perfektionismus geblieben war. Für jemanden wie sie musste es schlicht und ergreifend unerträglich sein, zu wissen wie viele potentielle Stolperfallen eine Jagd bot und dass es einem Anfänger völlig unmöglich war, sie alle zu meiden.

Wahlafried richtete sein Augenmerk wieder auf die Mersingerin und sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter, als er sah, dass sie blicklos aus dem Fenster in Richtung Westen starrte. Er hatte sie tatsächlich aus dem Tritt gebracht. Und was hätte er nicht gegeben, um dabei sein zu dürfen, wenn ihr einmal ein Missgeschick passierte. Erlebte man sie hier in der Amtsstube, so machte es den Eindruck sie sei völlig ohne Fehl. Das war auf Dauer kaum zu ertragen. Einmal in Bredouille geraten würde sie möglicherweise fast wie ein normaler Mensch wirken. Wer wusste das schon?

“Na, wenigstens werdet Ihr Euch dort voraussichtlich nicht mit einem Pardel herumschlagen müssen, Hohe Dame. Oder hat der Herr Baronet die etwa auch schon für sich entdeckt?”

“Nicht dass ich wüsste”, ruckartig wandte sie sich ihm wieder zu. “Auf solche Ideen kann wohl nur ein liederlicher Pfeffersack kommen, der Geld hat wie Heu und ohnedies die Frechheit besitzt, sich selbst als ‘Baron’ zu bezeichnen”, ihre Miene hätte geringschätziger kaum wirken können, “Wo waren wir doch gleich?”

“Letzteres zumindest ...”

“Letzteres zumindest steht außer Frage, denn wie Seine Hochgeboren von Birselburg auf Fuchsstein in dem von Euch gerügten Richtspruch feststellte und in dieser Feststellung nicht widerlegt wurde, standet Ihr unter dem Einfluss von Alkohol, als der Vorfall sich zutrug. Alldieweil hat der Jagdtrieb Sybias – den Namen bitte in Anführungszeichen – zum Tod dreier Rahjatänzer – in Klammern: rosafarben – Ihrer Wohlgeboren von Streitzig j.H. sowie zur irreparablen Beschädigung zweier in die Form springender Stuten gestutzter Buchsbäume erheblichen Alters geführt.”

Wahlafried mühte sich redlich, seine Contenance zu wahren, während er dem Diktat der Mersingerin folgte. Ein leises Glucksen aber, das nur allzu deutlich als unterdrücktes Lachen erkennbar war, konnte er sich nicht verkneifen. Der leicht pikierte Blick, den sie ihm daraufhin zuwarf, machte die Sache nicht unbedingt besser.

Obwohl er kurz davor stand in schallendes Gelächter auszubrechen, schrieb Wahlafried tapfer weiter. Im Moment fühlte er sich von der Frage, was seine Heiterkeit mehr befeuerte, deutlich überfordert: War es nun der irrwitzige Sachverhalt an sich, der im Grunde einer jeden Beschreibung spottete? Oder war es die Tatsache, dass die Wehrheimerin es dennoch schaffte, das Geschehen in nüchterne Worte zu kleiden? Ohne eine Miene zu verziehen, wohlgemerkt. Ihre Selbstbeherrschung war entweder so unglaublich groß, wie die Geschichte aus der Baronie Teichenberg unfassbar war, oder sie verfügte nicht über das geringste Fitzelchen Humor. Beides kam ihm äußerst bedenklich vor.

“Im Übrigen wurde der Ersatzanspruch der edlen Dame von Seiner Hochgeboren nicht nur dem Grunde nach korrekt benannt, sondern auch in seiner Höhe zutreffend berechnet. Er ist daher nicht zu beanstanden. Eure Behauptung, der Baron sei voreingenommen und habe den Wert der Hunde sowie der Pflanzen zu hoch angesetzt, entbehrt nicht bloß einer nachvollziehbaren argumentativen Grundlage, sondern aufgrund ihrer Unhaltbarkeit auch jeder rechtlichen Relevanz. Wegen der Infamie Eurer weiteren Anschuldigungen scheint es fürder angezeigt, Euch nachdrücklich zur unverzüglichen Unterlassung vergleichbarer Äußerungen aufzufordern. Es bleibt festzustellen, dass von Eurem Pardel eine nicht unerhebliche Gefahr für Leib und Leben Ihrer Wohlgeboren ausgeging, weshalb Ihr von Frau von Streizig j. H. keinesfalls Ersatz für dessen Verlust verlangen könnt. Dies ergibt sich aus ...”