„Beonslob“ - Klosterneugründung in Urkentrutz
Urkenfurt, Mitte Phex 1044,

Der Himmel über Urkentrutz zeigte sich an diesem Tag in wenig einladendem Grau. Sprühregen begleitete den eigentümlichen Wagenzug der Therbûniten, der rumpelnd in den Burghof einbog. Ihnen voran ritt Mirya von Brachfelde, an ihrer Seite ihre Knappin Ilmina. Die junge Ritterin begleitete den Wagentross der Perainediener und sollte auch in Zukunft das neu gegründete Kloster schützen.

Die Baronin von Urkentrutz ließ es sich nicht nehmen, die Diener des Therbûnitenordens selbst zu begrüßen. Nachdem man ihr vom Nahen des Wagenzuges berichtet hatte, begab sich Lyssandra von Finsterborn in den Burghof. Beim Anblick, der sich ihr bot, musste sie lächeln. Der große Innenhof von Burg Urkenfurt wirkte eher wie ein Lagerplatz, denn die Beoniter führten neben drei Ochsengespannen auch einige andere Tiere mit sich: eine kleine Herde mit 5 Schafen und 3 Ziegen folgte den einfachen Wagen, auf denen sich so einiges an Ausrüstung und Mobiliar stapelte. Die Neusiedler im Namen der Gebenden begleiteten ihre Karren zu Fuß. Nur im letzten Fuhrwerk saß ein kleiner Junge, der offenbar des Laufens müde geworden war.  

Mit einem eleganten Schwung sprang Ritterin Mirya aus dem Sattel, wies ihre Knappin zu Gleichem an, schlug die Kapuze zurück und neigte ehrehrbietend das Haupt vor der Baronin von Urkentrutz. Mit geöffneten Armen begrüßte Lyssandra die Tochter Yolandas von Brachfelde.
„Die Zwölfe zum Gruße, Mirya, und Peraine voran!“

„Auch Euch die Zwölfe zum Gruße, Euer Hochgeboren. Was für ein Wetterchen! Die Gütige meint es heute besonders gut mit den Äckern“, überspielte die sonst eher zurückhaltende Ritterin ihre Aufregung. Ihr Bauschmantel hatte ihr leidlich Schutz geboten, so dass sie im Gegensatz zu ihrer Knappin nicht völlig durchnässt war. Mirya lächelte die Baronin freundlich an und orientierte sich kurz aus alter Gewohnheit und mit fachmännischem Blick, wer sich wo im Burghof befand und wie gut die Mauern bewehrt waren. Lyssandra bemerkte, dass die recht schlanke und nicht allzu große junge Frau weniger Ähnlichkeit mit ihrer Mutter Yolanda von Brachfelde hatte, sondern, wie sie von ihrem Schwertvater Accolon wusste, mehr nach der Großmutter kam: Ihr hübsches Gesicht hatte einen hellen Teint mit etlichen Feenküsschen, die feinen Züge mit den großen, strahlend blauen Augen und den markanten Augenbrauen wurden von schulterlangen, dunkelbraunen Haaren umrahmt. Sie trug eine lederne Rüstung, die sie beim Reiten weniger behinderte als das klassische Weidener Kettenhemd. Neben ihrem meisterlich geschmiedeten Schwert – ein Geschenk ihres Onkels Gamhain – führte sie, gut gegen den Regen geschützt, einen der Bögen aus der Werkstatt der Chirciner Meisterin Olorande Folmin, mit sich. Lyssandra meinte sich zu erinnern, dass Mirya bereits als Pagin im Bogenschießen unterwiesen wurde, als sie der Baronsgemahlin zu Dergelquell, Rovena von Rothwilden, zur Hand ging.

„Ich hoffe ihr hattet eine gute und vor allem sichere Reise? Gab es irgendwelche Zwischenfälle? Ich nehme an Ihr habt noch den Weg über Mittenberge gemacht, nicht wahr?“

Mirya schien kurz zu überlegen, bevor sie berichtete: „Nein, keine besonderen Zwischenfälle.“ Sie wollte die Baronin nicht mit der unerfreulichen Begegnung mit einigen Wölfen im Finsterloh bei Ognin beunruhigen. „Meine gute Knappin Ilmi und ich sind zum Kloster Beonsquell nach Mittenberge geritten, um Schwester Gwiniwen Hirschauer und Wibert Ribbening abzuholen. Bei Mallaith haben wir uns mit den Beonitern aus Beonfirn getroffen und sind dann gemeinsam auf der Alten Straße bis in die Hollerheide und dann weiter nach Süden bis hierher gezogen.“ Die junge Frau zögerte kurz und fügte noch hinzu: „Die Stimmung war gut und wir sind alle dankbar, der Gütigen zu Ehren dieses besondere Vorhaben in die Tat umsetzen zu dürfen.“ 

„Wollt Ihr mir die mutigen Klostergründer vorstellen?“
Die Baronin von Urkentrutz blickte den Perainedienern mit Neugier entgegen. Vom ersten Wagen löste sich ein mittelgroßer, untersetzter Mann, der einen reich mit Ornamenten der Gütigen Göttin geschnitzten Wanderstecken trug. Das braune Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die einfache, grüne Robe und die gleichfarbige Kapuzenhaube wies ihn als Ordensmitglied der Therbûniten aus. Quer über die breite Brust und den deutlich sichtbaren Bauch hing der Ledergurt einer großen Kräutertasche, die ebenso wie der Wanderstecken so typisch für die Beoniter war. Der Geweihte mochte etwas mehr als 30 Winter gesehen haben. Seinen Mund umspielte ein Lächeln, als er auf die Burgherrin und Mirya zuging. Die Ritterin erhob die Stimme.
„Darf ich vorstellen? Das ist Erlmund Rossegger, er ist der Geweihte, den das Kloster Beonfirn entsandt hat, um der neuen Klosterzelle als Abt vorzustehen. Erlmund ist ein erfahrener Heiler und gehört dem Therbûnitenorden an.“

Der Geweihte verneigte sich respektbezeugend vor Lyssandra. „Den Gruß der Göttin Peraine, Hochgeboren!“ Mit der Rechten führte er zudem die segnende Geste der Ähre aus. „Den Segen der Hüterin des Lebens für Euch und die Euren!“

Die Finsterbornerin schenkte dem Beoniter ein herzliches Lächeln. „Habt Dank und Willkommen in Urkentrutz, Hochwürden! Ihr glaubt gar nicht, wie sehr ich mich freue, dass die Ehrwürdige Mutter Waidgunde Euch geschickt hat, um hier in der Nähe von Urkenfurt eine Klosterzelle zu Ehren des Heiligen Beon zu errichten! Ich hoffe Ihr und Eure Begleiter werden sich hier wohl und bald heimisch fühlen.“

Erlmunds grün-braune Augen leuchteten auf und seine Mundwinkel zogen sich zu einem breiten Grinsen auseinander, dabei bildeten sich auf seinen runden Wangen kleine Grübchen.
„Davon bin ich überzeugt. Dieses Land ist von Peraine gesegnet, das haben wir gleich erkannt. Ihr herrscht über ein fruchtbares Stückchen Weiden, Hochgeboren!“

Lyssandra nickte lächelnd. „Und unter Euren kundigen Händen soll in Zukunft nicht nur das Land, sondern auch die Gesundheit meiner Untergebenen prosperieren. Sagt mir, geht es der Hochwürdigen Mutter gut?“

Der Geweihte bejahte. „Ja, sie erfreut sich weiterhin Peraines Segen. Vermutlich hat Euch Ritterin Mirya bereits die Grüße der Ehrwürdigen Mutter ausgerichtet, nicht wahr?“ Er blickte kurz zur Brachfelderin, die bestätigend nickte.

Der künftige Tempelvorsteher drehte sich ein wenig und gab den Blick auf die beiden anderen Wagen frei. Mirya winkte vom zweiten Ochsengespann eine große, hagere, dunkelblonde Frau und einen noch größeren und kräftig gebauten jungen Mann zu sich. Die Frau mochte mehr als 40 Götterläufe erlebt haben, der junge Mann war wohl etwa Anfang 20. Er hatte eine wilde rote Mähne und einen ebensolchen Kinn- und Backenbart.
„Seht dort, Hochgeboren! Das ist Schwester Gwiniwen Hirschauer aus dem Therbûnitenkloster Beonsquell in Mittenberge und der Diener der Ähre, Wibert Ribbening.“

Die Baronin begrüßte die Geweihte und ihren Begleiter. Schwester Gwiniwen, die ebenso wie der zukünftige Abt neben der grünen Robe und der Kapuzenhaube den ornamentierten Wanderstecken und die Kräutertasche trug, überbrachte die herzlichsten Grüße von Lyssandras Verwandten, Oleana von Finsterborn, und berichtete freudestrahlend, dass die Äbtissin des Mittenberger Klosters dem neuen Ordenshaus einen Grundstock für die Bibliothek und die Apotheke mitgegeben hatte.
Das freute Lyssandra ungemein und sie bat darum, dass Gwiniwen ihr später zeigen sollte, was Mutter Oleana ihr mitgegeben hatte.
Der junge Wibert hielt sich respektvoll im Hintergrund, wurde von der Baronin aber ebenso freundlich begrüßt, wie die Heilerin. Mit einem anerkennenden Blick auf seine muskelbepackten Arme äußerte sie ihre Freude darüber, dass auch ein paar zupackende Hände den Weg nach Urkentrutz gefunden hätten. Wibert grinste unter seinem wilden roten Bart heraus und fühlte sich offenbar geschmeichelt.

Dann war es an der Zeit auch die Familie vorzustellen, die den letzten Wagen mit sich geführt hatte. Dies übernahm erneut Erlmund Rossegger.
„In meinem Gefolge ist die Familie Leisenthiel. Weilinde und Raitho sind Diener der Ähre. Sie waren bereit mich zu begleiten, um mit ihren Kindern in Urkentrutz eine neue Heimat zu finden. Die kleine Hayassa hat bereits elf Winter erlebt, ihr Bruder Rudbart acht. Weilinde und Raitho sind erfahren in der Tierhaltung und werden sich um die Schafe und Ziegen kümmern, die uns aus Beonfirn und Beonsquell mitgegeben wurden.“

Nachdem auch diese Neusiedler begrüßt worden waren und Lyssandra Hayassa und Rudbart erzählt hatte, dass sie eine Tochter in ihrem Alter und einen Pagen in Rudbarts Alter hatte, wurden auch die etwas schüchternen Kinder der Akoluthen entspannter. Die Baronin bat die Beoniter für eine Nacht in der Burg zu bleiben, mit ihr zu speisen und den Tieren Erholung zu gönnen, bevor sie sie am kommenden Tag persönlich zu ihrer neuen Wirkungsstätte begleiten wollte.

Während des Abendmahls an der langen Tafel im Thronsaal hörte Lyssandra aufmerksam zu, mit welchen Wünschen und Vorstellungen die Therbûniten nach Urkentrutz gekommen waren und welche Hilfen sie sich noch von der Baronin erhofften. Sie erklärte ihnen, was sie an Gebäuden vorfinden würden und was noch geleistet werden musste bis zum Klostergründungsfest am 1. Peraine. Ihr gefiel es, dass die Beoniter sich nicht vor Arbeit und dem Leben in einem Provisorium scheuten und versprach das ihr Mögliche zu tun, damit sich die Perainediener wohl fühlen konnten.
Bis zum Umzug auf das ehemalige Gehöft blieben die Therbûniten ihre Gäste.